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19.02.2014

Landesarbeitsgericht: Urteil vom 23.05.2007 – 5 Sa 2044/06


Tenor:

Die Berufung des beklagten Landes vom 29.12.2006 gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Minden vom 07.11.2006 - 1 (3) Ca 650/06 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die am 27.06.1959 geborene, seit Sommer 2005 von ihrem Mann getrennt lebende Klägerin ist seit dem 01.04.1995 als Regierungsangestellte in der Kreispolizeibehörde M1-L1 beschäftigt. Zuletzt war sie als Mitarbeiterin des KK 21 mit der sogenannten Kriminalaktenhaltung betraut. Ihr monatlicher Verdienst betrug ca. 2.400,-- Euro brutto. Dem Arbeitsverhältnis lag der schriftliche Arbeitsvertrag vom 15.03.1995 zu Grunde.

Seit Ende 2003 gab es auf Grund des Verhaltens der Klägerin Probleme am Arbeitsplatz, Beschwerden und Personalgespräche, auch unter Einschaltung des Personalrats und der Gleichstellungsbeauftragten. Ausweislich der von dem beklagten Land vorgelegten Aktenvermerke und Schreiben aus der Zeit vom 15.12.2003 bis zum 02.12.2005 wies die Personalführung der Kreispolizeibehörde die Klägerin immer wieder auch auf ihre gesundheitlichen bzw. alkoholbedingten Probleme hin und forderte sie auf, sich in entsprechende medizinisch/therapeutische Behandlung zu begeben. Die Klägerin erklärte die Vorkommnisse seit dem Jahre 2004 mit der in dieser Zeit entstandenen Ehekrise, die im Sommer 2005 darin gipfelte, dass sich ihr Ehemann nach 22-jähriger Ehe von ihr trennte und das gemeinsam bewohnte Einfamilienhaus aufgegeben werden musste.

Mit Schreiben vom 14.11.2005 mahnte das beklagte Land die Klägerin wegen wahrheitswidriger Angaben gegenüber ihrem Vorgesetzten in Verbindung mit einer verspäteten Krankmeldung sowie insbesondere wegen Schlechtleistung in Folge nicht zeitgerechter Bearbeitung von Aussonderungslisten für Kriminalakten des Monats Oktober ab. Die von der Klägerin hiergegen angestrengte Klage ist durch das Arbeitsgericht Minden am 07.11.2006 - 1 Ca 283/06 - abgewiesen worden.

Auf Veranlassung des beklagten Landes fand am 09.01.2006 eine amtsärztliche fachpsychiatrische Untersuchung der Klägerin durch den sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes des Kreises M1-L1 statt. Der untersuchende Facharzt kam in seinem Schreiben vom 16.01.2006 zu dem Ergebnis, mit Sicherheit feststellbar sei ein deutlicher Alkoholmissbrauch, darüber hinaus bestehe der Verdacht auf ein manifestes Alkoholabhängigkeitssyndrom, das jedoch an Hand der Untersuchungsergebnisse nicht mit ausreichender Sicherheit nachgewiesen werden könne. Zum Untersuchungszeitpunkt habe jedenfalls uneingeschränkte Dienstfähigkeit bestanden. Die Aufrechterhaltung der erkennbaren Veränderungsmotivation sowie weitere konkrete Schritte in Richtung deutlicher Reduktion des Alkoholkonsums bzw. Abstinenz vorausgesetzt könne hinsichtlich der Erhaltung der Dienstfähigkeit von einer günstigen Prognose ausgegangen werden.

Eine weitere Abmahnung erteilte das beklagte Land mit Schreiben vom 01.02.2006, weil die Klägerin am 15.12.2005 alkoholisiert zur Arbeit erschienen sei. Zugleich kündigte das beklagte Land unter Hinweis auf das amtsärztliche Gutachten vom 16.01.2006 eine außerordentliche Kündigung für den Fall an, dass die Klägerin nochmals alkoholisiert an ihrem Arbeitsplatz erscheinen und/oder während ihrer Arbeitszeit oder in den Arbeitspausen Alkohol zu sich nehmen sollte.

Vom 10. bis 14.03.2006 unterzog sich die Klägerin freiwillig einer Entgiftungskur in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Krankenhauses L1.

Am 05.04.2006 hatte die Klägerin eine heftige Auseinandersetzung mit ihrem neuen Lebensgefährten, auf Grund dessen sie versuchte, sich mit übermäßigem Alkoholgenuss zu betäuben. Am Morgen des 06.04.2006 erschien sie nicht zur Arbeit. Versuche der Mitarbeiter ihrer Dienststelle, sie telefonisch zu erreichen, schlugen fehl. Die von dem stellvertretenden Kommissariatsleiter H1 zur Wohnung der Klägerin geschickten Mitarbeiter K1 und L2 konnten dort gegen 9.00 Uhr zunächst keinen Kontakt zur Klägerin aufnehmen, bis es ihrem zufällig ebenfalls erscheinenden Lebensgefährten gelang, sie per Handy zu wecken. In einem anschließenden Telefonat mit ihrem Dienstvorgesetzten H1 gab die Klägerin zu, verschlafen zu haben und wegen Restalkohols nicht in der Lage zu sein, mit dem Auto zum Dienst zu fahren. Das Angebot, sich von ihrem Lebensgefährten zur Arbeit bringen zu lassen, lehnte Herr H1 ab. Statt dessen vereinbarte er mit ihr, dass die Klägerin am nächsten Tag pünktlich, spätestens bis 7.30 Uhr, ihren Dienst antreten sollte.

Nachdem die Klägerin versucht hatte, am 07.04.2006 erneut dienstfrei zu bekommen, erschien sie absprachewidrig erst kurz vor 8.30 Uhr, damit allerdings noch innerhalb der Gleitzeitregelung, zum Dienstantritt.

Am Morgen des 10.04.2006 versuchte die Klägerin gegen 7.00 Uhr erneut, telefonisch dienstfrei zu nehmen, um Überstunden abzubauen. Dies lehnte der Kriminalhauptkommissar R1 gegen 7.35 Uhr ab und stellte die Klägerin vor die Alternative, entweder zum Dienst zu erscheinen oder bis 10.00 Uhr eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Etwa gegen 7.55 Uhr informierte die Klägerin ihn, dass sie zum Arzt gehe, gegen 9.30 Uhr ging ihre Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den 10. und 11.04.2006 per fax bei der Dienststelle ein. Auch für den 12. und 13.04.2006 wurde die Klägerin anschließend arbeitsunfähig krankgeschrieben.

Mit Schreiben vom 18.04.2006 hörte der Landrat als Kreispolizeibehörde den Personalrat zur beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin an. Dieser stimmte mit Schreiben vom 19.04.2006 zu.

Mit Schreiben vom 25.04.2006, der Klägerin zugegangen am 27.04.2006, kündigte das beklagte Land der Klägerin wegen der Vorkommnisse vom 07.04.2006 und vom 10.04.2006 ordentlich zum 30.09.2006 aus verhaltensbedingten, hilfsweise auch aus personenbedingten Gründen.

Gegen diese Kündigung hat sich die Klägerin mit ihrer am 04.05.2006 bei dem Arbeitsgericht eingegangenen Klage gewandt.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Ihre Fehlleistungen in der Vergangenheit sowie ihr schlechter Gesundheitszustand und gelegentlich massiver Zuspruch zum Alkohol im Freizeitbereich hingen mit nachteiligen und nachhaltigen Veränderungen ihrer Lebensumstände zusammen, die sie jedoch nunmehr in den Griff bekommen habe. Die Klägerin hat darüber hinaus die Anhörung des Personalrats als unvollständig gerügt.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des beklagten Landes vom 25.04.2006 nicht aufgelöst worden ist und

im Fall des Obsiegens das beklagte Land zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu arbeitsvertragsgemäßen Bedingungen als Regierungsangestellte tatsächlich weiter zu beschäftigen.

Das beklagte Land hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei zunächst aus verhaltensbedingten Gründen heraus sozial gerechtfertigt. Die vielfachen, gravierenden Pflichtverletzungen und dauernden Unzuverlässigkeiten der Klägerin, die zu erheblichen betrieblichen Störungen und Beschwerden anderer Mitarbeiter geführt hätten, hätten nicht länger hingenommen werden können, zumal bei der Klägerin keine alkoholbedingte Abhängigkeit, sondern volle Steuerungs- und Dienstfähigkeit vorgelegen habe. Hilfsweise sei die Kündigung aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt, sofern die Klägerin tatsächlich alkoholabhängig und damit krank gewesen sein sollte. Eine Entziehungskur habe die Klägerin abgebrochen, deshalb könne dem Arbeitgeber nicht abverlangt werden, ihr eine weitere derartige therapeutische Maßnahme zuzugestehen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Urteil vom 07.11.2006 stattgegeben und zur Begründung u. a. ausgeführt, die Kündigung sei weder als verhaltensbedingte noch als personenbedingte sozial gerechtfertigt.

Das Verhalten der Klägerin am 10.04.2006 stelle keine gravierende Pflichtverletzung dar. Die Klägerin sei an diesem Tag arbeitsunfähig erkrankt gewesen und habe dies durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung um 9.30 Uhr ordnungsgemäß nachgewiesen.

Ein kündigungsrelevantes Fehlverhalten könne auch in dem Verhalten der Klägerin vom 07.04.2006 nicht gesehen werden. Sie habe ihren Dienst entgegen Absprache vom Vortrag eine Stunde verspätet, nämlich erst kurz vor 8.30 Uhr angetreten, sich damit jedoch letztlich noch im Rahmen der Gleitzeitregelung gehalten.

Am 06.04.2006 habe die Klägerin unentschuldigt gefehlt. Unentschuldigtes Fernbleiben eines Arbeitnehmers für die Dauer eines Arbeitstages ohne ausreichende Information des Arbeitgebers könne je nach den Umständen durchaus geeignet sein, eine ordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Es liege jedoch kein Wiederholungsfall vor. Zudem fehle es an einer einschlägigen Abmahnung. Die Abmahnung vom 14.11.2005 betreffe in erster Linie Schlechtleistungen und nur daneben auch Fehlverhalten der Klägerin im Zusammenhang mit der nicht ordnungsgemäßen Meldung bzw. des Nachweises ihrer Erkrankung. Die Abmahnung vom 01.02.2006 rüge das Erscheinen am Arbeitsplatz unter Alkoholeinfluss, und untersage, Alkohol am Arbeitsplatz zu sich zu nehmen. Darüber hinaus sei die Klägerin am 06.04.2006 möglicherweise zwar nicht fahrtüchtig gewesen, dies lasse jedoch keinen Rückschluss darauf zu, dass sie tatsächlich nicht in der Lage gewesen sei, ihre Arbeit in der Kriminalaktenhaltung im Verlaufe des Vormittags des 06.04.2006 aufzunehmen. Ihr Angebot, sich von ihrem Lebensgefährten zur Dienststelle bringen zu lassen, um ihrer Arbeit nachzugehen, habe die Kreispolizeibehörde jedoch ausdrücklich mit dem Hinweis abgelehnt, die Klägerin solle lieber zu Hause bleiben bzw. sich krank melden.

Letztlich übersehe das beklagte Land, dass eine verhaltensbedingte Kündigung ein steuer- und zurechenbares Verhalten des Arbeitnehmers verlange. Der Klägerin sei das ihr zur Last gelegte Verhalten jedoch nicht vorwerfbar, da im Zeitpunkt der Kündigung eine krankhafte Alkoholabhängigkeit bestanden habe. Hiervon sei auch der Personalrat in seiner Stellungnahme zu der beabsichtigten Abmahnung vom 01.02.2006 im Schreiben vom 20.01.2006 ausgegangen. Auch im amtsärztlichen Untersuchungsbericht werde der Verdacht eines manifesten Alkoholabhängigkeitssyndroms ausgesprochen, lediglich der Nachweis dieser Abhängigkeit sei noch nicht möglich gewesen.

Auf personenbedingte Gründe könne das beklagte Land die Kündigung nicht stützen. Zwar liege eine Alkoholerkrankung bei der Klägerin vor, der Arbeitgeber sei in solchen Fällen jedoch nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet, dem alkoholkranken Arbeitnehmer zunächst die Durchführung einer Entziehungskur zu ermöglichen. Der Klägerin sei nicht vorzuwerfen, dass sie eine Entziehungskur abgebrochen habe. Die Klägerin habe sich nämlich im März 2006 keiner Entziehungskur, sondern lediglich in der Zeit vom 10. bis 14.03.2006 freiwillig einer stationären Entgiftung unterzogen. Ausweislich des zur Gerichtsakte gereichten Arztberichts vom 17.05.2006 habe sie das Krankenhaus jedenfalls nicht gegen ärztlichen Rat verlassen. Weil die Klägerin bereits seit Ende 2005 zu Gesprächen bei der Suchtberatung gewesen sei und auch seit dem 24.04.2006 Einzelgespräche zur Suchtbekämpfung und -beratung geführt habe, sei davon auszugehen, dass sie therapiebereit gewesen sei, so dass eine negative Gesundheitsprognose nicht habe gestellt werden können. So sei der untersuchende Arzt am 09.01.2006 auch zu dem Ergebnis gekommen, dass in Würdigung der Gesamtsituation die vorhandene Anbindung an eine Beratungsstelle als Therapie ausreiche. Wenn weder der untersuchende Amtsarzt im Januar 2006 noch die die Klägerin behandelnde Ärztin Ende 2005 die Durchführung einer (stationären) Entziehungskur für notwendig gehalten hätten, so könne der Klägerin nicht in kündigungsrechtlich relevanter Weise vorgeworfen werden, eine (aus ärztlicher Sicht seinerzeit noch nicht angezeigte) stationäre Entziehungskur unterlassen oder gar abgelehnt zu haben.

Wegen der Unwirksamkeit der Kündigung sei das beklagte Land verpflichtet, die Klägerin zu den bisherigen Arbeitsbedingungen weiter zu beschäftigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe und des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf das Urteil des Arbeitsgerichts, das dem beklagten Land am 01.12.2006 zugestellt worden ist, ergänzend Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die am 29.12.2006 eingelegte und am 01.02.2007 begründete Berufung.

Das beklagte Land hält an seiner Auffassung fest, die streitgegenständliche Kündigung sei sozial gerechtfertigt. Sie sei durch Gründe im Verhalten der Klägerin bzw. (zumindest) durch Gründe in der Person der Klägerin bedingt. Das Arbeitsgericht habe den weitgehend unstreitigen Sachverhalt unzutreffend gewürdigt. Eine verhaltensbedingte Kündigung komme in Betracht, soweit der von Alkoholproblemen betroffene Arbeitnehmer noch nicht alkoholkrank im medizinischen Sinne sei. So liege der Fall hier. Lediglich eine verhaltensbedingte Kündigung wegen Pflichtverletzungen, die auf Alkoholabhängigkeit beruhten, sei mangels Verschulden in der Regel sozialwidrig. Die Klägerin habe es aber versäumt, darzulegen und zu beweisen, dass sie im Zeitpunkt der Kündigung alkoholkrank gewesen sei. Dies habe das Arbeitsgericht verkannt. Statt dessen habe es den (zusammenhängenden) Lebenssachverhalt nach einer Art "Rosinentheorie" für bzw. zu Gunsten der Klägerin "zerschnitten", indem es eine verhaltensbedingte Kündigung der Klägerin abgelehnt habe mit der unzutreffenden Erwägung, die Klägerin sei alkoholkrank, und sodann eine personenbedingte Kündigung der Klägerin mit einer angeblich fehlenden negativen Gesundheitsprognose nicht für berechtigt gehalten habe. Die Klägerin sei jedoch entweder "ganz oder gar nicht" alkoholkrank. Sie könne aber nicht für eine verhaltensbedingte Kündigung alkoholkrank sein und für eine personenbedingte dann letztlich doch nicht. Die Frage der Feststellung einer "Alkoholerkrankung" sei dem Gericht verwehrt. Hierbei handele es sich um eine Fragestellung, die von einem medizinischen Sachverständigen beantwortet werden müsse. Unterstellt, die Klägerin sei wirklich alkoholkrank, so hätte das Arbeitsgericht berücksichtigen müssen, dass sich im Rahmen der Frage der sozialen Rechtfertigung einer personenbedingten Kündigung zwingend die Notwendigkeit ergebe, an die insoweit erforderliche "negative Prognose" (im Hinblick auf die weitere Entwicklung der Alkoholabhängigkeit) geringere Anforderungen zu stellen. Dieses Erfordernis einer geringeren Anforderung an die Negativprognose folge aus der empirisch gesicherten besonders hohen Rückfallgefahr bei einer Alkoholerkrankung. Ausweislich einer Auskunft der Krankenkasse der Klägerin (AOK W1-L3) mit Datum vom 15.12.2006 sei die Klägerin in der Zeit vom 05.12.2006 bis zum 15.12.2006 auf Grund "derselben Krankheit" arbeitsunfähig gewesen. Damit stehe fest, dass bei der Klägerin jederzeit mit einem weiteren Rückfall zu rechnen sei. Die von der Klägerin angegriffene Kündigung sei vorrangig aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Das unstreitige Fehlverhalten der Klägerin stelle einen geeigneten, verhaltensbedingten Kündigungsgrund dar, da es nicht nur ein erhebliches Gewicht habe, sondern die Leistungsstörung der Klägerin insbesondere auch vorwerfbar sei. Es sei ihm - dem beklagten Land - auf Grund der gebotenen Interessenabwägung nicht zuzumuten, die Klägerin weiterhin zu beschäftigen. Unterstellt, die Klägerin wäre tatsächlich alkoholkrank, wäre auch (bzw. genauer gesagt statt dessen) eine personenbedingte Kündigung der Klägerin sozial gerechtfertigt.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Minden vom 07.11.2006 - 1 (3) Ca 650/06 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil als zutreffend und trägt ergänzend vor, das Arbeitsgericht sei bei der Beurteilung der Kündigung zutreffend vom Vorliegen einer Alkoholerkrankung ausgegangen. Hierzu hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.05.2007 eine ergänzende Stellungnahme des sozialpsychiatrischen Dienstes des Gesundheitsamtes, unterzeichnet von dem untersuchenden Arzt G1, vom 27.02.2007 zur Akte gereicht. Hierin kommt der behandelnde Arzt auf Grund einer erneuten Untersuchung vom 26.01.2007 zu dem Ergebnis, es stehe inzwischen fest, dass die Klägerin an einer Alkoholsucht erkrankt sei. Soweit das beklagte Land meine, die Frage der Feststellung einer Alkoholerkrankung sei dem Gericht verwehrt, verkenne es, dass das beklagte Land für die Entkräftung eines Rechtfertigungsgrundes im Rahmen einer verhaltensbedingten Kündigung darlegungs- und beweispflichtig sei.

Für die Gesundheitsprognose komme es auf den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung an. Tatsächlich habe sie in der Folge große Fortschritte in der Therapie gemacht, auf Grund der Umstände im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung sei jedenfalls eine negative Zukunftsprognose nicht begründet gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die zweitinstanzlich zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die Klage ist begründet.

Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ist durch die ordentliche Kündigung des beklagten Landes vom 25.04.2006 nicht mit Ablauf des 30.09.2006 aufgelöst worden. Diese Kündigung ist rechtsunwirksam, weil sie sozial ungerechtfertigt ist (§ 1 Abs. 1 KSchG). Es liegen weder personenbedingte noch verhaltensbedingte Kündigungsgründe im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG vor. Das beklagte Land hat solche Gründe entgegen der ihm obliegenden Darlegungslast (vgl. § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG) nicht vorzutragen vermocht.

Die Berufungskammer folgt den Gründen des angefochtenen Urteils des Arbeitsgerichts vom 07.11.2006 und nimmt hierauf ausdrücklich Bezug (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

Soweit das beklagte Land zweitinstanzlich ergänzend und vertiefend vorgetragen hat, rechtfertigt dies keine andere Beurteilung.

I.

Auf verhaltensbedingte Gründe im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG kann das beklagte Land die Kündigung vom 25.04.2006 nicht stützen. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob bezogen auf den Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung am 25.04.2006 ein Fall schuldausschließender Alkoholsucht, wovon das Arbeitsgericht ausgeht, vorgelegen hat. Denn selbst bei schuldhaft pflichtwidrigem Verhalten der Klägerin wäre es dem beklagten Land unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen. Dies ergibt sich aus dem das gesamte Kündigungsschutzrecht beherrschenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Interessen der Klägerin an der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses überwiegen nämlich die Interessen des beklagten Landes an dessen Beendigung, da die Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht das letztmögliche Mittel (ultima ratio) gewesen ist, um auf das Fehlverhalten der Klägerin arbeitgeberseitig angemessen zu reagieren.

a) Unentschuldigtes Fehlen eines Arbeitnehmers kann je nach den Umständen des Einzelfalles an sich geeignet sein, eine außerordentliche Kündigung (BAG, Urteil vom 22.01.1998 - 2 ABR 19/97 -, AP Nr. 38 zu § 626 BGB Ausschlussfrist) oder eine ordentliche Kündigung (BAG, Urteil vom 26.08.1993 - 2 AZR 154/93 -, NZA 1994, Seite 63 ff). zu rechtfertigen. Grundsätzlich ist allerdings ein Arbeitnehmer, dem wegen eines nicht vertragsgerechten Verhaltens gekündigt werden soll, zunächst abzumahnen; dies gilt insbesondere bei Störungen im Verhaltens- und Leistungsbereich (BAG, Urteil vom 07.10.1993 - 2 AZR 226/93 -, NZA 1994, Seite 433 ff. m.w.N.). Entbehrlich ist eine Abmahnung allerdings dann, wenn im Einzelfall besondere Umstände vorgelegen haben, auf Grund derer eine Abmahnung nicht als erfolgversprechend angesehen werden durfte (BAG, Urteil vom 18.05.1994 - 2 AZR 626/93 -, NZA 1995, Seite 65). Dies ist besonders dann anzunehmen, wenn erkennbar ist, dass der Arbeitnehmer gar nicht gewillt ist, sich vertragsgerecht zu verhalten (BAG, Urteil vom 04.06.1997 -, 2 AZR 526/96 -, DB 1997, Seite 2386). Bei besonders groben Pflichtverletzungen ist bei steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers eine vorangehende vergebliche Abmahnung allerdings nur dann geboten, wenn der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen davon ausgehen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Arbeitgeber zumindest nicht als erhebliches, den Bestand des Arbeitsverhältnisses gefährdendes Verhalten angesehen (BAG, Urteil vom 08.06.2000 - 2 AZR 638/99 -, NZA 2000, Seite 1282, 1285 m.w.N.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der objektiv berechtigte Vorwurf des beklagten Landes, die Klägerin habe am 06.04.2006 die Arbeit unentschuldigt nicht angetreten, nicht geeignet, ohne vorangegangene Abmahnung eine ordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Der Ausspruch einer Abmahnung wäre zur Wahrung der Interessen des beklagten Landes ausreichend gewesen. Nach dem Prognoseprinzip ist nicht auszuschließen gewesen, dass durch Ausspruch einer Abmahnung eine Wiederholung des Fehlverhaltens der Klägerin zu verhindern gewesen wäre. Ohne vorangegangene vergebliche Abmahnung kann der Klägerin durch ihr Fernbleiben von der Arbeit am 06.04.2006 eine grundsätzlich vertragswidrige Einstellung und eine nachhaltige Weigerung, ihren Arbeitspflichten nachzugehen, nicht unterstellt werden. Hätte das beklagte Land das unentschuldigte Fernbleiben von der Arbeit durch die Klägerin am 06.04.2006 in einer für die Klägerin hinreichend deutlich erkennbaren Art und Weise beanstandet und damit den Hinweis verbunden, im Falle des erneuten unentschuldigten Fernbleibens von der Arbeit sei der Bestand des Arbeitsverhältnisses unmittelbar gefährdet, so hätte nicht ausgeschlossen werden können, dass die Klägerin durch eine solche Abmahnung ihr Verhalten überdacht und in der Zukunft unentschuldigtes Fehlen vermieden hätte. Erst nach Ausspruch einer solchen Abmahnung hätte im Wiederholungsfall die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür bestanden, dass sich die Klägerin auch in Zukunft nicht vertragsgetreu verhalten will (BAG, Urteil vom 26.01.1995 - 2 AZR 649/94 -, AP Nr. 34 zu § 1 KSchG 1969 verhaltensbedingte Kündigung unter B. III. 4. a) der Entscheidungsgründe m.w.N.). Ein einmaliges unentschuldigtes Fehlen ist bei einem Arbeitsverhältnis, das bereits seit zehn Jahren bestanden hat, auch nicht als so schwerwiegende Pflichtverletzung anzusehen, dass der Arbeitnehmer mit vertretbaren Gründen davon ausgehen musste, sein Verhalten gefährde unmittelbar den Bestand des Arbeitsverhältnisses.

Die vorangegangenen Abmahnungen vom 01.02.2006 und vom 14.11.2005 können insoweit nicht zu Lasten der Klägerin berücksichtigt werden. Sie sind nämlich nicht einschlägig. Beide Abmahnungen sind wegen anderweitiger arbeitsvertraglicher Pflichtverletzungen ausgesprochen worden, nicht jedoch wegen unentschuldigten Fehlens.

b) Auch das Verhalten der Klägerin am 10.04.2006 stellt keine kündigungsrelevante Pflichtverletzung dar. Die Klägerin war am 10.04.2006 krankheitsbedingt arbeitsunfähig und hat dies durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen. Soweit das beklagte Land der Klägerin andeutungsweise unentschuldigtes Fehlen am 10.04.2006 trotz vorliegender Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorwirft, ist darauf hinzuweisen, dass dem Arbeitgeber im Rahmen des § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG nicht nur der Nachweis dafür obliegt, dass der Arbeitnehmer gefehlt hat, sondern dass er unentschuldigt gefehlt hat, also dass im Falle krankheitsbedingten Fehlens die behauptete Krankheit nicht vorliegt. Einen entsprechenden Beweis hat das beklagte Land jedoch nicht angetreten.

c) Für den 07.04.2006 kann der Klägerin allenfalls ein verspäteter Antritt der Arbeit vorgeworfen werden. Verspätungen rechtfertigen ohne vorherige Abmahnung eine ordentliche Kündigung in aller Regel nicht.

d) Eine Kündigung wegen einer Pflichtverletzung, die auf Alkoholabhängigkeit beruht, ist in der Regel sozialwidrig, weil dem Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Pflichtverletzung kein Schuldvorwurf zu machen ist. Beruht dagegen die Pflichtverletzung nicht auf Alkoholabhängigkeit, kommt - in der Regel nach erfolgloser Abmahnung - eine verhaltensbedingte Kündigung in Betracht (BAG, Urteil vom 26.01.1995 - 2 AZR 649/94 - AP Nr. 34 zu § 1 KSchG 1969 unter B. III. 2. a) der Entscheidungsgründe m.w.N.). Gleichwohl kann es bei der Prüfung der verhaltensbedingten Kündigungsvorwürfe dahingestellt bleiben, ob die Klägerin im Zeitpunkt der Kündigung unter krankhaftem Alkoholismus im Sinne einer Alkoholabhängigkeit gelitten hat.

Selbst wenn im Zeitpunkt der Kündigung, wie es das beklagte Land meint, keine alkoholbedingte Abhängigkeit vorgelegen hat, der Klägerin also prinzipiell ein Schuldvorwurf gemacht werden kann, bleibt dies ohne Bedeutung für die soziale Rechtfertigung der Kündigung. Die Kündigung ist als verhaltensbedingte nämlich aus anderen, bereits dargelegten Gründen sozial nicht gerechtfertigt. So hat auch das Arbeitsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils unter A. I. 2. nur ergänzend Überlegungen zur Vorwerfbarkeit des Verhaltens angestellt. Dabei hat es die Fähigkeit der Klägerin, ihr dienstliches Verhalten hinreichend zu steuern und zu kontrollieren, verneint und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass "auch deshalb" die verhaltensbedingte Kündigung unwirksam ist.

II.

Soweit das beklagte Land die Kündigung hilfsweise als personenbedingte wegen Alkoholerkrankung der Klägerin ausgesprochen hat, führt auch dies nicht zu deren sozialer Rechtfertigung.

Der Arbeitgeber, der einem alkoholkranken Arbeitnehmer aus personenbedingten Gründen kündigen will, hat dem betroffenen Arbeitnehmer in der Regel nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuvor die Chance zu einer Entziehungskur zu geben (BAG, Urteil vom 17.06.1999 - 2 AZR 639/98 -, NZA 1999 S. 1328, 1330 m.w.N.). Dem beklagten Land ist zwar zuzugestehen, dass - soweit es sich um eine Suchterkrankung handelt - geringere Anforderungen an die negative Gesundheitsprognose zu stellen sind (BAG, Urteil vom 09.04.1987 - 2 AZR 210/86 -, AP Nr. 18 zu § 1 KSchG 1969 Krankheit, Leitsatz 1). Dies entbindet jedoch nicht von der Verpflichtung, dem Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung die Gelegenheit zu einer Entziehungskur zu gewähren. Eine solche Entziehungskur hatte die Klägerin auch nicht vor Ausspruch der Kündigung eigenmächtig abgebrochen. Sie hat lediglich in der Zeit vom 10. bis 14.03.2006 an einer freiwilligen stationären Entgiftung teilgenommen.

Der von dem beklagten Land in seiner Berufungsbegründung gegenüber dem Arbeitsgericht erhobene Vorwurf, dieses habe in einer Art "Rosinentheorie" zugunsten der Klägerin den Lebenssachverhalt "zerschnitten", ist insoweit nicht berechtigt. Das Arbeitsgericht hat die soziale Rechtfertigung der verhaltensbedingten Kündigung verneint, weil die von dem beklagten Land herangezogenen Gründe bereits objektiv als Kündigungsgründe nicht ausreichen, darüber hinaus Erwägungen zum Verschulden der Klägerin angestellt und insoweit eine Alkoholabhängigkeit der Klägerin unterstellt, was jedoch letztlich nicht entscheidungserheblich war. Bei der Bewertung der personenbedingten Kündigung hat es die notwendige negative Gesundheitsprognose nach den für die personenbedingte Kündigung maßgeblichen Kriterien im Hinblick auf die von ihm angenommene Therapiebereitschaft der Klägerin verneint. Hierdurch hat das Arbeitsgericht den Sachvortrag des beklagten Landes korrekt gewürdigt. Es hat sich zunächst mit der verhaltensbedingten Kündigung und den vom beklagten Land ins Feld geführten Pflichtverletzungen der Klägerin auseinandergesetzt, da das beklagte Land die soziale Rechtfertigung der Kündigung vorrangig auf verhaltensbedingte Gründe gestützt und zur Begründung ausgeführt hat, die Klägerin sei im Zeitpunkt der Kündigung nicht alkoholkrank gewesen. Im Anschluss hat das Arbeitsgericht auch die personenbedingten Kündigungsgründe geprüft, auf die das beklagte Land die Kündigung "rein vorsorglich" gestützt hat. Es hat die Kündigung vom 25.04.2006 damit unter beiden Gesichtspunkten nach den jeweils maßgeblichen Kriterien geprüft, nämlich zum einen das Vorliegen verhaltensbedingter Kündigungsgründe verneint und zum anderen die Kündigung, wie von dem beklagten Land gewünscht, nach den strengeren Maßstäben einer personenbedingten Kündigung aus Krankheitsgründen gewürdigt. Dies ist nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Danach hat das beklagte Land die Kosten des erfolglos gebliebenen Rechtsmittels zu tragen.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung.

Vorschriften§ 1 Abs. 1 KSchG, § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG, § 69 Abs. 2 ArbGG, § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG, § 97 Abs. 1 ZPO

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