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02.03.2011 · IWW-Abrufnummer 110774

Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 01.03.2011 – C-236/09

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
1. März 2011(*)
„Vorabentscheidungsersuchen – Grundrechte – Bekämpfung von Diskriminierungen – Gleichbehandlung von Männern und Frauen – Zugang zu und Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen – Versicherungsprämien und ‑leistungen – Versicherungsmathematische Faktoren – Berücksichtigung des Kriteriums Geschlecht als Faktor für die Bewertung von Versicherungsrisiken – Private Versicherungsverträge – Richtlinie 2004/113/EG – Art. 5 Abs. 2 – Unbefristete Ausnahme – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 21 und 23 – Ungültigkeit“
In der Rechtssache C - 236/09
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht von der Cour constitutionnelle (Belgien) mit Entscheidung vom 18. Juni 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2009, in dem Verfahren
Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL,
Yann van Vugt,
Charles Basselier
gegen
Conseil des ministres
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Richterin P. Lindh und des Richters T. von Danwitz,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL sowie von Herrn van Vugt und Herrn Basselier, vertreten durch F. Krenc, avocat,
– des Conseil des ministres, vertreten durch P. Slegers, avocat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck als Bevollmächtigte im Beistand von P. Slegers, avocat,
– Irlands, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von B. Murray, BL,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und A. Czubinski als Bevollmächtigte,
– der litauischen Regierung, vertreten durch R. Mackevičienė als Bevollmächtigte,
– der finnischen Regierung, vertreten durch J. Heliskoski als Bevollmächtigten,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch I. Rao als Bevollmächtigte im Beistand von D. Beard, Barrister,
– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Veiga, F. Florindo Gijón und I. Šulce als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Van Hoof und M. van Beek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. September 2010
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (ABl. L 373, S. 37).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association belge des Consommateurs Test-Achats ASBL sowie Herrn van Vugt und Herrn Basselier auf der einen Seite und dem Conseil des ministres (Ministerrat) des Königreichs Belgien auf der anderen Seite über die Nichtigerklärung des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 zur Abänderung des Gesetzes vom 10. Mai 2007 zur Bekämpfung der Diskriminierung zwischen Männern und Frauen, was das Geschlecht in Versicherungsangelegenheiten betrifft (Moniteur belge vom 31. Dezember 2007, S. 66175, im Folgenden: Gesetz vom 21. Dezember 2007).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Richtlinie 2004/113 wurde auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 EG erlassen. Die Erwägungsgründe 1, 4, 5, 12, 15, 18 und 19 dieser Richtlinie lauten:
„(1) Nach Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind den Mitgliedstaaten gemeinsam; sie achtet ferner die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.

(4) Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist ein grundlegendes Prinzip der Europäischen Union. Nach [den] Artikel[n] 21 und 23 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [im Folgenden: Charta] ist jegliche Diskriminierung wegen des Geschlechts verboten und muss die Gleichheit von Männern und Frauen in allen Bereichen gewährleistet werden.
(5) Gemäß Artikel 2 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ist die Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen eine der Hauptaufgaben der Gemeinschaft. Außerdem muss die Gemeinschaft gemäß Artikel 3 Absatz 2 des Vertrags bei all ihren Tätigkeiten darauf hinwirken, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.

(12) Um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts zu verhindern, sollte diese Richtlinie sowohl für unmittelbare als auch für mittelbare Diskriminierungen gelten. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt nur dann vor, wenn eine Person aufgrund ihres Geschlechts in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt. Somit liegt beispielsweise bei auf körperliche Unterschiede bei Mann und Frau zurückzuführenden unterschiedlichen Gesundheitsdienstleistungen für Männer und Frauen keine Diskriminierung vor, weil es sich nicht um vergleichbare Situationen handelt.

(15) Es bestehen bereits zahlreiche Rechtsinstrumente zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich Beschäftigung und Beruf. Diese Richtlinie sollte deshalb nicht für diesen Bereich gelten. Das Gleiche gilt für selbstständige Tätigkeiten, wenn sie von bestehenden Rechtsvorschriften erfasst werden. Diese Richtlinie sollte nur für private, freiwillige und von Beschäftigungsverhältnissen unabhängige Versicherungen und Rentensysteme gelten.

(18) Die Anwendung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren ist im Bereich des Versicherungswesens und anderer verwandter Finanzdienstleistungen weit verbreitet. Zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen sollte die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen führen. Damit es nicht zu einer abrupten Umstellung des Marktes kommen muss, sollte die Anwendung dieser Regel nur für neue Verträge gelten, die nach dem Zeitpunkt der Umsetzung dieser Richtlinie abgeschlossen werden.
(19) Bestimmte Risikokategorien können bei Männern und Frauen unterschiedlich sein. In einigen Fällen ist das Geschlecht ein bestimmender Faktor bei der Beurteilung der versicherten Risiken, wenn auch nicht unbedingt der Einzige. Bei Verträgen, mit denen diese Arten von Risiken versichert werden, können die Mitgliedstaaten entscheiden, Ausnahmen von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen zuzulassen, sofern sie sicherstellen können, dass die zugrunde liegenden versicherungsmathematischen und statistischen Daten, auf die sich die Berechnungen stützen, verlässlich sind, regelmäßig aktualisiert werden und der Öffentlichkeit zugänglich sind. Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn das betreffende nationale Recht die Regel der Geschlechtsneutralität bisher noch nicht vorsah. Fünf Jahre nach der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten prüfen, inwieweit diese Ausnahmen noch gerechtfertigt sind, wobei die neuesten versicherungsmathematischen und statistischen Daten sowie ein Bericht, den die Kommission drei Jahre nach der Umsetzung dieser Richtlinie vorlegen wird, zu berücksichtigen sind.“
4 Der Zweck der Richtlinie 2004/113 wird in ihrem Art. 1 wie folgt definiert:
„Zweck dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Rahmens für die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Diskriminierungen beim Zugang zu und der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen zur Umsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in den Mitgliedstaaten.“
5 Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen,
a) dass keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, auch keine Schlechterstellung von Frauen aufgrund von Schwangerschaft oder Mutterschaft, erfolgen darf;
b) dass keine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgen darf.“
6 Art. 5 („Versicherungsmathematische Faktoren“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass spätestens bei den nach dem 21. Dezember 2007 neu abgeschlossenen Verträgen die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Prämien und Leistungen im Bereich des Versicherungswesens und verwandter Finanzdienstleistungen nicht zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führt.
(2) Unbeschadet des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten vor dem 21. Dezember 2007 beschließen, proportionale Unterschiede bei den Prämien und Leistungen dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist. Die betreffenden Mitgliedstaaten informieren die Kommission und stellen sicher, dass genaue Daten in Bezug auf die Berücksichtigung des Geschlechts als bestimmender versicherungsmathematischer Faktor erhoben, veröffentlicht und regelmäßig aktualisiert werden. Diese Mitgliedstaaten überprüfen ihre Entscheidung fünf Jahre nach dem 21. Dezember 2007, wobei sie dem in Artikel 16 genannten Bericht der Kommission Rechnung tragen, und übermitteln der Kommission die Ergebnisse dieser Überprüfung.
(3) Kosten im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft dürfen auf keinen Fall zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führen.
Die Mitgliedstaaten können die Durchführung der aufgrund dieses Absatzes erforderlichen Maßnahmen bis spätestens zwei Jahre nach dem 21. Dezember 2007 aufschieben. In diesem Fall unterrichten die betreffenden Mitgliedstaaten unverzüglich die Kommission.“
7 Art. 16 („Berichte“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten übermitteln der Kommission spätestens am 21. Dezember 2009 und in der Folge alle fünf Jahre sämtliche verfügbaren Informationen über die Anwendung dieser Richtlinie.
Die Kommission erstellt einen zusammenfassenden Bericht, der eine Prüfung der aktuellen Praxis der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit Artikel 5 in Bezug auf die Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei der Berechnung von Prämien und Leistungen enthält. Sie legt diesen Bericht dem Europäischen Parlament und dem Rat spätestens am 21. Dezember 2010 vor. Erforderlichenfalls fügt die Kommission diesem Bericht Vorschläge zur Änderung der Richtlinie bei.
(2) Die Kommission berücksichtigt in ihrem Bericht die Standpunkte der einschlägigen Interessengruppen.“
8 Nach Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/113 müssen die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens am 21. Dezember 2007 nachzukommen, und der Kommission unverzüglich den Wortlaut dieser Rechtsvorschriften mitteilen.
Nationales Recht
9 Art. 2 des Gesetzes vom 21. Dezember 2007 stellt klar, dass damit die Richtlinie 2004/113 umgesetzt wird.
10 Art. 3 dieses Gesetzes enthält die Bestimmung, mit der Art. 10 des Gesetzes vom 10. Mai 2007 zur Bekämpfung der Diskriminierung zwischen Männern und Frauen, was das Geschlecht in Versicherungsangelegenheiten betrifft, ersetzt wird.
11 Die Neufassung des Art. 10 des letztgenannten Gesetzes lautet nunmehr wie folgt:
„§ 1. In Abweichung von Artikel 8 kann eine proportionale unmittelbare Unterscheidung aufgrund des Geschlechts bei der Festlegung der Versicherungsprämien und -leistungen gemacht werden, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.
Diese Abweichung gilt nur für Lebensversicherungsverträge im Sinne von Artikel 97 des Gesetzes vom 25. Juni 1992 über den Landversicherungsvertrag.
§ 2. Kosten in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft dürfen ab dem 21. Dezember 2007 auf keinen Fall zu unterschiedlichen Versicherungsprämien und -leistungen führen.
§ 3. Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen sammelt die in § 1 erwähnten versicherungsmathematischen und statistischen Daten, gewährleistet die Veröffentlichung dieser Daten spätestens am 20. Juni 2008 und anschließend die Veröffentlichung der aktualisierten Daten alle zwei Jahre und veröffentlicht sie auf ihrer Internetseite. Diese Daten werden alle zwei Jahre aktualisiert.
Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen ist ermächtigt, die dazu notwendigen Daten von den betreffenden Einrichtungen, Unternehmen oder Personen zu verlangen. Sie bestimmt, welche Daten übermittelt werden müssen, sowie die Art und Form ihrer Übermittlung.
§ 4. Die Kommission für das Bank-, Finanz- und Versicherungswesen übermittelt der Europäischen Kommission spätestens am 21. Dezember 2009 die Daten, über die sie aufgrund des vorliegenden Artikels verfügt. Sie übermittelt der Europäischen Kommission diese Daten jedes Mal, wenn sie aktualisiert sind.
§ 5. Die Gesetzgebenden Kammern bewerten vor dem 1. März 2011 die Anwendung des vorliegenden Artikels aufgrund der in den Paragraphen 3 und 4 erwähnten Daten, des in Artikel 16 der Richtlinie 2004/113/EG erwähnten Berichts der Europäischen Kommission und der Situation in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Diese Bewertung erfolgt aufgrund eines Berichts, der den Gesetzgebenden Kammern binnen zwei Jahren von einer Bewertungskommission vorgelegt wird.
Der König bestimmt durch einen im Ministerrat beratenen Erlass die Modalitäten in Bezug auf die Zusammensetzung und Bestellung der Bewertungskommission, die Form und den Inhalt des Berichts.
Die Kommission wird unter anderem Bericht über die Auswirkungen des vorliegenden Artikels auf die Marktsituation erstatten und auch andere Segmentierungskriterien als die geschlechtsbezogenen Kriterien untersuchen.
§ 6. Vorliegende Bestimmung findet keine Anwendung auf die im Rahmen einer zusätzlichen Sozialversicherungsregelung abgeschlossenen Versicherungsverträge. Für diese Verträge gilt ausschließlich Artikel 12.“
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen
12 Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben bei der Cour constitutionnelle (Verfassungsgerichtshof) eine Klage auf Nichtigerklärung des Gesetzes vom 21. Dezember 2007, mit dem die Richtlinie 2004/113 in belgisches Recht umgesetzt wurde.
13 Ihrer Ansicht nach verstößt das Gesetz vom 21. Dezember 2007, mit dem von der Ausnahmemöglichkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 Gebrauch gemacht wird, gegen den Grundsatz der Gleichheit von Männern und Frauen.
14 Soweit mit dem Gesetz vom 21. Dezember 2007 von der Ausnahmemöglichkeit des Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 Gebrauch gemacht wird, hat die Cour constitutionnelle, da ihrer Meinung nach die bei ihr anhängige Klage eine Frage nach der Gültigkeit einer Bestimmung einer Richtlinie der Union aufwirft, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG vereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU und insbesondere mit dem durch diese Bestimmung gewährleisteten Gleichheits- und Nichtdiskriminierungsgrundsatz?
2. Falls die erste Frage verneinend beantwortet wird: Ist derselbe Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie ebenfalls unvereinbar mit Art. 6 Abs. 2 EU, wenn seine Anwendung auf Lebensversicherungsverträge beschränkt wird?
Zu den Vorlagefragen
15 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 in Anbetracht des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern gültig ist.
16 Art. 6 EU, auf den das vorlegende Gericht in seinen Fragen Bezug nimmt und der im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113 genannt wird, bestimmte in seinem Abs. 2, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Diese Grundrechte sind in die Charta inkorporiert worden, die ab dem 1. Dezember 2009 rechtlich gleichrangig mit den Verträgen ist.
17 Nach den Art. 21 und 23 der Charta sind zum einen Diskriminierungen wegen des Geschlechts verboten, und zum anderen ist die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen zu gewährleisten. Da im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113 ausdrücklich auf diese Artikel Bezug genommen wird, ist die Gültigkeit von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie mit Blick auf diese Bestimmungen der Charta zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, Volker und Markus Schecke und Eifert, C‑92/09 und C‑93/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 46).
18 Das Recht auf Gleichbehandlung von Frauen und Männern ist Gegenstand von Bestimmungen des AEU-Vertrags. Zum einen muss nach Art. 157 Abs. 1 AEUV jeder Mitgliedstaat die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicherstellen. Zum anderen kann nach Art. 19 Abs. 1 AEUV der Rat nach Zustimmung des Parlaments geeignete Vorkehrungen treffen, um Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.
19 Während Art. 157 Abs. 1 AEUV den Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern in einem spezifischen Bereich aufstellt, stellt Art. 19 Abs. 1 AEUV eine Ermächtigung für den Rat dar, der, wenn er davon Gebrauch macht, u. a. Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV beachten muss, nach dem die Union soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen bekämpft und soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes fördert, sowie Art. 8 AEUV, nach dem die Union bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern.
20 Bei der schrittweisen Verwirklichung dieser Gleichheit ist es der Unionsgesetzgeber, der unter Berücksichtigung der Aufgabe, die der Union mit Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 2 EUV und Art. 8 AEUV übertragen worden ist, den Zeitpunkt seines Tätigwerdens bestimmt, wobei er der Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Union Rechnung trägt.
21 Ist jedoch ein solches Tätigwerden beschlossen worden, muss es in kohärenter Weise auf die Erreichung des verfolgten Ziels hinwirken, was nicht die Möglichkeit ausschließt, Übergangszeiten oder Ausnahmen begrenzten Umfangs vorzusehen.
22 Wie es im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/113 heißt, war bei deren Erlass die Anwendung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren im Bereich des Versicherungswesens weit verbreitet.
23 Folglich stand es dem Unionsgesetzgeber frei, den Grundsatz der Gleichheit von Frauen und Männern, genauer die Anwendung der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen, stufenweise mit angemessenen Übergangszeiten umzusetzen.
24 In diesem Sinne hat der Unionsgesetzgeber in Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/113 vorgesehen, dass die Unterschiede bei den Prämien und Leistungen, die sich aus der Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei ihrer Berechnung ergeben, bis spätestens zum 21. Dezember 2007 abgeschafft werden mussten.
25 In Abweichung von der mit diesem Art. 5 Abs. 1 eingeführten Grundregel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen ist den Mitgliedstaaten, deren nationales Recht diese Regel bei Erlass der Richtlinie 2004/113 noch nicht vorsah, durch Art. 5 Abs. 2 die Möglichkeit eingeräumt worden, vor dem 21. Dezember 2007 zu beschließen, proportionale Unterschiede bei den Prämien und Leistungen dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.
26 Ebenfalls nach Art. 5 Abs. 2 wird diese Möglichkeit fünf Jahre nach dem 21. Dezember 2007 überprüft, wobei einem Bericht der Kommission Rechnung zu tragen ist, doch dürfen die Mitgliedstaaten, die von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, den Versicherern gestatten, diese Ungleichbehandlung unbefristet zu praktizieren, da die Richtlinie 2004/113 keine Bestimmung über die Anwendungsdauer dieser Unterschiede enthält.
27 Der Rat äußert Zweifel daran, ob die Lage von versicherten Frauen und die von versicherten Männern im Rahmen bestimmter Privatversicherungszweige als vergleichbar angesehen werden können, da aus versicherungstechnischer Sicht bei der auf statistischer Grundlage stattfindenden Einordnung in Risikokategorien die Niveaus des versicherten Risikos bei Frauen und bei Männern unterschiedlich sein könnten. Er macht geltend, die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 gewählte Option solle nur ermöglichen, unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichzubehandeln.
28 Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C‑127/07, Slg. 2008, I‑9895, Randnr. 23).
29 Die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ist im Licht des Zwecks und des Ziels der Unionsmaßnahme, die die fragliche Unterscheidung einführt, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., Randnr. 26). Hier wird diese Unterscheidung mit Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 eingeführt.
30 Es steht fest, dass das mit der Richtlinie 2004/113 im Versicherungssektor verfolgte Ziel, wie in ihrem Art. 5 Abs. 1 zum Ausdruck kommt, in der Anwendung der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen besteht. Im 18. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es ausdrücklich, dass zur Gewährleistung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren nicht zu Unterschieden bei den Prämien und Leistungen führen sollte. Im 19. Erwägungsgrund der Richtlinie wird die den Mitgliedstaaten eingeräumte Möglichkeit, die Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen nicht anzuwenden, als „Ausnahme“ bezeichnet. Somit beruht die Richtlinie 2004/113 auf der Prämisse, dass für die Zwecke der Anwendung des in den Art. 21 und 23 der Charta verbürgten Grundsatzes der Gleichbehandlung von Frauen und Männern die Lage von Frauen und die Lage von Männern in Bezug auf die Prämien und Leistungen der von ihnen abgeschlossenen Versicherungen vergleichbar sind.
31 Damit besteht die Gefahr, dass die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 vorgesehene Ausnahme von der Gleichbehandlung von Frauen und Männern nach dem Unionsrecht unbefristet zulässig ist.
32 Eine solche Bestimmung, die es den betreffenden Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, läuft der Verwirklichung des mit der Richtlinie 2004/113 verfolgten Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist mit den Art. 21 und 23 der Charta unvereinbar.
33 Die Bestimmung ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen.
34 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 mit Wirkung vom 21. Dezember 2012 ungültig ist.
35 In Anbetracht dieser Antwort ist die zweite Vorlagefrage nicht zu beantworten.
Kosten
36 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen ist mit Wirkung vom 21. Dezember 2012 ungültig.
Unterschriften
Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

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