03.05.2017 · IWW-Abrufnummer 193641
Landesarbeitsgericht Bremen: Urteil vom 10.08.2016 – 3 Sa 8/16
In dem Rechtsstreit
Klägerin und Berufungsbeklagte,
Proz.-Bev.:
gegen
Beklagte und Berufungsbeklagte,
Proz.-Bev.:
hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Bremen aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. August 2016
durch
den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht
den ehrenamtlichen Richter
den ehrenamtlichen Richter
für Recht erkannt:
Tenor:
1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven vom 5. November 2015 - 9 Ca 9117/15 - abgeändert und die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klägerin zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Anrechnung einer Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn.
Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 19. Mai 1999 als geringfügig Beschäftigte in der Vorbereitung beschäftigt. Ausweislich des letzten schriftlichen Arbeitsvertrages vom 31. Oktober 2014 erhielt die Klägerin seit dem 1. Januar 2015 "in Anlehnung an das Mindestlohngesetz" eine Stundenvergütung von 8,50 € (vgl. Bl. 13 ff. d. A.). Die Beklagte zahlte an die Klägerin bis Ende 2014 eine sogenannte "Anwesenheitsprämie". Diese Zahlung basierte auf einem Anschreiben an alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Mai 1996. In diesem Schreiben heißt es wörtlich:
"...Die Anwesenheitsprämie stellt sich wie folgt dar:
Jede/r Mitarbeiter/in (ohne s. Punkt "Ausnahmen") erhält pro Monat eine Prämie von DM 100,00
Voraussetzung: Jeden Arbeitstag anwesend sein.
Bei 1-3 Krankheitstagen reduziert sich die Prämie auf DM 25,00
Bei mehr als 3 Tagen Krankheit entfällt die Prämie.
Weiterhin gibt es noch eine zusätzliche Quartalsprämie von DM 100,00
Voraussetzung: Alle 3 Monate jeden Arbeitstag anwesend sein.
Bei bereits einem Krankheitstag in dem Quartal entfällt diese Prämie.
Ausnahmen: Ausgenommen von dieser Regelung sind Geschäftsführer, Niederlassungsleiter, Vertriebsbeauftragte und Mitarbeiter, die sich noch in der Probezeit befinden.
..."
Betriebsrat und Beklagte haben in einer Betriebsvereinbarung vom 12./20. April 2007 (Bl. 34-39 d.A.) Folgendes geregelt:
"V. Anwesenheitsprämie
Die bestehenden Regelungen zur Gewährung einer Anwesenheitsprämie (Monats- sowie Quartalsprämie) bleiben bestehen."
Seit Februar 2015 rechnete die Beklagte die Anwesenheitsprämie bis zur Erreichung des Mindestlohns im Rahmen des Pauschallohns ab und zahlte entsprechend der Abrechnung aus. Im Übrigen zahlte sie den darüber hinausgehenden Betrag der Anwesenheitsprämie bei entsprechender Anwesenheit aus. Mit ihrer am 30. April 2015 und 28. August 2015 beim Gericht eingereichten Klagerweiterungen machte die Klägerin die Auszahlung von Anwesenheitsprämien für die Monate Januar bis Mai 2015 geltend. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage teilweise - bezogen auf den geltend gemachten Weihnachtsgeldbetrag und die Anwesenheitsprämie für den Monat Januar 2015 - zurückgenommen.
Die Klägerin hat vorgetragen, die Anrechnung der Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn sei rechtswidrig. Diese Zahlung sei nicht funktionell gleichwertig mit dem Mindestlohn. Sinn und Zweck des MiLoG sei es, angemessene Arbeitsbedingungen herzustellen. Der Gesetzgeber wolle u.a. Sozialversicherungssysteme stützen, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern, vor unangemessen niedriger Entlohnung schützen sowie einem Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten entgegenwirken. Die Bundesregierung gehe davon aus, dass die Rechtsprechungslinien zum Mindestlohn nach dem AEntG und der Entsendungsrichtlinie auf den gesetzlichen Mindestlohn zu übertragen seien. Der EuGH gehe dabei davon aus, dass Zahlungen, die das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verändern würden, keinen Mindestlohn im Sinne der Richtlinie darstellen könnten. Deshalb sei ein "Mehr" an Leistungen unter besonderen Bedingungen nicht anrechenbar. Anrechenbar seien nur Leistungen für die Normalleistung. Mit der Festlegung auf 8,50 € pro Stunde regele der Gesetzgeber, dass diese Arbeitsbedingungen im Normalfall und nicht erst unter besonderen (und damit wechselnden) Bedingungen erreicht werden sollten. Mit einer Anrechnungsmöglichkeit würde man gleichzeitig einen regelmäßigen Lohn unter 8,50 € akzeptieren. Eine generelle Anrechenbarkeit von sämtlichen Entgeltbestandteilen, unabhängig davon, worauf sie beruhen würden, könne die Klägerin daher aus dem Sinn und Zweck des MiLoG nicht erkennen. Richtig sei, dass das Bundesarbeitsgericht strengere Maßstäbe ansetze im Zusammenhang mit dem AEntG. Aus verfassungsrechtlichen Erwägungen seien hier beim MiLoG aber andere Einbeziehungsregeln anzuwenden, da es um das Minimum eines Lohnsockels gehe. Es komme darauf an, ob eine Leistung im konkreten Fall das vergüte, was der Arbeitnehmer "normalerweise" tun müsse oder ob eine Zahlung überobligatorisch erfolge. Es sei darauf abzustellen, aus welchem Zweck der Arbeitgeber die Leistung erbringe. Unter Beachtung dieser Grundsätze sei eine Anrechnung vorliegend nicht zulässig. Die Anwesenheitsprämie stelle eine Sonderprämie dar. Sie sei eine Belohnung dafür, dass sich die Beschäftigten über die Maßen gesund halten würden. Es gehe damit über die Normalleistung und das normale Verhältnis von Leistung und Gegenleistung hinaus. Es könne sich damit nur um so etwas wie eine "Qualitätsprämie", die der eigentlichen Arbeitsleistung nicht funktional gleichwertig gegenüber stehe, handeln. Nicht krank zu werden, sei ein über dem normalen Maß eintretendes Ereignis. Der Klägerin stehe die Anwesenheitsprämie deshalb in geltend gemachter Höhe zu. Wegen der Höhe Klagforderungen für die vorstehenden Monate wird auf Bl. 40 und 78 ff. d.A. verwiesen.
Die Klägerin hat beantragt:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere € 13,08 brutto nebst 5%-Punkte über dem Basiszinssatz der EZB liegenden Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin weitere € 47,55 brutto nebst 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz der EZB liegenden Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat vorgetragen, die Anwesenheitsprämie sei auf den gesetzlichen Mindestlohn uneingeschränkt anrechenbar. Das MiLoG diene der Sicherung einer Existenzgrundlage. Alle regelmäßigen Zahlungen seien deshalb anrechenbar, und zwar unabhängig davon, wie sie bezeichnet worden seien. Selbst bei Übertragung der Rechtsprechung des EuGH zur Arbeitnehmerentsenderichtlinie wäre die Anrechenbarkeit zu bejahen. Danach sei nur dann eine Anrechenbarkeit zu verneinen, wenn sich hierdurch das Verhältnis zwischen Leistung auf der einen und der Gegenleistung auf der anderen Seite verändere. Anders ausgedrückt sei die Anrechnung von "Entgelt" zulässig. Der EuGH stelle insoweit klar, dass die Definition des Entgeltbegriffs den nationalen Gerichten obliege. Diese würden die Definition des Entgeltbegriffs weit auslegen. Die Rechtsprechung zu Stichtagsklauseln sei zu übertragen. Zahlungen seien dann auch dem Entgelt zuzuordnen, wenn sie "auch" die Arbeitsleistung honorieren, daneben aber auch andere Zwecke verfolgen würden. Es reiche somit, dass ein persönlicher Einsatz honoriert werden solle. Bei Übertragung dieser Grundgedanken auf den vorliegenden Fall stehe ohne weiteres fest, dass selbstverständlich "auch" die Arbeitsleistung der Klägerin mit der Anwesenheitsprämie honoriert werden solle, da diese Anwesenheit logische Voraussetzung für die Erbringung der Arbeitsleistung sei. Es sei abwegig, dass die reine Anwesenheit "belohnt" werden solle, selbst wenn während der Arbeitszeit die Arbeit verweigert werden würde. Schließlich ergebe sich kein anderes Ergebnis, wenn man einer engeren Auslegung des Entgeltbegriffs im Sinne einer "funktionalen Gleichwertigkeit" von Leistung und Gegenleistung im engeren Sinne folge. Anrechenbar seien Zahlungen für die Normalleistung. Folgerichtig seien in der Rechtsprechung des EuGH auch lediglich Zahlungen für vermögenswirksame Leistungen bzw. Vergütungen für überobligatorische Leistungen nicht als anrechenbar angenommen worden.
Mit Urteil vom 5. November 2015 hat das Arbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung der geltend gemachten Anwesenheitsprämien verurteilt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass die Anwesenheitsprämie nicht auf den gesetzlichen Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 MiLoG angerechnet werden könne. Bei der Gewährung einer Prämie im Anwendungsbereich des § 4 Buchst. a Entgeltfortzahlungsgesetz handele es sich um eine Sondervergütung, mit der nicht die Normalleistung vergütet werde, sondern die einen vollständig anderen Zweck verfolge, nämlich Krankheitszeiten und hieraus folgende Kosten zu verringern.
Gegen dieses ihr am 23. Dezember 2015 zugestellte Urteil hat die Beklagte am Montag, den 25. Januar 2016 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist vom 17. Februar 2016 bis zum 23. März 2016 am 17. März 2016 begründet.
Die Beklagte vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie habe im Herbst 2014 entschieden, mit Wirkung ab dem 1. Januar 2015 die Anwesenheitsprämie bis zur Höhe des gesetzlichen Mindestlohns garantiert auszuzahlen. Damit habe die Beklagte insoweit auf die bisherigen Voraussetzungen für die Gewährung der Anwesenheitsprämie verzichtet. Die Gewährung der Anwesenheitsprämie bis zur Höhe des Mindestlohns sei daher an keinerlei Voraussetzungen gebunden und verfolge damit auch keinen von der Erbringung der Normalleistung abweichenden Zweck. Ein solcher Verzicht auf die Voraussetzungen für die Zahlung der Anwesenheitsprämie sei rechtswirksam erfolgt. Dieser Verzicht sei für die betroffenen Arbeitnehmer ausschließlich vorteilhaft. Darüber hinaus sei eine Anrechenbarkeit der Anwesenheitsprämie auf den gesetzlichen Mindestlohn nach dem gesetzlich verfolgten Zweck auch zulässig, da die Klägerin vorliegend auch im Rahmen einer Anrechnung den vom Gesetzgeber geforderten Mindestlohn erhalte. Die Anwesenheitsprämie sei auch als Entgelt anzusehen und daher anrechenbar.
Die Beklagte beantragt:
Unter Abänderung des am 5. November 2015 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Bremen-Bremerhaven - 9 Ca 9117/15 - wird die Klage abgewiesen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Die Behauptung, die Beklagte habe die Entscheidung getroffen, bis zur Höhe des Mindestlohns auf die Tatbestandsvoraussetzungen für die Gewährung der Anwesenheitsprämie zu verzichten, müsse mit Nichtwissen bestritten werden. Zudem müsse vorliegend zwischen Lohn und Mindestlohn sauber differenziert werden. Das Ziel der Anwesenheitsprämie bestehe darin, dass der organisatorische und finanzielle Aufwand der mit dem kurzfristigen Ausfall von Arbeitnehmern verbunden sei, möglichst gering gehalten werde. Die Beklagte setzte die Anwesenheitsprämie als Mittel ein, um kurzfristige Ausfälle von Arbeitnehmern infolge von Kurzerkrankungen zu verhindern. Damit sei die Anwesenheitsprämie lediglich Mittel zum eigentlichen Zweck, nämlich, den mit den kurzfristigen Ausfällen verbundenen organisatorischen und finanziellen Aufwand zu minimieren. Soweit die Beklagte sich nunmehr darauf berufe, bis zur Höhe des Mindestlohns auf die Voraussetzungen für die Gewährung der Anwesenheitsprämie zu verzichten, stelle dies einen Versuch der Beklagten dar, sich den Verpflichtungen des Mindestlohngesetzes zu entziehen. Dieser Verzicht sei auch nicht vorteilhaft für die Arbeitnehmer, da hierdurch eine Anrechnung auf den Mindestlohn erfolge und der Arbeitnehmer daher im Endeffekt weniger Geld erhalte, als er im Falle der Zahlung des Mindestlohns und der (vollen) Anwesenheitsprämie erhalten hätte. Daher könne auch nicht von einer stillschweigenden Zustimmung der Klägerin ausgegangen werden. Zudem sei eine solche Änderung der Voraussetzungen für die Gewährung der Anwesenheitsprämie auch unwirksam, da der Betriebsrat einer solchen Änderung nicht im Rahmen der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG zugestimmt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
Die Berufung ist aufgrund der Zulassung durch das Arbeitsgericht zulässig (§ 64 Abs. 2a ArbGG).
Die Beklagte hat die Berufung auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet (§§ 519, 520 ZPO, 66 Abs. 1 ArbGG).
B.
Die Berufung ist begründet.
I. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Auszahlung der geltend gemachten Anwesenheitsprämien. Die Anwesenheitsprämien sind im vorliegenden Fall auf den gesetzlichen Mindestlohn anrechenbar.
1. Der Arbeitgeber schuldet den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Er erfüllt den Anspruch durch die im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis als Gegenleistung für Arbeit erbrachten Entgeltzahlungen, soweit diese dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben. Die Erfüllungswirkung fehlt nur solchen Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung (z.B. § 6 Abs. 5 ArbZG) beruhen (BAG Pressemitteilung zum Urteil vom 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16). Der gesetzliche Mindestlohn tritt dabei als eigenständiger Anspruch neben die bisherigen Anspruchsgrundlagen, verändert diese aber nicht (BAG 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 aaO.).
2. Bei der Anrechnung von Leistungen auf den Mindestlohn ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (16. April 2014 - 4 AZR 802/11 - BAGE 148, 68 - 83) dem erkennbaren Zweck des Mindestlohns, den der Arbeitnehmer als unmittelbare Leistung für die verrichtete Tätigkeit begehrt, der zu ermittelnde Zweck der jeweiligen Leistung des Arbeitgebers, die dieser aufgrund anderer (individual- oder kollektivrechtlicher) Regelungen erbracht hat, gegenüberzustellen. Besteht danach eine funktionale Gleichwertigkeit der zu vergleichenden Leistungen, ist die erbrachte Leistung auf den zu erfüllenden Anspruch anzurechnen (BAG 16. April 2014 - 4 AZR 802/11 - Rn. 39, zit. nach juris; LAG Berlin-Brandenburg 12. Januar 2016 - 19 Sa 1851/15, nicht rk Revision eingelegt unter 5 AZR 135/16; Sächsisches LAG 24. September 2015 - 8 Sa 153/15 nicht rk, Revision eingelegt unter 10 AZR 667/15).
a) Eine solche funktionale Gleichwertigkeit hat das Arbeitsgericht vorliegend mit der Begründung verneint, dass die Anwesenheitsprämie einen anderen Zweck verfolge als die Normalarbeitsleistung der Klägerin, nämlich die mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verbundenen (organisatorischen und finanziellen) Nachteile des Arbeitgebers zu vermeiden. Diese Argumentation berücksichtigt aus der Sicht der Berufungskammer nicht, dass dieser vom Arbeitsgericht festgestellte Zweck der Prämie nicht losgelöst von der Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung erzielt werden kann. Die bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz losgelöst von der Erbringung der Arbeitsleistung stellt keinen Selbstzweck dar und ist für den Arbeitgeber ohne wirtschaftlichen Wert. Die Anwesenheitsprämie zielt damit nicht auf einen von der mit der Anwesenheit verbundenen Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung losgelösten eigenständigen Zweck, da für die vorliegende Fallkonstellation ein solcher besonderer Zweck nicht ersichtlich ist.
b) Der Mindestlohn ist grundsätzlich neutral im Hinblick auf Inhalt und Ort der Arbeitsleistung sowie die Lage der Arbeitszeit. Der Mindestlohn sieht grundsätzlich jede Arbeitstätigkeit als eine Normaltätigkeit an (so auch Sächsisches LAG 24. September 2015 - 8 Sa 153/15 aaO.). Die Anwesenheit am Arbeitsplatz zählt regelmäßig zur "Normalleistung" des Arbeitnehmers (Riechert/Nimmerjahn MiLoG § 1 Rndr. 137). An dieser Bewertung ändert sich nichts dadurch, dass statistisch gesehen eine gewisse Krankheitsquote als durchschnittlich bzw. "normal" angesehen werden kann. Ist ein Arbeitnehmer in einer bestimmten Zeitperiode nicht arbeitsunfähig erkrankt, so erfüllt er mit der Erbringung der Arbeitsleistung in diesem Zeitraum die vertraglich vereinbarte Verpflichtung, die im Sinne des Mindestlohngesetzes als Normalarbeitsleistung anzusehen ist. Eine Sonderleistung ist hiermit nicht verbunden.
c) Etwas anderes gilt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dann, wenn andere Gesetze dem Zuschlag oder der Zulage einen besonderen Zweck verleihen, welcher der Anrechnung auf den Mindestlohn entgegensteht, z.B. Nachtzuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG. Ein solcher besonderer Zweck lässt sich im Hinblick auf die Anwesenheitsprämie vorliegend nicht aus § 4 Buchst. a Entgeltfortzahlungsgesetz herleiten. Diese Regelung gehört zu dem Konzept des Gesetzgebers, durch Entlastung des Arbeitgebers von beschäftigungsfeindlichen hohen Lohnzusatzkosten die Schaffung von mehr Arbeitsplätzen zu ermöglichen (BT-Drs. 13/4612 S. 2 und 11; ErfK/Reinhard 16. Auflage 2016 § 4 Buchst. a EFZG Rn. 1). Dieser gesetzlich verfolgte wirtschaftliche Zweck kann nur dann erreicht werden, wenn der Arbeitgeber anstelle der Entgeltfortzahlung für seine Vergütungszahlung das wirtschaftliche Äquivalent in Form der vertraglich geschuldeten Leistung durch den Arbeitnehmer erhält. Eine bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers ohne Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung vermag den gesetzlichen Zweck nicht zu erreichen.
d) Ein besonderer, von der Normalarbeitsleistung losgelöster Zweck könnte bei einer Anwesenheitsprämie z.B. darin bestehen, dass Arbeitnehmer die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung gerade im Betrieb und nicht z.B. an einem Heimarbeitsplatz erbringen sollen. Dann ginge es bei dem Zweck der Prämie nicht um das "ob" der Erbringung der Arbeitsleistung, sondern darum, "wo" die Arbeitsleistung zu erbringen ist. Um einen solchen Zweck geht es jedoch vorliegend ersichtlich nicht. Die mit der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verbundenen organisatorischen und wirtschaftlichen Nachteile für den Arbeitgeber lassen sich nicht allein durch eine Anwesenheit des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz losgelöst von der Erbringung der Arbeitsleistung vermeiden. Dem Arbeitgeber geht es mit der Gewährung der Anwesenheitsprämie somit um die mit der Anwesenheit verbundene Erbringung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer. Wirtschaftlich betrachtet geht es bei der Vermeidung von Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall darum, dass der Arbeitgeber für seine Vergütungszahlung das wirtschaftliche Äquivalent in Form der vertraglich vereinbarten Arbeitsleistung erhält.
e) Die Anwesenheitsprämie lässt sich auch nicht im Sinne einer "Qualitätsprämie" verstehen, da sie allein auf die Quantität der Erbringung der Arbeitsleistung und nicht auf die Qualität abstellt. Derjenige Arbeitnehmer, der weniger Arbeitsunfähigkeitszeiten aufweist, und daher seine Arbeitsleistung öfter bzw. länger erbringt, erfüllt damit allein die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsverpflichtung als Äquivalent für die vereinbarte Vergütung. Eine besondere Qualität, die über die Normalleistung hinausgeht, besteht darin nicht.
Ein von der Arbeitsleistung losgelöster eigenständiger Zweck ist im Hinblick auf die streitgegenständliche Anwesenheitsprämie für die Kammer daher nicht ersichtlich. Damit besteht nach den oben genannten Grundsätzen eine funktionale Gleichwertigkeit, die zu einer Anrechenbarkeit der Prämie auf den gesetzlichen Mindestlohn führt.
3. Ob die Arbeitgeberin rechtswirksam bis zur Höhe des Mindestlohns auf die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Anwesenheitsprämie verzichtet hat und auch deshalb ein eigenständiger Zweck der Anwesenheitsprämie jedenfalls in dieser Höhe nicht besteht, kann daher im Ergebnis dahinstehen.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
III. Gegen dieses Urteil war die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage zuzulassen (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).