16.01.2018 · IWW-Abrufnummer 198840
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen: Beschluss vom 20.11.2017 – 11 A 2758/15
1. Das Absenken des Bordsteins durch den Anlieger einer Straße zur Herstellung einer Gehwegüberfahrt greift in den Straßenkörper ein und ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 14a Abs. 1, letzter Halbsatz StrWG NRW nicht mehr vom Anliegergebrauch gedeckt. Für eine solche Maßnahme ist daher die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis nach § 18 Abs. 1 StrWG NRW erforderlich.
2. Im Rahmen der Ermessensausübung der Straßenbaubehörde bei der Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis kann die Abkehr von der Praxis, in früheren Jahren im Einzelfall die Genehmigung zur Herstellung einer Bordsteinabsenkung zu erteilen, rechtlich bedenkenfrei sein und eine möglicherweise durch früheres Verwaltungshandeln eingetretene Selbstbindung der Verwaltung durch Umstellung der Verwaltungspraxis ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG für die Zukunft wieder aufgehoben werden, wenn dies aus sachgerechten Erwägungen geschieht.
11 A 2758/15
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
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G r ü n d e :
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Der allein angeführten Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) führt nicht zur Zulassung der Berufung.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines verwaltungsgerichtlichen Urteils Im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen, wenn der Rechtsmittelführer einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt. Dabei begegnet es keinen Bedenken, wenn das Berufungsgericht bei der Überprüfung des angefochtenen Urteils auf ernstliche Zweifel an seiner Richtigkeit auf andere rechtliche oder tatsächliche Gesichtspunkte abstellt als das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen seines Urteils und wenn es - soweit rechtliches Gehör gewährt ist - die Zulassung der Berufung deshalb ablehnt, weil sich das Urteil aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig erweist. Es widerspricht nur dann sowohl dem Sinn und Zweck des dem Berufungsverfahren vorgeschalteten Zulassungsverfahrens als auch der Systematik der in § 124 Abs. 2 VwGO geregelten Zulassungsgründe und kann den Zugang zur Berufung in sachlich nicht mehr zu rechtfertigender Weise einschränken, wenn das Berufungsgericht auf andere entscheidungstragende Gründe abstellt als das Verwaltungsgericht, die nicht ohne Weiteres auf der Hand liegen und deren Heranziehung deshalb über den mit Blick auf den eingeschränkten Zweck des Zulassungsverfahrens von ihm vernünftigerweise zu leistenden Prüfungsumfang hinausgeht.
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Vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 2013 - 1 BvR 3057/11 -, NJW 2013, 3506 (3508 f.) = juris, Rn. 36 und 40.
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2. Hiervon ausgehend unterliegt die Richtigkeit des angefochtenen Urteils keinen ernstlichen Zweifeln. Das Verwaltungsgericht hat die Klage der Kläger, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 13. Februar 2014 zu verpflichten, ihnen eine Genehmigung zur Errichtung einer Gehwegüberfahrt (durch Absenken des Bordsteins) zu ihrem Grundstück A.----straße 71 in L. -I. zu erteilen, zu Recht abgewiesen. Die Beurteilung erster Instanz, die behördliche Entscheidung sei ermessensgerecht und verletze die Kläger nicht im Sinne des § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO in ihren Rechten, kann nicht beanstandet werden.
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Das Zulassungsvorbringen der Kläger - Begründung des Zulassungsantrages vom 21. Dezember 2015 und nachgereichte Schriftsätze vom 24. Februar 2016, vom 12. April 2016, vom 10. Mai 2016, vom 13. Februar 2017 sowie vom 9. Juni 2017 - rechtfertigt keine abweichende Sichtweise. Hierzu hat der Senat im Einzelnen erwogen:
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a) Die Kläger benötigen, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat und was die Kläger selbst nicht in Zweifel ziehen, zur Errichtung einer Gehwegüberfahrt zu einem Stellplatz auf ihrem Wohnhausgrundstück eine Sondernutzungserlaubnis nach § 18 Abs. 1 StrWG NRW. Geplant ist ein Absenken des Bordsteins, womit in den Straßenkörper eingegriffen würde, was nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 14a Abs. 1, letzter Halbsatz StrWG NRW nicht mehr vom Anliegergebrauch gedeckt wäre.
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Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 16. Juni 2014 - 11 A 1097/12 -, NWVBl. 2015, 73 (76) = juris, Rn. 69 ff.
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b) Die erforderliche Sondernutzungserlaubnis wird auf Grund einer Ermessensentscheidung erteilt. Die behördliche Ermessensausübung hat sich nach der ständigen Rechtsprechung des Senats an Gründen zu orientieren, die einen sachlichen Bezug zur Straße haben. Zu diesen Gründen können insbesondere zählen ein einwandfreier Straßenzustand (Schutz des Straßengrundes und des Zubehörs), die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, der Ausgleich zeitlich und örtlich gegenläufiger Interessen verschiedener Straßenbenutzer und Straßenanlieger (etwa Schutz vor Abgasen, Lärm oder sonstigen Störungen) oder Belange des Straßen- und Stadtbildes, d. h. baugestalterische oder städtebauliche Vorstellungen mit Bezug zur Straße und auf Grund eines konkreten Gestaltungskonzeptes (Vermeidung einer "Übermöblierung" des öffentlichen Straßenraumes, Schutz eines bestimmten Straßen- oder Platzbildes und Ähnliches). Auch die Erwägung, dass der ohnehin knappe Parkraum nicht noch weiter eingeschränkt werden solle, kann einen sachgerechten straßenbezogenen Ablehnungsgrund darstellen.
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Vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 16. Juni 2014 - 11 A 1097/12 -, NWVBl. 2015, 73 (76) = juris, Rn. 78 f.
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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann die Begründung der Beklagten in dem angegriffenen Bescheid, keine (weiteren) Grundstücksüberfahrten (mehr) zu genehmigen, weil hierdurch zusätzlich zu den bereits bestehenden Gehwegüberfahrten eine fortschreitende Einschränkung der öffentlichen Stellplätze entstünde, was eine erhebliche Verschlechterung der öffentlichen Parkraumsituation darstellen würde, im Grundsatz nicht beanstandet werden. Denn diese Erwägungen haben einen konkreten Bezug zu den Aspekten der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, zu dem auch der ruhende Verkehr - d. h. das Parken - gehört, sowie zur Abwägung der widerstreitenden Interessen der Anlieger und sonstiger Benutzer der Straße.
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Entgegen der Auffassung der Kläger ist die Abkehr der Beklagten von der Praxis, in früheren Jahren im Einzelfall die Genehmigung zur Herstellung einer Bordsteinabsenkung zu erteilen, rechtlich bedenkenfrei. Eine durch früheres Verwaltungshandeln eingetretene Selbstbindung der Verwaltung kann durch Umstellung der Verwaltungspraxis ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG für die Zukunft aus sachgerechten Erwägungen wieder aufgehoben werden.
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Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. April 1997 - 3 C 6.95 -, BVerwGE 104, 220 (223), = juris, Rn. 20, und Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 8. Aufl. 2014, § 40 Rn. 123 f., jeweils m. w. N.
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Die vorstehend bereits wiedergegebenen Erwägungen, keine weiteren Genehmigungen für Gehwegüberfahrten zu erteilen, um die verkehrliche Situation sowie die Stellplatzproblematik im maßgebenden Bereich der A.----straße nicht weiter zu verschärfen, lassen eine willkürliche Abkehr von der früheren Handhabung nicht erkennen. Denn nach der letzten Genehmigung im Jahr 2011 sind ebenso wie im Fall der Kläger nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagten im Jahr 2012 zwei weitere Anträge abgelehnt worden. Dass die Beklagte abweichend hiervon in dem Bereich des Seitenarms der A.----straße , an dem das Grundstück der Kläger liegt, weitere Bordsteinabsenkungen zugelassen hätte, haben die Kläger nicht geltend gemacht. Soweit die Kläger mit Schriftsätzen vom 12. April 2016 und vom 10. Mai 2016 auf Zufahrten zu bauaufsichtlich genehmigten Garagen an der Buschfeldstraße verweisen, ist wegen eines anderen räumlichen Zusammenhangs kein vergleichbarer Sachverhalt gegeben, so dass sich die Kläger insoweit auch nicht auf den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG berufen können. Denn die Beklagte hat bei dem hier zu überprüfenden Verwaltungshandeln zutreffend immer nur die nähere Umgebung der A.----straße an dem in Rede stehenden Seitenarm in ihre Ermessenserwägungen einbezogen.
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c) Das erstmals in der Begründung des Zulassungsantrags mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2015 vorgetragene Argument, „dass beide Kläger schwerbehindert sind, wobei bei der Klägerin zu 1) eine 50 %-ige Behinderung vorhanden ist und bei dem Kläger zu 2) eine 30 %-ige Behinderung“, rechtfertigt keine abweichende Entscheidung.
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Zwar können im Grundsatz mit einem auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützten Zulassungsantrag auch solche nach materiellem Recht entscheidungserhebliche Tatsachen vorgetragen werden, die erst nach Erlass der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung eingetreten sind.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. November 2002 - 7 AV 4.02 -, = juris, Rn. 4 f.
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Unabhängig von der Frage, ob die Kläger das nunmehr vorgetragene Argument nicht bereits im Verfahren erster Instanz hätten vortragen können, führt die angegebene „Schwerbehinderung“ der Kläger aber auch nach materiellem Recht zu keiner Ermessensreduzierung der Beklagten mit dem von den Klägern erwünschten Ergebnis.
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Zunächst fehlt es neben der bloßen Behauptung des Vorliegens einer „Schwerbehinderung“ - Belege hierzu wurden nicht vorgelegt - auch an einem hinreichend plausiblen Vortrag, dass eine Schwerbehinderung, die auf ganz unterschiedlichen Gründen beruhen kann, speziell Auswirkungen auf die Mobilität der Kläger hat. Darüber hinaus kann allenfalls bei der Klägerin zu 1. eine Schwerbehinderung im rechtlichen Sinne gegeben sein, nicht aber beim Kläger zu 2. Denn Menschen sind nur dann schwerbehindert, wenn bei ihnen gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt.
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Im Übrigen würde im konkreten Einzelfall ein Grad der Behinderung von 50 keine Auswirkungen auf die Ermessensentscheidung nach § 18 StrWG NRW haben. Zwar hat die Straßenbaubehörde bei der Wahrnehmung der Straßenbaulast die Belange von Menschen mit Behinderung und anderer Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigung mit dem Ziel zu berücksichtigen, möglichst weitgehende Barrierefreiheit zu erreichen (vgl. § 9 Abs. 2 Satz 2 StrWG NRW). Darüber hinaus soll - im umgekehrten Fall - nach § 18 Abs. 1 Satz 4 StrWG NRW eine Sondernutzungserlaubnis nicht erteilt werden, wenn Menschen mit Behinderung durch die Sondernutzung in der Ausübung des Gemeingebrauchs erheblich beeinträchtigt werden. Diese rechtlichen Maßstäbe führen allerdings nicht zu einer Ermessensreduzierung der Beklagten. Im Grundsatz haben die Kläger nämlich keinen Anspruch darauf, dass der Straßenbaulastträger die Straßenbaulast in einer bestimmten Art und Weise ausübt. Etwaige Behinderungen bzw. Mobilitätsbeeinträchtigungen könnten im Einzelfall bei einem Anspruch auf Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis allenfalls dann zu einer Ermessensreduzierung (auf Null) führen, wenn - mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung - auch eine straßenverkehrsrechtlich bedeutsame erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr besteht, wie sie auch im Sozialrecht für einen Anspruch auf unentgeltliche Beförderung vorgesehen ist. Dies ist nur bei schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 80 gegeben (vgl. § 146 SGB IX). Für diese Auslegung sprechen auch die Erläuterungen zu Zeichen 314 der StVO, die auf eine außergewöhnliche Gehbehinderung abstellen.
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d) Das vorstehend Dargelegte gilt im Ergebnis auch, soweit die Kläger erstmals in der Begründung des Zulassungsantrages die Absicht vorgetragen haben, sich ein Elektrofahrzeug anschaffen zu wollen, und in nachgereichten Schriftsätzen die weitere Umsetzung dieses Vorhabens erläutert haben. Denn die Absicht, dieses Fahrzeug an einer am Wohnhaus installierten Ladestation aufzuladen, zeigt ebenso wenig auf, dass nach materiellem Recht die Ermessensbetätigung der Beklagten nur bei Erteilung der beantragten Genehmigung rechtmäßig wäre. Die Kläger stehen insoweit anderen Bürgern ohne unmittelbar auf ihrem Grundstück gelegener Parkmöglichkeit gleich, welche die Batterien ihres Elektrofahrzeugs nicht direkt an ihrem Haus aufladen können, sondern hierzu eine öffentlich zugängliche Ladestation aufsuchen müssen. Zudem können die Kläger, sollte ein öffentlicher Parkplatz vor ihrem Grundstück oder in dessen unmittelbaren Umgebung frei sein, ein Elektrofahrzeug auch über das Ladekabel und - so erforderlich - ein erhältliches Verlängerungskabel gegebenenfalls mit eingebauter Diebstahlsicherung wieder aufladen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO, 100 ZPO.
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist nunmehr rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).