13.12.2017 · IWW-Abrufnummer 198361
Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 29.11.2017 – C-214/16
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)
29. November 2017(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Art. 7 – Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub, die am Ende des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird – Nationale Regelung, die einen Arbeitnehmer dazu verpflichtet, seinen Jahresurlaub zu nehmen, ohne dass die Bezahlung für diesen Urlaub festgelegt ist“
In der Rechtssache C‑214/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2016, in dem Verfahren
Conley King
gegen
The Sash Window Workshop Ltd,
Richard Dollar
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn King, vertreten durch C. Gilroy-Scott, Solicitor, A. Dashwood, QC, und J. Williams, Barrister,
– der The Sash Window Workshop Ltd und von Herrn Dollar, vertreten durch M. Pilgerstorfer, Barrister, beauftragt von J. Potts, Solicitor,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Simmons als Bevollmächtigte im Beistand von C. Banner, Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2017
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Conley King und seinem früheren Arbeitgeber, der The Sash Window Workshop Ltd und Herrn Dollar (im Folgenden: Sash WW), wegen der von Herrn King geforderten finanziellen Vergütung für in den Jahren 1999 bis 2012 nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.
Rechtlicher Rahmen
Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation
3
Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung) lautet:
„Der in Artikel 8 Absatz 2 dieses Übereinkommens erwähnte ununterbrochene Teil des bezahlten Jahresurlaubs ist spätestens ein Jahr und der übrige Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens achtzehn Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, zu gewähren und zu nehmen.“
4
Das Übereinkommen wurde von 37 Staaten ratifiziert, zu denen das Vereinigte Königreich nicht gehört.
Unionsrecht
5
Im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; …“
6
Art. 1 der Richtlinie definiert deren Gegenstand und Anwendungsbereich. Er bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.
(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind
a) … der Mindestjahresurlaub …
…“
7
Art. 7 der Richtlinie lautet:
„Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
8
Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Im Hinblick auf ihren Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist keine Abweichung erlaubt.
Recht des Vereinigten Königreichs
9
Die Richtlinie 2003/88 wurde durch die Working Time Regulations 1998 (Verordnung über die Arbeitszeit von 1998) in geänderter Fassung (im Folgenden: Verordnung von 1998) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt.
10
Regulation 13 der Verordnung von 1998 begründet den Anspruch des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub. In Abs. 1 heißt es:
,,[Ein] Arbeitnehmer [hat] Anspruch auf vier Wochen Jahresurlaub pro Bezugszeitraum.“
11
Regulation 13(9) dieser Verordnung sieht vor:
„Urlaub, auf den ein Arbeitnehmer nach dieser Regulation Anspruch hat, kann in Abschnitten genommen werden, jedoch
(a) kann er nur in dem Bezugszeitraum genommen werden, in dem er zu gewähren ist, und
(b) darf er nicht durch eine Zahlung ersetzt werden, es sei denn, das Beschäftigungsverhältnis des Arbeitnehmers wird beendet.“
12
Regulation 16 der Verordnung regelt den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers während des Jahresurlaubs. In Abs. 1 dieser Vorschrift heißt es:
,,Für jeden Zeitabschnitt des Jahresurlaubs, auf den ein Arbeitnehmer nach Regulation 13 Anspruch hat, hat er Anspruch auf das wöchentliche Arbeitsentgelt bezogen auf die jeweilige Urlaubswoche.“
13
Regulation 30(1) der Verordnung von 1998 gewährt dem Arbeitnehmer folgendes Recht:
,,(1) Ein Arbeitnehmer kann bei einem Employment Tribunal [(Arbeitsgericht)] Beschwerde mit der Begründung erheben, dass sein Arbeitgeber
(a) ihm die Geltendmachung eines Anspruchs verwehrt hat, der ihm zusteht nach
(i) Regulation e… 13(1);
… oder
b) einen ihm nach der Regulation … 16(1) zustehenden Betrag ganz oder teilweise nicht gezahlt hat.
(2) Ein Employment Tribunal [(Arbeitsgericht)] prüft eine Beschwerde nach dieser Regulation nur, wenn sie erhoben wird
(a) vor Ende des Zeitraums von drei Monaten …, der mit dem Tag beginnt, an dem die Geltendmachung des Anspruchs dem Vorbringen nach hätte erlaubt werden müssen (oder im Fall von mehr als eintägigen Ruhe- oder Urlaubszeiten mit dem Tag, an dem die betreffenden Zeiten hätten beginnen müssen) bzw. die Zahlung hätte erfolgen müssen;
(b) innerhalb eines weiteren Zeitraums, den das Gericht für angemessen erachtet, falls es zu der Überzeugung gelangt, dass die Erhebung der Beschwerde vor Ablauf des Zeitraums von drei bzw. sechs Monaten bei billiger Betrachtung nicht praktisch möglich war.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14
Herr King arbeitete für Sash WW vom 1. Juni 1999 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand am 6. Oktober 2012 auf der Basis eines „Selbständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision“. Gemäß diesem Vertrag erhielt Herr King ausschließlich Provisionen. Für genommenen Jahresurlaub erhielt er keine Bezahlung.
15
Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte Herr King von seinem Arbeitgeber die Zahlung einer Vergütung sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten, als auch für nicht genommenen Jahresurlaub für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung, d. h. für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis zum 6. Oktober 2012. Sash WW wies diese Forderung mit der Begründung zurück, dass Herr King Selbständiger gewesen sei.
16
Herr King erhob Klage beim zuständigen Employment Tribunal (Arbeitsgericht, Vereinigtes Königreich). Dieses unterschied drei Kategorien von Jahresurlaub, die unstreitig nicht vergütet worden waren:
– „Urlaubsvergütung 1“: Urlaub, der erworben, aber zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses während des letzten Bezugsjahrs (2012/2013) nicht genommen worden war;
– „Urlaubsvergütung 2“: Urlaub, der zwischen 1999 und 2012 tatsächlich genommen, aber nicht vergütet wurde;
– „Urlaubsvergütung 3“: Urlaub, der Herrn King für seine gesamte Beschäftigungszeit zustand, den er aber nicht genommen hatte, insgesamt 24,15 Wochen.
17
Das Employment Tribunal (Arbeitsgericht) stellte in seiner Entscheidung fest, dass Herr King Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie 2003/88 sei und einen Anspruch auf die geforderten drei Arten von Vergütung für bezahlten Jahresurlaub habe.
18
Sash WW legte gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Employment Appeal Tribunal (Berufungsgericht in Arbeitssachen, Vereinigtes Königreich) ein. Dieses gab dem Rechtsmittel statt und verwies die Sache an das Employment Tribunal (Arbeitsgericht) zurück. Gegen diese Entscheidung legte Herr King ein Rechtsmittel und Sash WW ein Anschlussrechtsmittel ein.
19
Vor dem vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen]) ist nunmehr unstreitig, dass Herr King „Arbeitnehmer“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist und Anspruch auf die „Urlaubsvergütungen 1 und 2“ hat.
20
In Bezug auf die „Urlaubsvergütung 3“ macht Sash WW geltend, dass Herr King nach Regulation 13(9)(a) der Verordnung von 1998 nicht berechtigt gewesen sei, Zeiten nicht genommenen Jahresurlaubs auf ein neues Bezugsjahr zu übertragen. Da er keine Beschwerde gemäß Regulation 30(1)(a) dieser Verordnung eingelegt habe, habe Herr King insoweit jegliche Ansprüche in Bezug auf seinen Jahresurlaub verloren, als ein Antrag auf eine Vergütung für in den fraglichen Bezugsjahren nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verfristet sei.
21
Herr King ist dagegen der Auffassung, dass seine Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, den er deshalb nicht genommen habe, weil der Arbeitgeber ihn nicht vergütet habe, trotz Regulation 13(9)(a) der Verordnung von 1998 auf das nächste Bezugsjahr und anschließend bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses jeweils auf das nachfolgende Jahr übertragen worden seien. Unter Berufung auf das Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), macht Herr King geltend, dass der Anspruch auf eine Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub erst am Ende des Arbeitsverhältnisses entstanden und seine Klage damit fristgerecht erhoben worden sei.
22
Das vorlegende Gericht, das feststellt, dass das Recht des Vereinigten Königreichs eine Übertragung von Jahresurlaub über den Bezugszeitraum, für den der Urlaub gewährt sei, hinaus nicht zulasse und nicht unbedingt einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorsehe, ist nicht sicher, wie das für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits maßgebliche Unionsrecht auszulegen ist.
23
Hierzu führt es insbesondere aus, dass der Fall einer Übertragung von bezahltem Jahresurlaub, der wegen der Weigerung des Arbeitgebers, ihn zu vergüten, nicht genommen worden sei, anders zu beurteilen sein könnte als wenn es um Jahresurlaub gehe, den der Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen nicht genommen habe. Die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts seien vom Gerichtshof aber nur im Zusammenhang mit der letzteren Situation ausgelegt worden.
24
Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:
1. Ist es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88 hat, mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfs vereinbar, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung hat?
2. Wenn der Arbeitnehmer den ihm zustehenden Jahresurlaub in dem Bezugszeitraum, in dem ein Anspruch auszuüben ist, ganz oder teilweise nicht nimmt, den Urlaub aber genommen hätte, wenn nicht der Arbeitgeber die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, kann dann der Arbeitnehmer geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert ist, so dass der Anspruch so lange übertragen wird, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hat?
3. Wenn der Anspruch übertragen wird, erfolgt die Übertragung dann zeitlich unbegrenzt oder gilt ein begrenzter Zeitraum für die Ausübung des übertragenen Anspruchs in Entsprechung zu den Grenzen, die vorgesehen sind, wenn der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch im betreffenden Bezugszeitraum wegen Krankheit nicht ausüben kann?
4. Wenn es keine gesetzliche oder vertragliche Bestimmung zur Festlegung eines Übertragungszeitraums gibt, ist dann das Gericht zur Festsetzung einer Grenze für den Übertragungszeitraum verpflichtet, um sicherzustellen, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften über die Arbeitszeit nicht den mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verfolgten Zweck verfälscht?
5. Ist in diesem Fall ein Zeitraum von 18 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahrs, in dem der Urlaub erworben wurde, mit dem Anspruch aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vereinbar?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
25
Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts am 8. Juni 2017 hat Herr King mit Schriftsatz, der am 19. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Dabei stützt er sich im Wesentlichen darauf, dass die Schlussanträge des Generalanwalts ein Missverständnis in Bezug auf einen ihm im Laufe des Jahres 2008 angebotenen Arbeitsvertrag enthielten.
26
Hierzu ist festzustellen, dass der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe hat, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Schlussanträge des Generalanwalts oder ihre Begründung binden den Gerichtshof nicht (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C‑126/16, EU:C:2017:489, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27
Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C‑33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 26).
28
Allerdings sieht Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vor, dass dieser jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
29
Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Gerichtshof ist nämlich nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle Angaben verfügt, die für seine Entscheidung erforderlich sind.
30
Unter diesen Umständen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
31
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen sind, dass sie es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der erstgenannten Vorschrift hat, verbieten, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub zunächst nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat.
32
Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass jeder Arbeitnehmer, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt – einer Bestimmung, von der diese Richtlinie keine Abweichung zulässt –, Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33
Zweitens ist festzustellen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 37).
34
Drittens ergibt sich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 28).
35
Viertens geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenfalls hervor, dass die Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt. Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl. Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Arbeitnehmer, wenn er seinen Jahresurlaub nimmt, das Entgelt erhalten können muss, auf das er gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 Anspruch hat.
37
Der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub liegt nämlich darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen (vgl. u. a. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25, und vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 25).
38
Jedoch wäre, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen darlegt, ein Arbeitnehmer, der mit Umständen konfrontiert ist, die geeignet sind, während seines Jahresurlaubs Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auszulösen, nicht in der Lage, diesen Urlaub voll und ganz als Zeitraum für Entspannung und Freizeit gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu genießen.
39
Solche Umstände können den Arbeitnehmer außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Insoweit ist festzustellen, dass auch jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40
In diesem Zusammenhang kann die Wahrung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs in seinen schriftlichen Erklärungen nicht von einer Tatsachenwürdigung der finanziellen Lage abhängen, in der sich der betreffende Arbeitnehmer zu dem Zeitpunkt befindet, zu dem er den Urlaub nimmt.
41
Was die Rechtswege betrifft, die dem Arbeitnehmer im Fall einer Streitigkeit mit dem Arbeitgeber offenstehen müssen, um seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der Richtlinie 2003/88 geltend machen zu können, so enthält diese Richtlinie zwar hierzu keinerlei Bestimmungen. Es steht jedoch fest, dass die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang die Beachtung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisten müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 46).
42
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub im Vereinigten Königreich durch zwei verschiedene Regulations der Verordnung von 1998 umgesetzt wird, nämlich zum einen Regulation 13 der Verordnung, die einen Anspruch auf Jahresurlaub vorsieht, und zum anderen Regulation 16 der Verordnung, die den Anspruch auf Bezahlung dieses Urlaubs begründet. Derselben Logik folgend erkennt Regulation 30(1) dieser Verordnung dem Arbeitnehmer das Recht auf zwei gerichtliche Rechtsbehelfe („claims“) zu. Dieser kann ein Gericht anrufen, um entweder die Weigerung seines Arbeitgebers, ihm den ihm nach Regulation 13 zustehenden Anspruch auf Jahresurlaub zu gewähren, anzufechten oder geltend zu machen, dass sein Arbeitgeber ihm seinen Urlaub entgegen Regulation 16 nicht oder teilweise nicht bezahlt hat.
43
In Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Employment Appeal Tribunal (Berufungsgericht in Arbeitssachen) diese Bestimmungen dahin ausgelegt hat, dass ein Arbeitnehmer erstens einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf Jahresurlaub gemäß Regulation 13 der Verordnung von 1998 nur geltend machen könne, soweit sein Arbeitgeber ihn überhaupt keinen Urlaub – bezahlt oder unbezahlt – nehmen lasse, und zweitens auf der Grundlage von Regulation 16 der Verordnung die Bezahlung nur für tatsächlich genommenen Urlaub beanspruchen könne.
44
Diese Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsbehelfe führt aber in dem Fall, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nur unbezahlten Urlaub gewährt, zu dem Ergebnis, dass sich der Arbeitnehmer vor Gericht nicht auf seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub als solchen berufen kann. Er wäre zunächst gezwungen, unbezahlten Urlaub zu nehmen und dann dessen Bezahlung einzuklagen.
45
Ein solches Ergebnis ist mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 aus den in den Rn. 36 bis 40 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen nicht vereinbar.
46
Erst recht macht eine Auslegung der nationalen Rechtsbehelfe in dem in Rn. 43 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sinne es einem Arbeitnehmer in der Lage von Herrn King unmöglich, sich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf einen Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 wegen geschuldeten, aber nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs zu berufen, um die in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie genannte Vergütung zu erhalten. Einem Arbeitnehmer wie dem Kläger des Ausgangsverfahrens wird damit ein wirksamer Rechtsbehelf vorenthalten.
47
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen sind, dass sie es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der erstgenannten Vorschrift hat, verbieten, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub zunächst nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat.
Zu den Fragen zwei bis fünf
48
Mit seinen Fragen zwei bis fünf, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln.
49
Zur Beantwortung der gestellten Fragen ist insoweit darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, insbesondere in seinem Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), bereits über Fragen zu entscheiden hatte, die den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers betrafen, der seinen Urlaubsanspruch aus von seinem Willen unabhängigen Gründen, nämlich wegen Krankheit, bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses nicht ausüben konnte.
50
Im vorliegenden Fall hat Herr King seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aber gerade aus von seinem Willen unabhängigen Gründen vor seinem Eintritt in den Ruhestand nicht ausgeübt. Insoweit ist klarzustellen, dass es für die Beantwortung der vorliegenden Vorabentscheidungsfragen unerheblich ist, ob der Betroffene zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Vertragsverhältnisses mit seinem Arbeitgeber einen anderen Vertrag hätte annehmen können, der einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vorsah. Der Gerichtshof hat nämlich das Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen, wie es bestand und – aus welchem Grund auch immer – bis zum Eintritt von Herrn King in den Ruhestand fortdauerte, ohne dass dieser seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ausüben konnte.
51
Somit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/88 es den Mitgliedstaaten weder erlaubt, die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auszuschließen, noch vorzusehen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines an der Ausübung dieses Anspruchs gehinderten Arbeitnehmers nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums erlischt (Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52
Darüber hinaus geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Arbeitnehmer, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, Anspruch auf eine finanzielle Vergütung gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 hat. Diese Vergütung ist in der Weise zu berechnen, dass der Arbeitnehmer so gestellt wird, als hätte er den Urlaubsanspruch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses ausgeübt (Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 61).
53
Zweitens ist festzustellen, dass in den Rechtssachen, in denen die Urteile des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ergangen sind, die betreffenden Arbeitnehmer wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten an der Ausübung ihres Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gehindert waren.
54
In diesem besonderen Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass es nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entsprechen würde, wenn ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, berechtigt wäre, unbegrenzt alle während des Zeitraums seiner Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 29 und 30).
55
Unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, hat der Gerichtshof also mit Blick nicht nur auf den Schutz des Arbeitnehmers, den die Richtlinie 2003/88 bezweckt, sondern auch auf den des Arbeitgebers, der sich der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können, ausgesetzt sieht, entschieden, dass Art. 7 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 38, 39 und 44).
56
Hieraus folgt, dass drittens zu prüfen ist, ob Umstände wie die im Ausgangsrechtsstreit gegebenen „besondere“ Umstände im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung sind, so dass sie – ebenso wie eine längere Abwesenheit des Arbeitnehmers wegen Krankschreibung – eine Ausnahme von dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und in Art. 31 Abs. 2 der Charta aufgestellten Grundsatz rechtfertigen, wonach ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen.
57
In diesem Zusammenhang ist auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen.
58
Erstens darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 29). Abweichungen von der Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung müssen daher so ausgelegt werden, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2010, Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59
Unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erscheint aber ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht zwingend notwendig und vermag daher ein Abweichen vom Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nicht zu rechtfertigen.
60
Es ist nämlich festzustellen, dass die Beurteilung des Anspruchs eines Arbeitnehmers wie Herr King auf bezahlten Jahresurlaub nicht mit einer Situation in Zusammenhang steht, in der sein Arbeitgeber mit Abwesenheitszeiten von Herrn King konfrontiert gewesen wäre, aus denen sich – wie bei einer Krankschreibung von langer Dauer – Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation ergeben hätten. Der Arbeitgeber konnte vielmehr bis zum Eintritt seines Arbeitnehmers in den Ruhestand davon profitieren, dass dieser seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen hat, um bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.
61
Zweitens ist der Umstand, dass Sash WW irrtümlich davon ausging, dass Herr King keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub habe, selbst dann unerheblich, wenn er erwiesen wäre. Es obliegt nämlich dem Arbeitgeber, sich umfassend m über seine Verpflichtungen in diesem Bereich zu informieren.
62
Wie sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ergibt, darf nicht bereits die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von irgendeiner Voraussetzung abhängig gemacht werden, da dieser Anspruch dem Arbeitnehmer unmittelbar durch die Richtlinie 2003/88 verliehen wird. Somit ist es, was das Ausgangsverfahren betrifft, irrelevant, ob Herr King im Laufe der Jahre bezahlten Jahresurlaub beantragt hat oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2014, Bollacke, C‑118/13, EU:C:2014:1755, Rn. 27 und 28).
63
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat.
64
Drittens darf unter solchen Umständen, wenn es keine nationale gesetzliche oder vertragliche Vorschrift gibt, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761 und vom 3. Mai 2012, Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263), die in der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung nicht restriktiv ausgelegt werden. Ließe man unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde man damit nämlich im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft.
65
Nach alledem ist auf die Fragen zwei bis fünf zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln.
Kosten
66
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
29. November 2017(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Art. 7 – Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub, die am Ende des Arbeitsverhältnisses gezahlt wird – Nationale Regelung, die einen Arbeitnehmer dazu verpflichtet, seinen Jahresurlaub zu nehmen, ohne dass die Bezahlung für diesen Urlaub festgelegt ist“
In der Rechtssache C‑214/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 18. April 2016, in dem Verfahren
Conley King
gegen
The Sash Window Workshop Ltd,
Richard Dollar
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits (Berichterstatter) und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger und des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: E. Tanchev,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. März 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn King, vertreten durch C. Gilroy-Scott, Solicitor, A. Dashwood, QC, und J. Williams, Barrister,
– der The Sash Window Workshop Ltd und von Herrn Dollar, vertreten durch M. Pilgerstorfer, Barrister, beauftragt von J. Potts, Solicitor,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Simmons als Bevollmächtigte im Beistand von C. Banner, Barrister,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und J. Tomkin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Juni 2017
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).
2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Conley King und seinem früheren Arbeitgeber, der The Sash Window Workshop Ltd und Herrn Dollar (im Folgenden: Sash WW), wegen der von Herrn King geforderten finanziellen Vergütung für in den Jahren 1999 bis 2012 nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.
Rechtlicher Rahmen
Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation
3
Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Juni 1970 über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung) lautet:
„Der in Artikel 8 Absatz 2 dieses Übereinkommens erwähnte ununterbrochene Teil des bezahlten Jahresurlaubs ist spätestens ein Jahr und der übrige Teil des bezahlten Jahresurlaubs spätestens achtzehn Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Urlaubsanspruch erworben wurde, zu gewähren und zu nehmen.“
4
Das Übereinkommen wurde von 37 Staaten ratifiziert, zu denen das Vereinigte Königreich nicht gehört.
Unionsrecht
5
Im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„Hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung ist den Grundsätzen der Internationalen Arbeitsorganisation Rechnung zu tragen; …“
6
Art. 1 der Richtlinie definiert deren Gegenstand und Anwendungsbereich. Er bestimmt:
„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.
(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind
a) … der Mindestjahresurlaub …
…“
7
Art. 7 der Richtlinie lautet:
„Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“
8
Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Im Hinblick auf ihren Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist keine Abweichung erlaubt.
Recht des Vereinigten Königreichs
9
Die Richtlinie 2003/88 wurde durch die Working Time Regulations 1998 (Verordnung über die Arbeitszeit von 1998) in geänderter Fassung (im Folgenden: Verordnung von 1998) in das Recht des Vereinigten Königreichs umgesetzt.
10
Regulation 13 der Verordnung von 1998 begründet den Anspruch des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub. In Abs. 1 heißt es:
,,[Ein] Arbeitnehmer [hat] Anspruch auf vier Wochen Jahresurlaub pro Bezugszeitraum.“
11
Regulation 13(9) dieser Verordnung sieht vor:
„Urlaub, auf den ein Arbeitnehmer nach dieser Regulation Anspruch hat, kann in Abschnitten genommen werden, jedoch
(a) kann er nur in dem Bezugszeitraum genommen werden, in dem er zu gewähren ist, und
(b) darf er nicht durch eine Zahlung ersetzt werden, es sei denn, das Beschäftigungsverhältnis des Arbeitnehmers wird beendet.“
12
Regulation 16 der Verordnung regelt den Entgeltanspruch des Arbeitnehmers während des Jahresurlaubs. In Abs. 1 dieser Vorschrift heißt es:
,,Für jeden Zeitabschnitt des Jahresurlaubs, auf den ein Arbeitnehmer nach Regulation 13 Anspruch hat, hat er Anspruch auf das wöchentliche Arbeitsentgelt bezogen auf die jeweilige Urlaubswoche.“
13
Regulation 30(1) der Verordnung von 1998 gewährt dem Arbeitnehmer folgendes Recht:
,,(1) Ein Arbeitnehmer kann bei einem Employment Tribunal [(Arbeitsgericht)] Beschwerde mit der Begründung erheben, dass sein Arbeitgeber
(a) ihm die Geltendmachung eines Anspruchs verwehrt hat, der ihm zusteht nach
(i) Regulation e… 13(1);
… oder
b) einen ihm nach der Regulation … 16(1) zustehenden Betrag ganz oder teilweise nicht gezahlt hat.
(2) Ein Employment Tribunal [(Arbeitsgericht)] prüft eine Beschwerde nach dieser Regulation nur, wenn sie erhoben wird
(a) vor Ende des Zeitraums von drei Monaten …, der mit dem Tag beginnt, an dem die Geltendmachung des Anspruchs dem Vorbringen nach hätte erlaubt werden müssen (oder im Fall von mehr als eintägigen Ruhe- oder Urlaubszeiten mit dem Tag, an dem die betreffenden Zeiten hätten beginnen müssen) bzw. die Zahlung hätte erfolgen müssen;
(b) innerhalb eines weiteren Zeitraums, den das Gericht für angemessen erachtet, falls es zu der Überzeugung gelangt, dass die Erhebung der Beschwerde vor Ablauf des Zeitraums von drei bzw. sechs Monaten bei billiger Betrachtung nicht praktisch möglich war.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14
Herr King arbeitete für Sash WW vom 1. Juni 1999 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand am 6. Oktober 2012 auf der Basis eines „Selbständigen-Vertrags ausschließlich gegen Provision“. Gemäß diesem Vertrag erhielt Herr King ausschließlich Provisionen. Für genommenen Jahresurlaub erhielt er keine Bezahlung.
15
Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verlangte Herr King von seinem Arbeitgeber die Zahlung einer Vergütung sowohl für genommenen, aber nicht bezahlten, als auch für nicht genommenen Jahresurlaub für den gesamten Zeitraum seiner Beschäftigung, d. h. für die Zeit vom 1. Juni 1999 bis zum 6. Oktober 2012. Sash WW wies diese Forderung mit der Begründung zurück, dass Herr King Selbständiger gewesen sei.
16
Herr King erhob Klage beim zuständigen Employment Tribunal (Arbeitsgericht, Vereinigtes Königreich). Dieses unterschied drei Kategorien von Jahresurlaub, die unstreitig nicht vergütet worden waren:
– „Urlaubsvergütung 1“: Urlaub, der erworben, aber zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses während des letzten Bezugsjahrs (2012/2013) nicht genommen worden war;
– „Urlaubsvergütung 2“: Urlaub, der zwischen 1999 und 2012 tatsächlich genommen, aber nicht vergütet wurde;
– „Urlaubsvergütung 3“: Urlaub, der Herrn King für seine gesamte Beschäftigungszeit zustand, den er aber nicht genommen hatte, insgesamt 24,15 Wochen.
17
Das Employment Tribunal (Arbeitsgericht) stellte in seiner Entscheidung fest, dass Herr King Arbeitnehmer im Sinne der Richtlinie 2003/88 sei und einen Anspruch auf die geforderten drei Arten von Vergütung für bezahlten Jahresurlaub habe.
18
Sash WW legte gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel beim Employment Appeal Tribunal (Berufungsgericht in Arbeitssachen, Vereinigtes Königreich) ein. Dieses gab dem Rechtsmittel statt und verwies die Sache an das Employment Tribunal (Arbeitsgericht) zurück. Gegen diese Entscheidung legte Herr King ein Rechtsmittel und Sash WW ein Anschlussrechtsmittel ein.
19
Vor dem vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen]) ist nunmehr unstreitig, dass Herr King „Arbeitnehmer“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist und Anspruch auf die „Urlaubsvergütungen 1 und 2“ hat.
20
In Bezug auf die „Urlaubsvergütung 3“ macht Sash WW geltend, dass Herr King nach Regulation 13(9)(a) der Verordnung von 1998 nicht berechtigt gewesen sei, Zeiten nicht genommenen Jahresurlaubs auf ein neues Bezugsjahr zu übertragen. Da er keine Beschwerde gemäß Regulation 30(1)(a) dieser Verordnung eingelegt habe, habe Herr King insoweit jegliche Ansprüche in Bezug auf seinen Jahresurlaub verloren, als ein Antrag auf eine Vergütung für in den fraglichen Bezugsjahren nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub verfristet sei.
21
Herr King ist dagegen der Auffassung, dass seine Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, den er deshalb nicht genommen habe, weil der Arbeitgeber ihn nicht vergütet habe, trotz Regulation 13(9)(a) der Verordnung von 1998 auf das nächste Bezugsjahr und anschließend bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses jeweils auf das nachfolgende Jahr übertragen worden seien. Unter Berufung auf das Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), macht Herr King geltend, dass der Anspruch auf eine Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub erst am Ende des Arbeitsverhältnisses entstanden und seine Klage damit fristgerecht erhoben worden sei.
22
Das vorlegende Gericht, das feststellt, dass das Recht des Vereinigten Königreichs eine Übertragung von Jahresurlaub über den Bezugszeitraum, für den der Urlaub gewährt sei, hinaus nicht zulasse und nicht unbedingt einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorsehe, ist nicht sicher, wie das für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits maßgebliche Unionsrecht auszulegen ist.
23
Hierzu führt es insbesondere aus, dass der Fall einer Übertragung von bezahltem Jahresurlaub, der wegen der Weigerung des Arbeitgebers, ihn zu vergüten, nicht genommen worden sei, anders zu beurteilen sein könnte als wenn es um Jahresurlaub gehe, den der Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen nicht genommen habe. Die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts seien vom Gerichtshof aber nur im Zusammenhang mit der letzteren Situation ausgelegt worden.
24
Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) (Berufungsgericht [England und Wales] [Abteilung für Zivilsachen]) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen vorzulegen:
1. Ist es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und einem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88 hat, mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfs vereinbar, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er Anspruch auf Bezahlung hat?
2. Wenn der Arbeitnehmer den ihm zustehenden Jahresurlaub in dem Bezugszeitraum, in dem ein Anspruch auszuüben ist, ganz oder teilweise nicht nimmt, den Urlaub aber genommen hätte, wenn nicht der Arbeitgeber die Vergütung für genommene Urlaubszeiten verweigern würde, kann dann der Arbeitnehmer geltend machen, dass er an der Ausübung seines Anspruchs auf bezahlten Urlaub gehindert ist, so dass der Anspruch so lange übertragen wird, bis der Arbeitnehmer die Möglichkeit zur Ausübung des Anspruchs hat?
3. Wenn der Anspruch übertragen wird, erfolgt die Übertragung dann zeitlich unbegrenzt oder gilt ein begrenzter Zeitraum für die Ausübung des übertragenen Anspruchs in Entsprechung zu den Grenzen, die vorgesehen sind, wenn der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch im betreffenden Bezugszeitraum wegen Krankheit nicht ausüben kann?
4. Wenn es keine gesetzliche oder vertragliche Bestimmung zur Festlegung eines Übertragungszeitraums gibt, ist dann das Gericht zur Festsetzung einer Grenze für den Übertragungszeitraum verpflichtet, um sicherzustellen, dass die Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften über die Arbeitszeit nicht den mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verfolgten Zweck verfälscht?
5. Ist in diesem Fall ein Zeitraum von 18 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahrs, in dem der Urlaub erworben wurde, mit dem Anspruch aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vereinbar?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
25
Nach der Verlesung der Schlussanträge des Generalanwalts am 8. Juni 2017 hat Herr King mit Schriftsatz, der am 19. Juni 2017 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt. Dabei stützt er sich im Wesentlichen darauf, dass die Schlussanträge des Generalanwalts ein Missverständnis in Bezug auf einen ihm im Laufe des Jahres 2008 angebotenen Arbeitsvertrag enthielten.
26
Hierzu ist festzustellen, dass der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV die Aufgabe hat, öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen zu stellen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Schlussanträge des Generalanwalts oder ihre Begründung binden den Gerichtshof nicht (Urteil vom 22. Juni 2017, Federatie Nederlandse Vakvereniging u. a., C‑126/16, EU:C:2017:489, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27
Dass ein Beteiligter nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung rechtfertigt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2015, Mory u. a./Kommission, C‑33/14 P, EU:C:2015:609, Rn. 26).
28
Allerdings sieht Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vor, dass dieser jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.
29
Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Der Gerichtshof ist nämlich nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er über alle Angaben verfügt, die für seine Entscheidung erforderlich sind.
30
Unter diesen Umständen ist das mündliche Verfahren nicht wiederzueröffnen.
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
31
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und das in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen sind, dass sie es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der erstgenannten Vorschrift hat, verbieten, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub zunächst nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat.
32
Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass jeder Arbeitnehmer, wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt – einer Bestimmung, von der diese Richtlinie keine Abweichung zulässt –, Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, dessen Umsetzung durch die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen erfolgen kann, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich vorgesehen sind (Urteil vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33
Zweitens ist festzustellen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 31 Abs. 2 der Charta, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird, ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 37).
34
Drittens ergibt sich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 28).
35
Viertens geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ebenfalls hervor, dass die Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt. Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (vgl. Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Arbeitnehmer, wenn er seinen Jahresurlaub nimmt, das Entgelt erhalten können muss, auf das er gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 Anspruch hat.
37
Der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub liegt nämlich darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen (vgl. u. a. Urteile vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 25, und vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, Rn. 25).
38
Jedoch wäre, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen darlegt, ein Arbeitnehmer, der mit Umständen konfrontiert ist, die geeignet sind, während seines Jahresurlaubs Unsicherheit in Bezug auf das ihm geschuldete Entgelt auszulösen, nicht in der Lage, diesen Urlaub voll und ganz als Zeitraum für Entspannung und Freizeit gemäß Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zu genießen.
39
Solche Umstände können den Arbeitnehmer außerdem davon abhalten, seinen Jahresurlaub zu nehmen. Insoweit ist festzustellen, dass auch jede Praxis oder Unterlassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2014, Lock, C‑539/12, EU:C:2014:351, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40
In diesem Zusammenhang kann die Wahrung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entgegen dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs in seinen schriftlichen Erklärungen nicht von einer Tatsachenwürdigung der finanziellen Lage abhängen, in der sich der betreffende Arbeitnehmer zu dem Zeitpunkt befindet, zu dem er den Urlaub nimmt.
41
Was die Rechtswege betrifft, die dem Arbeitnehmer im Fall einer Streitigkeit mit dem Arbeitgeber offenstehen müssen, um seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der Richtlinie 2003/88 geltend machen zu können, so enthält diese Richtlinie zwar hierzu keinerlei Bestimmungen. Es steht jedoch fest, dass die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang die Beachtung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewährleisten müssen (vgl. entsprechend Urteil vom 15. September 2016, Star Storage u. a., C‑439/14 und C‑488/14, EU:C:2016:688, Rn. 46).
42
Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub im Vereinigten Königreich durch zwei verschiedene Regulations der Verordnung von 1998 umgesetzt wird, nämlich zum einen Regulation 13 der Verordnung, die einen Anspruch auf Jahresurlaub vorsieht, und zum anderen Regulation 16 der Verordnung, die den Anspruch auf Bezahlung dieses Urlaubs begründet. Derselben Logik folgend erkennt Regulation 30(1) dieser Verordnung dem Arbeitnehmer das Recht auf zwei gerichtliche Rechtsbehelfe („claims“) zu. Dieser kann ein Gericht anrufen, um entweder die Weigerung seines Arbeitgebers, ihm den ihm nach Regulation 13 zustehenden Anspruch auf Jahresurlaub zu gewähren, anzufechten oder geltend zu machen, dass sein Arbeitgeber ihm seinen Urlaub entgegen Regulation 16 nicht oder teilweise nicht bezahlt hat.
43
In Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass das Employment Appeal Tribunal (Berufungsgericht in Arbeitssachen) diese Bestimmungen dahin ausgelegt hat, dass ein Arbeitnehmer erstens einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf Jahresurlaub gemäß Regulation 13 der Verordnung von 1998 nur geltend machen könne, soweit sein Arbeitgeber ihn überhaupt keinen Urlaub – bezahlt oder unbezahlt – nehmen lasse, und zweitens auf der Grundlage von Regulation 16 der Verordnung die Bezahlung nur für tatsächlich genommenen Urlaub beanspruchen könne.
44
Diese Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsbehelfe führt aber in dem Fall, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nur unbezahlten Urlaub gewährt, zu dem Ergebnis, dass sich der Arbeitnehmer vor Gericht nicht auf seinen Anspruch auf bezahlten Urlaub als solchen berufen kann. Er wäre zunächst gezwungen, unbezahlten Urlaub zu nehmen und dann dessen Bezahlung einzuklagen.
45
Ein solches Ergebnis ist mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 aus den in den Rn. 36 bis 40 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen nicht vereinbar.
46
Erst recht macht eine Auslegung der nationalen Rechtsbehelfe in dem in Rn. 43 des vorliegenden Urteils beschriebenen Sinne es einem Arbeitnehmer in der Lage von Herrn King unmöglich, sich nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf einen Verstoß gegen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 wegen geschuldeten, aber nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs zu berufen, um die in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie genannte Vergütung zu erhalten. Einem Arbeitnehmer wie dem Kläger des Ausgangsverfahrens wird damit ein wirksamer Rechtsbehelf vorenthalten.
47
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin auszulegen sind, dass sie es im Fall einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber über die Frage, ob der Arbeitnehmer Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gemäß der erstgenannten Vorschrift hat, verbieten, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaub zunächst nehmen muss, ehe er feststellen kann, ob er für diesen Urlaub Anspruch auf Bezahlung hat.
Zu den Fragen zwei bis fünf
48
Mit seinen Fragen zwei bis fünf, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln.
49
Zur Beantwortung der gestellten Fragen ist insoweit darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof, insbesondere in seinem Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18), bereits über Fragen zu entscheiden hatte, die den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines Arbeitnehmers betrafen, der seinen Urlaubsanspruch aus von seinem Willen unabhängigen Gründen, nämlich wegen Krankheit, bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses nicht ausüben konnte.
50
Im vorliegenden Fall hat Herr King seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aber gerade aus von seinem Willen unabhängigen Gründen vor seinem Eintritt in den Ruhestand nicht ausgeübt. Insoweit ist klarzustellen, dass es für die Beantwortung der vorliegenden Vorabentscheidungsfragen unerheblich ist, ob der Betroffene zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Vertragsverhältnisses mit seinem Arbeitgeber einen anderen Vertrag hätte annehmen können, der einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vorsah. Der Gerichtshof hat nämlich das Arbeitsverhältnis zu berücksichtigen, wie es bestand und – aus welchem Grund auch immer – bis zum Eintritt von Herrn King in den Ruhestand fortdauerte, ohne dass dieser seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ausüben konnte.
51
Somit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/88 es den Mitgliedstaaten weder erlaubt, die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub auszuschließen, noch vorzusehen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines an der Ausübung dieses Anspruchs gehinderten Arbeitnehmers nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums erlischt (Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a., C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
52
Darüber hinaus geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass ein Arbeitnehmer, der aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage war, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses auszuüben, Anspruch auf eine finanzielle Vergütung gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 hat. Diese Vergütung ist in der Weise zu berechnen, dass der Arbeitnehmer so gestellt wird, als hätte er den Urlaubsanspruch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses ausgeübt (Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, Rn. 61).
53
Zweitens ist festzustellen, dass in den Rechtssachen, in denen die Urteile des Gerichtshofs zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ergangen sind, die betreffenden Arbeitnehmer wegen krankheitsbedingter Fehlzeiten an der Ausübung ihres Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gehindert waren.
54
In diesem besonderen Zusammenhang hat der Gerichtshof entschieden, dass es nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entsprechen würde, wenn ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, berechtigt wäre, unbegrenzt alle während des Zeitraums seiner Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 29 und 30).
55
Unter den besonderen Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, hat der Gerichtshof also mit Blick nicht nur auf den Schutz des Arbeitnehmers, den die Richtlinie 2003/88 bezweckt, sondern auch auf den des Arbeitgebers, der sich der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können, ausgesetzt sieht, entschieden, dass Art. 7 dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 38, 39 und 44).
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Hieraus folgt, dass drittens zu prüfen ist, ob Umstände wie die im Ausgangsrechtsstreit gegebenen „besondere“ Umstände im Sinne der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung sind, so dass sie – ebenso wie eine längere Abwesenheit des Arbeitnehmers wegen Krankschreibung – eine Ausnahme von dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und in Art. 31 Abs. 2 der Charta aufgestellten Grundsatz rechtfertigen, wonach ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlischt, wenn der Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen.
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In diesem Zusammenhang ist auf folgende Gesichtspunkte hinzuweisen.
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Erstens darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil vom 22. April 2010, Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, C‑486/08, EU:C:2010:215, Rn. 29). Abweichungen von der Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung müssen daher so ausgelegt werden, dass ihr Anwendungsbereich auf das zur Wahrung der Interessen, deren Schutz sie ermöglichen, unbedingt Erforderliche begrenzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Oktober 2010, Union syndicale Solidaires Isère, C‑428/09, EU:C:2010:612, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
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Unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erscheint aber ein Schutz der Interessen des Arbeitgebers nicht zwingend notwendig und vermag daher ein Abweichen vom Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub nicht zu rechtfertigen.
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Es ist nämlich festzustellen, dass die Beurteilung des Anspruchs eines Arbeitnehmers wie Herr King auf bezahlten Jahresurlaub nicht mit einer Situation in Zusammenhang steht, in der sein Arbeitgeber mit Abwesenheitszeiten von Herrn King konfrontiert gewesen wäre, aus denen sich – wie bei einer Krankschreibung von langer Dauer – Schwierigkeiten für die Arbeitsorganisation ergeben hätten. Der Arbeitgeber konnte vielmehr bis zum Eintritt seines Arbeitnehmers in den Ruhestand davon profitieren, dass dieser seine berufliche Tätigkeit bei ihm nicht unterbrochen hat, um bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.
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Zweitens ist der Umstand, dass Sash WW irrtümlich davon ausging, dass Herr King keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub habe, selbst dann unerheblich, wenn er erwiesen wäre. Es obliegt nämlich dem Arbeitgeber, sich umfassend m über seine Verpflichtungen in diesem Bereich zu informieren.
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Wie sich aus Rn. 34 des vorliegenden Urteils ergibt, darf nicht bereits die Entstehung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von irgendeiner Voraussetzung abhängig gemacht werden, da dieser Anspruch dem Arbeitnehmer unmittelbar durch die Richtlinie 2003/88 verliehen wird. Somit ist es, was das Ausgangsverfahren betrifft, irrelevant, ob Herr King im Laufe der Jahre bezahlten Jahresurlaub beantragt hat oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juni 2014, Bollacke, C‑118/13, EU:C:2014:1755, Rn. 27 und 28).
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Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass anders als im Fall des Ansammelns von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen hat.
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Drittens darf unter solchen Umständen, wenn es keine nationale gesetzliche oder vertragliche Vorschrift gibt, die eine Begrenzung der Übertragung von Urlaubsansprüchen im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts vorsieht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761 und vom 3. Mai 2012, Neidel, C‑337/10, EU:C:2012:263), die in der Richtlinie 2003/88 vorgesehene Unionsregelung über die Arbeitszeitgestaltung nicht restriktiv ausgelegt werden. Ließe man unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zu, würde man damit nämlich im Ergebnis ein Verhalten bestätigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft.
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Nach alledem ist auf die Fragen zwei bis fünf zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen es einem Arbeitnehmer verwehrt ist, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die in mehreren aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen wegen der Weigerung des Arbeitgebers, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt worden sind, bis zum Zeitpunkt der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses zu übertragen und gegebenenfalls anzusammeln.
Kosten
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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.