· Fallanalyse / Corona
Mitarbeiterüberwachung in Krisenzeiten: Schoss Amazon über das Ziel hinaus?
von RA Dr. Christoph Kurzböck, Fachanwalt für Arbeitsrecht und RAin Kathrin Weinbeck, Wirtschaftskanzlei Rödl & Partner, Nürnberg, Regensburg
| Wie weit darf die arbeitgeberseitige Fürsorge- und Rücksichtnahmepflicht in der Corona-Krise gehen? Am Fallbeispiel von Amazon und einer durch den Betriebsrat des Unternehmens erwirkten einstweiligen Verfügung wird deutlich, wann Arbeitgeber über das Ziel hinausschießen. |
Der „gute Vorsatz“ des Amazon-Chefs
„Regelmäßiges Testen auf globaler Ebene ‒ über alle Wirtschaftszweige hinweg ‒ würde helfen, die Menschen zu schützen und die Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen“, sagte Jeffrey Bezos, Gründer und Kopf des Onlineversandhändlers Amazon, in einem Brief an die Amazons Anteilseigner.
Bezos kündigte weiter an, unabhängig von Symptomen
- Tests auf einen COVID-19-Befund vorzunehmen zu wollen. Das Unternehmen habe dazu 31.000 Thermometer und 1.115 Wärmebildkameras angeschafft.
- mit Videoüberwachung den betrieblich vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von zwei Metern gewährleisten zu wollen. Eine spezielle Software sei installiert.
Einstweilige Verfügung gegen die Überwachung
Gegen die Überwachung hat nun Amazons Betriebsrat in Rheinsberg eine einstweilige Verfügung erwirkt (Arbeitsgericht [ArbG] Wesel, Beschluss vom 24.4.2020, Az. 2 BVGa 4/20). Die Speicherung der Aufnahmen auf Servern im Ausland sei eine Verletzung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 und 7 BetrVG.
Wie weit dürfen Arbeitgeber gehen, um einerseits eine Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern? Wie stark darf dabei die persönliche Freiheit der Arbeitnehmer auch gegen deren Willen eingeschränkt werden?
Rechte des Arbeitgebers
- 1. Grundsatz: Der Arbeitgeber darf angemessene Schutzmaßnahmen verpflichtend anordnen (§ 106 GewO, Direktionsrecht).
- 2. Arbeitnehmer haben eine Mitwirkungspflicht an den angeordneten Präventionsmaßnahmen.
Das Direktionsrecht sowie die Mitwirkungspflicht enden jedoch dort, wo Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit überschritten werden.
Beachten Sie | Als Arbeitgeber müssen Sie deshalb Ihr berechtigtes Interesse anhand objektiv-konkreter Kriterien nachweisen können. Innerhalb der Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, welchen konkreten Gefahren die Arbeitnehmer bei der jeweiligen Tätigkeit ausgesetzt sind (z. B. Kundenkontakt). Auch das Interesse an der Aufrechterhaltung des Betriebs und die Frage der Systemrelevanz des Betriebs sind mit einzubeziehen.
Zulässigkeit von Schutzmaßnahmen
Im Fall von Amazon greifen die angekündigten bzw. durchgeführten Maßnahmen in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Arbeitnehmer ein. So hat jeder Mitarbeiter im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts auch das Recht, einen Arzt nicht aufzusuchen.
Gesundheitstests
Verpflichtende Gesundheitstests sind nach der laufenden Rechtsprechung nur zulässig, wenn Verdachtsmomente für eine Arbeitsunfähigkeit vorliegen, die zu einer Gefahr für Leben und Gesundheit Dritter führen kann. Ob eine erhöhte Körpertemperatur schon als Verdachtsmoment ausreicht, um einen Corona-Test zu rechtfertigen, ist zwar unter Juristen zweifelhaft. Der neue SARS-CoV-2 Arbeitsschutz-Standard der Bundesregierung rechtfertigt und fordert aber die kontaktlose Fiebermessung und entsprechende Folgemaßnahmen.
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Bevor Sie zweifeln, ob Ihre Maßnahmen gerechtfertigt sind, lesen Sie ... |
Der Arbeitnehmer ist zwar auch nicht zur Auskunft über seinen Gesundheitszustand verpflichtet. Im Fall der Corona-Pandemie ist das anders. Arbeitnehmer haben aktuell ihrer Aufforderung, den Corona-Befund vorzulegen, nachzukommen (§ 1 CoronaVMeldeV i. V. m. ‒ Rücksichtnahmepflicht), soweit eine Meldepflicht besteht. Denn dann kann regelmäßig davon ausgegangen werden, dass ein überwiegendes Arbeitgeberinteresse vorliegt.
Videoüberwachung
Was die Kamera-Überwachung betrifft, muss diese nach § 26 BDSG erfolgen. Eine heimliche Überwachung ist nur unter sehr strengen Voraussetzungen zulässig. Die offene Videoüberwachung wird von der Rechtsprechung überwiegend als zulässig erachtet.
Wie der Beschluss des ArbG Wesel zeigt, kommt es darauf an,
- zu welchem Zweck,
- mit welchen Mitteln und
- für welche Dauer
die persönlichen Arbeitnehmerdaten verarbeitet werden.
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Exkurs: Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers
- Die arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht verpflichtet zur arbeitsbezogenen Gesundheitsfürsorge § 611 i. V. m. § 241 Abs. 2 BGB.
Beachten Sie | Diese Fürsorgepflicht verlangt von Ihnen, alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um Arbeitnehmer individuell möglichst effektiv vor einer Ansteckung mit COVID-19 zu schützen. Sie ist als Ausfluss des arbeitsrechtlichen Arbeitsschutzes Teil der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 12 GG und gilt wegen der Verankerung durch den Bundesgesetzgeber im BGB grundsätzlich für alle Bundesländer.
Individuelle Beurteilung
Der konkrete Umfang der Fürsorgepflicht ist für jeden Arbeitnehmer gesondert nach den jeweiligen Umständen zu beurteilen, sodass sich vor allen Dingen je nach Art, Größe und Lage des Arbeitsplatzes und konkreter Gesundheitsbedrohung auch innerhalb des Betriebs Unterschiede ergeben können.
TIPP | Nutzen Sie die Vorgaben der Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin und speziell für die Corona-Pandemie den neuen Arbeitsschutzstandard COVID-19 des Bundesarbeitsministeriums. |
Für all diese und weitere denkbare Maßnahmen, die für den Arbeitnehmer einen Eingriff darstellen, gilt aber, dass sie verhältnismäßig sein müssen. Zudem hat der Betriebsrat bei der Gefährdungsbeurteilung, der Arbeitnehmerunterweisung und hinsichtlich der Hygieneregelungen nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 und 7 BetrVG i. V. m. § 12 Abs. 1 ArbSchG ein Mitbestimmungsrecht, das der Arbeitgeber zu wahren hat.
FAZIT | Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Pandemieeindämmung gilt für Arbeitgeber aber bis auf Weiteres das Motto „lieber zu viel Schutz als zu wenig“. Ihre Rechtfertigung ziehen Sie aus der Fürsorge- und Rücksichtnahmepflicht. Um aber nicht über das Ziel hinauszuschießen und den Betriebsfrieden zu wahren, sollten Maßnahmen und deren angedachter Zweck und Dauer möglichst offen kommuniziert werden, um bei der Belegschaft Verständnis und Akzeptanz zu schaffen. Denn letztlich liegt der Infektionsschutz maßgeblich auch im Interesse der Beschäftigten, sodass Schutzmaßnahmen in der Praxis nur selten auf einen ernsthaft entgegenstehenden Willen stoßen dürften. |