Urteil vom 21.11.2022 · IWW-Abrufnummer 233101
Landesarbeitsgericht Niedersachsen - Aktenzeichen 6 Sa 191/22
1. Der Rechtscharakter einer von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Protokollnotiz ist im Wege der Auslegung gemäß §§ 133 , 157 BGB zu ermitteln.
2. Die Tarifvertragsparteien können selbst geschaffene Ansprüche unter Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen nachträglich abbedingen.
3. Einzelfallentscheidungen zu Ansprüchen eines Flugkapitäns aus einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für Mitarbeiter des Cockpitpersonals in Übereinstimmung mit der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 16.08.2021 - 8 Sa 505/20 - (Revision BAG 5 AZR 27/22).
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts B-Stadt vom 02.02.2022 - 5 Ca 128/21 - wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über tarifliche Ansprüche des Klägers auf Vergütung von nicht abgerufenen Standby-Diensten sowie eine lineare Gehaltserhöhung ab dem 01.01.2018.
Die Beklagte ist eine aus der früheren H. Fluggesellschaft mbH hervorgegangene, international agierende Fluggesellschaft mit Sitz in C-Stadt, welche zum Konzernverbund der T. gehört. Sie beschäftigte (Stand 16.04.2021) 2.151 Mitarbeiter, von denen 527 dem Cockpitpersonal angehörten.
Der am 01.01.0000 geborene Kläger ist seit dem 16.11.2015 zuletzt als Copilot bei der Beklagten beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung beträgt 6.696,00 €.
Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die zwischen der Vereinigung Cockpit e.V. (im Folgenden: VC) und der Beklagten abgeschlossenen Tarifverträge Anwendung.
In § 15 Abs.14 des Manteltarifvertrages Nr. 4 für das Cockpitpersonal der C. vom 01.11.2016 (im Folgenden: MTV Nr. 4, vgl. 407 d. A.) ist geregelt:
"Nicht abgerufene Standby Dienste werden wertmäßig mit jeweils 2 Mehrflugstunden (in erster Stufe des jeweils gültigen VTV; jeweils für First Officer bzw. Captain) vergütet".
Am 23.11.2017 schloss die Beklagte mit dem VC eine Tarifvereinbarung (im Folgenden: TV 2017, vgl. Bl. 50 - 55 d. A.), die u.a. nachstehende Regelungen beinhaltet:
"I. Betrieb von 39 Flugzeugen
1.
Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von T. betrieben, wobei bis maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wet-Lease an Dritte vermarktet werden. Ab Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), insgesamt mindestens 39 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von der T. betrieben, wobei bis zu maximal 7 der 39 Flugzeuge im Wet-Lease an Dritte vermarktet werden.
Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 35 Flugzeugen für folgende Zeiträume:
- 01.05.2018 bis 31.10.2018
Zum Ausgleich von saisonalen Schwankungen gilt die Mindestanzahl von 39 Flugzeugen für folgende Zeiträume:
- 01.05.2019 bis 31.10.2019
- 01.05.2020 bis 31.10.2020
...
2.
Der unter Ziffer 1. beschriebene Betrieb von mindestens 35 Flugzeugen in dem Jahr 2018 und 39 Flugzeugen ab dem Jahr 2019 samt den dort aufgeführten Regelungen betreffend der saisonalen Schwankungen sowie der Verfahren zum Phase-in/Phase-out stellt bindende Geschäftsgrundlage und ist die Voraussetzung für die nachfolgend aufgeführten Maßnahmen dar. ...
II.
Vergütungstarifvertrag
1.
Bei dem zum 01.Januar 2018 in Kraft tretenden Vergütungstarifvertrag Nr.6 vom 28.September (nachfolgend VTV Nr.6) kommt die vereinbarte Vergütungserhöhung von 2,5 % nicht zur Anwendung. Zur Klarstellung wird darauf hingewiesen, dass damit die derzeit angewandten Gehaltstabellen von 2017 sowie die Tabellen zur Mehrflugstunden-Vergütung von 2017 gemäß Anlage I des Vergütungstarifvertrages Nr.5 vom 30.April 2014 (nachfolgend VTV Nr.5) in der Zeit bis 31.12.2018 zur Anwendung kommen (Anlage 1)....
III. Manteltarifvertrag
3.
Die zum 1. November 2016 in § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 eingeführte Bezahlung für nicht abgerufene Standby Dienste wird zum 31. Dezember 2017 ersatzlos gestrichen. Die Tarifvertragsparteien sind sich darüber einig, dass im Rahmen der MTV-Verhandlungen eine neue Standbyregelung verhandelt wird. ...
IV. Unterschreitung der Anzahl an Flugzeugen
1.
Sobald der unter I. Ziffer 1 geregelte Betrieb der vereinbarten Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2019 und 39 Flugzeuge ab dem Jahr 2019 (während der Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020) unterschritten wird, leben die Regelungen zum Standby-Konzept und der Dienstplanstabilität, die unter III. Ziffer 2 und 3 dieser Tarifvereinbarung ausgesetzt wurden, mit sofortiger Wirkung wieder auf. Dies gilt unabhängig von anderslautenden Regelungen eines jeweils gültigen Manteltarifvertrages zum Standby Konzept und der Dienstplanstabilität.
Darüber hinaus wird in diesem Fall rückwirkend zum 01. Januar des jeweiligen Vorjahres eine zusätzliche lineare Gehaltssteigerung von 2,5 % vorgenommen. Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass die vereinbarten Vergütungserhöhungen hiervon unberührt bleiben. Auf dieser Gehaltssteigerung basierend sind alle Bezüge des VTV Nr. 6 (bspw. Gehaltstabellen, Mehrflugstundenvergütung, Trainerzulagen, etc.) der Folgejahre nachzuberechnen.
2.
Sofern im Falle der Einflottung eines anderen Flugzeugmusters eine Reduzierung der Flugzeugflotte und damit eine Unterschreitung der unter I. Ziffer 1 festgestellten Mindestanzahl von Flugzeugen erfolgt, verpflichten sich die Parteien hinsichtlich einer Anpassung der Flugzeugflottengröße zu verhandeln. Ausgenommen von der Verhandlungsverpflichtung ist die Einführung einer Langstreckenoption, soweit die T. sicherstellt, dass keine Personalüberdeckung und keine Verringerung des Personalbedarfs entstehen. Unterschreitet die T. die unter I. Ziffer 1 vereinbarte Mindestanzahl (35 Flugzeuge im Jahr 2018 und 39 Flugzeuge ab dem Jahr 2019) während der Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), obwohl die Tarifvertragsparteien keine Einigung erzielten, kommt die Regelung unter IV. Ziffer 1 zur Anwendung.
Die unter Ziffer 1. Ziffer 1 festgelegte Mindestanzahl der Flugzeuge kann bei höherer Gewalt unterschritten werden. Die Feststellung von höherer Gewalt und eine damit etwaige Reduzierung der unter I. geregelten Flottengrößen bedürfen jedoch einer einvernehmlichen Feststellung zwischen den Tarifvertragsparteien...
VII. Inkrafttreten und Vertragsdauer
Diese Tarifvereinbarung tritt mit Unterzeichnung in Kraft und endet automatisch, ohne dass es einer Kündigung bedarf, am 31. Dezember 2020. Diese Tarifvereinbarung entfaltet keine Nachwirkung hinsichtlich der Ziffern I., IV., und VI. Gem. II. Ziffer 3 und III. Ziffer 1 entfalten der Vergütungstarifvertrag und der Manteltarifvertrag weiterhin Nachwirkung. Sollte es während der Laufzeit dieser Vereinbarung zur Unterschreitung der in I. vereinbarten Mindestanzahl von Flugzeugen kommen, dann entfalten zudem die in IV. Ziffer 1, zweiter Absatz genannten Regelungen zum Vergütungstarifvertrag weiter Nachwirkung."
Die Beklagte hat den Sommerflugplan 2018 mit der tariflich geregelten Mindestanzahl von Flugzeugen des Typs Boeing 737 betrieben. Sie plante den Sommerflugplan 2019 mit einer Flottengröße von 39 Flugzeugen. Die Entwicklung um das Flugzeugmuster Boeing 737 MAX 8 und MAX 9 führte im März 2019 zur Anordnung eines behördlichen Flugverbotes. Deshalb unterblieb die Auslieferung von Flugzeugen des Typs. Die Beklagte hatte ab Sommer 2019 mit vier und ab Sommer 2020 mit acht entsprechenden Flugzeugen gerechnet. Die Beklagte unterschritt ab April 2019 die tarifvertraglich festgelegte Mindestanzahl von 39 Flugzeugen.
In der Folge stritten die Tarifvertragsparteien über ein Aufleben der Ansprüche gemäß IV. Ziffer 1 TV 2017 und führten hierzu Verhandlungen. Hierüber informierte der VC die Mitarbeiter*Innen der Beklagten mit Schreiben vom 25.06.2019, 16.08.2019 (Bl. 816 d. A.), 04.09.2019 (Bl. 807- 809 d. A.) und 10.09.2019 (Bl. 802, 803 d.A.). Dem entsprach die Beklagte mit einem Infoschreiben vom 06.09.2019 (Bl. 804, 806, 97).
In einer Protokollnotiz vom 09./17.07.2019 zum TV 2017 (vgl. Bl. 337 d. A.) vereinbarten die Tarifvertragsparteien auszugsweise Nachstehendes:
"Der unter I. Ziffer 1 der Tarifvereinbarung vereinbarte Betrieb der Mindestanzahl von 39 Flugzeugen wird seitens T. derzeit unterschritten. Die Folgen, die eine Unterschreitung der vereinbarten Mindestanzahl auslöst, ist unter IV. der Tarifvereinbarung geregelt. Da zwischen den Parteien kein Einvernehmen i. S. d. IV. Ziffer 2 letzter Absatz besteht, vereinbaren die Parteien, die Regelung unter IV. Ziffer 1 bis zum 31. August 2019 außer Kraft zu setzen. In dieser Zeit soll der Versuch unternommen werden, gemeinsam zu einer Lösung zu gelangen...."
Die Gespräche der Tarifvertragsparteien blieben weiterhin erfolglos. Innerhalb der gesetzten Frist (31.08.2019) wurde keine Einigung erzielt. Im November 2019 nahmen sie die Verhandlung wieder auf. Ergebnis war der am 20.11.2022 vereinbarte "Tarifvertrag 2019" (im Folgenden: TV 2019, Bl. 338 - 356 d. A.). Darin ist unter D. vereinbart, dass IV. des TV 2017 gestrichen wird. In H. Ziffer 2 ist bestimmt, dass die in D. getroffene Regelung sofort in Kraft tritt, jedoch entfällt, wenn nicht - wie unter H. Ziffer 1 vereinbart - bis zum 31.03.2020 ein Beschluss zur Aufnahme der Langstrecke bei der Beklagten getroffen wird.
In einer Protokollnotiz zum TV 2019 vom 13.03.2020 (Bl. 357 d. A.) legten die Tarifvertragsparteien zudem fest, dass keine Ansprüche von Cockpitmitarbeitern für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen einer rückwirkenden Erhöhung der Entgeltbestandteile aus dem TV 2017 wegen Unterschreitung der Flottengröße bestehen. Zugleich wurde vereinbart, dass diese Regelung rückwirkend entfällt, wenn die Beklagte bis zum 31.03.2020 keinen Beschluss zur Aufnahme der Langstrecke trifft.
Weder bis zum 31.03.2020, noch bis zum Ablauf der mit der Protokollnotiz zum TV 2019 vom 09.04.2020 "Moratorium" (Bl. 358 - 360 d. A.) zum 31. Juli 2020 verlängerten Frist fasste die Beklagte einen Beschluss zur Aufnahme der Langstrecke. Vielmehr teilte sie dem VC im Juni 2020 mit, keine deutsche Langstrecke einzuführen.
Der Kläger wurde vom VC mit Schreiben vom 17.12.2020 (Bl. 534 d. A.) darüber informiert, seine Vergütungsansprüche aus dem TV 2017 innerhalb der tarifvertraglichen Ausschlussfristen geltend zu machen. Dem entsprach Kläger mit Schreiben vom 17.12.2021 (Bl. 57 d. A.). Die Beklagte wies seine Ansprüche mit E-Mail vom 28.01.2021 (Bl. 60 d. A.) zurück.
Im Hinblick auf die zwischen den Tarifvertragsparteien streitige Frage des Vorliegens höherer Gewalt erhob die Beklagte am 23. Dezember 2020 von dem Arbeitsgericht Frankfurt Klage gegen den VC. Dieser Rechtsstreit wurde in ein Mediationsverfahren überführt. In dessen Folge sowie tarifvertraglicher Verhandlungen über ein neues Gesamtpaket vereinbarten die Tarifvertragsparteien unter dem 5. März 2021 eine weitere Protokollnotiz zum TV 2017 (Bl. 56 d. A.) mit folgendem Inhalt:
"Im Rahmen der Mediation zum Abschluss des Gesamtpakets 2021 haben die Parteien Folgendes vereinbart:
Die Parteien vereinbaren, dass keine Ansprüche der Arbeitnehmer für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 bestehen."
Mit der am 14.04.2021 beim Arbeitsgericht B-Stadt eingegangenen Klage hat der Kläger - soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung - die Beklagte auf Zahlung von nicht abgerufenen Standby Dienste sowie eine lineare Gehaltserhöhung ab 01.01.2018. Er hat die Ansicht vertreten, ihm stünden Ansprüche auf Differenzvergütung aufgrund einer linearen Gehaltssteigerung von 2,5 % seit dem 01.01.2018 ebenso wie auf Vergütung von nicht abgerufenen Standby-Diensten zu. Durch die Unterschreitung der Mindestanzahl von Flugzeugen sei der tariflich vereinbarte Ausschluss dieser Gehaltsbestandteile rückwirkend entfallen. Die Protokollnotiz vom 05. März 2021 stelle keine tarifliche Regelung dar. Darin werde das Vorliegen höherer Gewalt nicht begründet. Sie könne die entstandenen Ansprüche des Klägers nicht beseitigen. Die Protokollnotiz entfalte eine echte Rückwirkung in bestehende Recht des Klägers, die dieser spätestens seit der erstmaligen Unterschreitung der Flottengröße und bis zum Ablauf des Moratoriums als gesichert habe ansehen können. Wegen des Laufzeitendes des TV 2017 handele sich für den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2020 um einen abgeschlossenen Sachverhalt. Das schutzwürdige Vertrauen des Klägers sei spätestens durch das Schreiben des VC vom 17. Dezember 2020 begründet worden.
Der Kläger hat - zuletzt - beantragt,
die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 33.423,15 € brutto nebst 5 % Zinsen p.a. über dem jeweiligen Basiszinssatz gem. § 247 BGB auf den sich ergebenden Nettobetrag (gerechnet ab 18.01.2021) zu zahlen
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, die Klage sei insgesamt unbegründet, und dazu wie folgt vorgetragen:
Die Protokollnotiz vom 5. März 2021 stelle keinen Eingriff in bereits erdientes Entgelte des Klägers dar. Sie entfalte lediglich unechte Rückwirkung. Es habe durchgehend der Vorbehalt bestanden, dass die Tarifvertragsparteien keinen Fall höherer Gewalt feststellen. Das behördlich angeordnete Flugverbot für die Maschinen des Typs Boeing und die durch die COVID-19-Pandemie ab Dezember 2019 verursachten Einschränkungen im Bereich der touristischen Luftfahrt stellten - jedenfalls zusammen - Fälle höherer Gewalt dar. Selbst wenn eine echte Rückwirkung vorliegen solle, sei kein schutzwürdiges Interesse des Klägers ersichtlich. Er habe von Anfang an mit einer Änderung rechnen müssen, weil insbesondere die Frage des Vorliegens höherer Gewalt durchgängig offen und Gegenstand von Tarifverhandlungen gewesen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vortrages der Parteien wird Bezug genommen auf die zwischen ihnen in erster Instanz gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die in der erstinstanzlichen Verhandlung wechselseitig abgegebenen Erklärungen.
Mit Urteil vom 02.02.2022 hat das Arbeitsgericht B-Stadt die Klage insgesamt abgewiesen. Wegen der rechtlichen Würdigung wird Bezug genommen auf dessen Entscheidungsgründe (Seiten 6 bis 10 desselben, Bl. 627 R bis 630). Das Urteil ist dem Kläger am 14.02.2022 zugestellt worden. Mit am 10.03.2022 beim LAG Niedersachsen eingegangenem Schriftsatz hat er hiergegen Berufung eingelegt und diese, nachdem ihm zuvor Fristverlängerung gewährt worden war, unter dem 10.06.2022 begründet.
Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, Ansprüche auf Vergütung von nicht abgerufenen Standby Dienste nach § 15 Abs. 14 MTV Nr. 4 und eine lineare Gehaltssteigerung von 2,5 % gem. der angepassten Gehaltstabelle des VTV Nr. 6 vom 28.09.2016 jeweils iVm. Arbeitsvertrag in der geltend gemachten Höhe zu haben. Es könne dahinstehen, ob es sich bei der in Rede stehenden Protokollnotiz vom 5.3.2021 tatsächlich um einen Tarifvertrag im Rechtssinne gehandelt habe. Dagegen spreche die von den Tarifvertragsparteien offenbar bewusste Bezeichnung als "Notiz". Bei einer "Notiz" handelt es sich umgangssprachlich um eine in schriftlicher Form festgehaltene kurze Information/Erinnerungsstütze. Als solcher fehle es der Protokollnotiz an dem für einen Tarifvertrag im Rechtssinne notwendigen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien. Selbst wenn es sich bei der Protokollnotiz um eine tarifliche Regelung im Rechtssinne handle, habe diese die zu diesem Zeitpunkt bereits entstandenen Ansprüche des Klägers rückwirkend nicht wieder beseitigen können. Gemäß IV. Ziffer 4. Satz 2 Unterabsatz 2 TV 2017 wäre hierfür die vorherige, oder zumindest zeitgleiche Feststellung des Vorliegens von höherer Gewalt erforderlich gewesen. Eine diesbezügliche Feststellung enthalte die Protokollnotiz nicht. Abgesehen davon würde einer nachträglichen Aufhebung bereits rechtswirksam entstandene Ansprüche des Klägers dessen schutzwürdiges Vertrauen entgegenstehen. Soweit das Arbeitsgericht dazu auf die Protokollnotiz vom 9./17. Juli 2019 verweise, könne sich dies logischerweise nur auf den davorliegenden Zeitraum beziehen. Für die Zeit danach fehle es jedoch an Ereignissen, die die Entstehung entsprechenden schutzwürdigen Vertrauens hätte tangieren bzw. zerstören können. Jedenfalls habe die insoweit beweispflichtige Beklagte dazu nicht vorgetragen. Letztlich sei dem Kläger durch das Schreiben des VC vom 17.12.2020 ausdrücklich angeraten worden, diesbezügliche Ansprüche zur Wahrung etwaiger tariflicher Verfallfristen geltend zu machen. Mit diesem Schreiben sei das bis dahin entstandene schutzwürdige Vertrauen des Klägers auf den Bestand seiner Ansprüche zusätzlich genährt worden. Es werde bestritten, dass der Kläger anderweitig von dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der Beklagten und dem VC Kenntnis erlangt habe.
Der Kläger beantragt,
dass Urteil des Arbeitsgerichts B-Stadt vom 02.02.2022 - 5 Ca 128/21 - teilweise abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 31.565,12 € brutto nebst 5% Zinsen p.a. über dem jeweiligen Basiszinssatz (gerechnet ab dem 18.01.2021) zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil als zutreffend und führt dabei unter Wiederholung ihres erstinstanzlichen Vortrages unter anderem nachstehendes aus:
Zunächst sei IV. des TV 2017 unwirksam. Die Zusage einer Mindestflottengröße sei tariflich nicht regelbar. Unabhängig davon sei die Flottenunterschreitung eine Folge höhere Gewalt gewesen, weshalb der Kläger keine Ansprüche auf eine rückwirkende Vergütungserhöhung geltend machen könne. Es komme nicht darauf an, ob das Vorliegen höhere Gewalt von den Tarifvertragsparteien einvernehmlich festgestellt worden sei. Etwaige Ansprüche des Klägers seien letztendlich jedenfalls mit der Protokollnotiz vom 05.03.2021 aufgehoben worden. Darin hätten sich die Tarifvertragsparteien darauf verständigt, dass das Cockpitpersonal keine rückwirkenden Ansprüche auf eine Vergütungserhöhung und auf nicht abgerufene Standby Dienste seit dem 01.01.2018 haben solle. Da im TV 2017 keine Einigungsfrist geregelt sei, habe diese Protokollnotiz auch noch nach Ablauf des TV 2017, mithin nach dem 31.12.2020, vereinbart werden können. Ohnehin habe die Beklagte bereits vor Ablauf des 31.12.2020 Klage gegen den VC vor dem Arbeitsgericht Frankfurt erhoben, und zwar am 23.12.2020. Die Beseitigung der Anspruchsgrundlage für die Klageforderung sei auch zulässig gewesen. Selbst wenn es sich dabei um eine echte Rückwirkung handele, könne sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Ansprüche seien von Anfang an umstritten gewesen. Die widerstreitenden Rechtsauffassungen zwischen der Beklagten und dem VC seien wiederholt und regelmäßig in die Belegschaft kommuniziert worden. Der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt davon ausgehen können, dass eine rückwirkende Vergütungserhöhung auf Grundlage der Ziffer IV. des TV 2017 Realität werden würde. Er habe auch nicht berechtigterweise davon ausgehen können, dass der Streit über das Vorliegen höherer Gewalt entschieden worden sei, weil die Tarifvertragsparteien zwischenzeitlich keine weitere Information über den Streit herausgegeben hätten. Da der Kläger in Anwendungsbereich des TV Corona falle, habe die Beklagte zudem zu Recht dessen Vergütung von März bis Juni 2021 reduziert. Die Tarifvertragsparteien hätten den Geltungsbereich des TV Corona unmissverständlich festgelegt. Es sei nicht erkennbar, inwieweit die Tarifvertragsparteien den ihnen zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten und den Kläger aus sachwidrigen Gründen nicht aus dem Geltungsbereich des TV Corona herausgenommen haben sollten. Die Bedingungen der im Herbst 2020 abgeschlossenen Aufhebungsverträge seien mit denen nach dem Freiwilligenprogramm aus März 2021 nicht deckungsgleich.
Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufungsinstanz wird Bezug genommen auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze vom 03.06.2022 und 15.08.2022 sowie auf die in der mündlichen Verhandlung am 17.11.2022 wechselseitig abgegebenen Erklärungen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg.
A.
Sie ist zwar insgesamt zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 64, 66 ArbGG und 519, 520 ZPO.
B.
Die Berufung ist jedoch insgesamt unbegründet.
Dem Kläger stehen weder Ansprüche auf Vergütung für nicht abgerufene Standby Dienste noch auf eine lineare Gehaltserhöhung von 2,5% ab dem 01.01.2018 in Höhe von insgesamt 31.565,12 € brutto nebst Zinsen gemäß § 15 Abs.14 MTV Nr.4 und IV. Ziffer 1. Abs.2 TV 2017 zu. Das Arbeitsgericht die die Klage insoweit zu Recht abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers unterliegt der Zurückweisung.
I.
Es kann dahingestellt bleiben, ob die im TV 2017 vorgenommene Verknüpfung von Ansprüchen des normunterworfenen Cockpitpersonals mit dem Erreichen oder Unterschreiten einer Mindestflottengröße von 39 Flugzeugen rechtlich zulässig ist oder einen ungerechtfertigten Eingriff in den grundgesetzlich geschützten Kernbereich der unternehmerischen Betätigungsfreiheit der Beklagten darstellt. Auch kann offenbleiben, ob das im März 2019 behördlich verordnete Grounding der Boeing 737 objektiv ein Fall "höherer Gewalt" im Sinne von IV. Ziffer 2. Abs. 2 TV 2017 und ursächlich für die Flottenunterschreitung war. Denn wie das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat in einem parallel liegenden Fall (Urteil vom 26.08.2021 - 8 Sa 505/20 - siehe juris; Revisionsverfahren anhängig beim BAG zum Aktenzeichen - 5 AZR 27/21 -; dem LAG Düsseldorf zustimmend LAG München, 27.04.2022 - 5 Sa 739/21 - und LAG Hamburg, 24.05.2022 - 4 Sa 54/21-) überzeugend entschieden hat, ist beiden tariflichen Ansprüchen des Klägers jedenfalls durch die Protokollnotiz vom 05.03.2021 zum TV 2017 die Grundlage entzogen worden. Dem schließt sich die Kammer nach Beratung ausdrücklich an.
II.
Danach gilt Folgendes:
1.
Dass auf das Arbeitsverhältnis der Parteien die haustariflichen Bestimmungen bei der Beklagten Anwendung finden, ist zwischen den Parteien nicht im Streit.
2.
In der Protokollnotiz vom 05.03.2021 haben die Tarifvertragsparteien (VC und die Beklagte) vereinbart, dass keine Ansprüche der Arbeitnehmer für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 bestehen. Dadurch haben die Tarifvertragsparteien mit bindender Wirkung für den Kläger die Regelung unter IV. Ziffer 1. TV 2017 abbedungen, wonach bei Unterschreitung einer festgelegten Flottengröße unter anderem die Vergütung von Standby-Diensten gemäß § 15 Abs. 14 MTV sowie eine rückwirkende Gehaltsanpassung um 2,5 % zu erfolgen hat.
a)
Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 zum TV 2017 hat Rechtsnormqualität.
aa)
Welchen Charakter eine von den Tarifvertragsparteien vereinbarte Protokollnotiz hat, ist nach dem im Wege der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermittelnden Willen der Tarifvertragsparteien festzustellen (BAG, 26.02.2020 - 4 AZR 48/19 - Rn. 31). Darüber hinaus muss die Protokollnotiz, um Rechtsnormqualität zu haben, dem Schriftformerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG in Verbindung mit §§ 126, 126 a BGB genügen.
bb)
Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 ist zunächst von beiden Tarifvertragsparteien handschriftlich unterzeichnet worden im Sinne von § 1 Abs. 2 TVG in Verbindung mit § 126 BGB. Der Rechtssetzungswillen wird eindeutig daraus erkennbar, dass die Tarifvertragsparteien selbst ausdrücklich ausgeführt haben "die Tarifvertragsparteien vereinbaren...". Der Begriff der Vereinbarung beinhaltet schon vom Wortlaut her unzweifelhaft, dass die Tarifvertragsparteien eine verbindliche Regelung mit Außenwirkung und keine bloße Auslegungshilfe treffen wollten. Darüber hinaus ergibt sich aus Sinn und Zweck der Protokollnotiz bei objektiver Betrachtung vom Empfängerhorizont unmissverständlich, dass damit normative Ansprüche Dritter aus einem Tarifvertrag, einer anderweitigen, rechtswirksamen und abschließenden Regelung zugeführt werden sollten. Die Protokollnotiz markiert den Endpunkt einer jahrelangen Auseinandersetzung zwischen den Tarifvertragsparteien über die Feststellung von höherer Gewalt als Ursache für die Unterschreitung der Flottengröße gemäß I. Ziffer 1. TV 2017 als Voraussetzung dafür, dass daran anknüpfende Ansprüche der normunterworfenen Arbeitnehmer*innen entweder gar nicht erst - wieder - entstehen oder jedenfalls - wieder - entfallen.
b)
Die Tarifvertragsparteien haben in der Protokollnotiz zum Ausdruck gebracht, dass Ansprüche der normunterworfenen Arbeitnehmer*innen für die Zeit ab dem 01.01.2018 wegen Unterschreitung der Flottengröße aus dem TV 2017 nicht bestehen sollen. Zu den Ansprüchen aus dem TV 2017 gehören auch die streitgegenständlichen Ansprüche des Klägers auf Vergütung von Standby-Diensten gemäß § 15 Abs. 14 MTV und eine lineare Gehaltserhöhung von 2,5% nach IV. 1. Abs. 2 TV 2017 ab dem 01.01.2018. Das ergibt die Auslegung zweifelsfrei.
aa)
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regelungen. Danach ist zunächst vom Wortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne an den Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragspartei zu berücksichtigen, soweit er in der tariflichen Norm seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist zudem auf den tariflichen Gesamtzusammenhang. Sind dann zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu ermitteln, können weitere Kriterien, wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages herangezogen werden. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führen (BAG, 13.07.2021 - 3 AZR 363/20 - Rn. 23).
bb)
Danach wollten die Tarifvertragsparteien mit der Protokollnotiz sämtliche Ansprüche, die aus der Unterschreitung der Flottengröße nach dem Tarifvertrag 2017 für die normunterworfenen Arbeitnehmer*innen resultiert haben, endgültig zum Erlöschen bringen. Der Wortlaut lässt insoweit schon keine Zweifel zu, als danach ohne Differenzierung von "keinen Ansprüchen" die Rede ist und damit unterschiedslos auf alle Ansprüche für die Zeit ab dem 01.01.2018 abgestellt wird. Als Bezugspunkt für die Ansprüche wird ausdrücklich der TV 2017 und als Anlass für die Ansprüche die "Unterschreitung der Flottengröße" genannt. Die Tarifvertragsparteien haben damit erkennbar an die durch das Unterschreiten einer Mindestflottengröße entstehenden bzw. wiederauflebenden tariflichen Ansprüche angeknüpft. Den Normunterworfenen sollten alle Ansprüche aus dem TV 2017 entzogen werden, die aus einem Unterschreiten der in diesem Tarifvertrag festgelegten Mindestanzahl von Flugzeugen resultieren. Eine Begrenzung des Anspruchsverlusts auf die lineare Gehaltsteigerung mit Blick auf den TV 2019 hat in der Protokollnotiz keinerlei Anklang gefunden. Darin wird allein auf den TV 2017 abgestellt. Dem steht zudem entgegen, dass die Tarifvertragsparteien offensichtlich eine klare und eindeutige Rechtslage schaffen und so u.a. einen Schlussstrich unter ihren jahrelangen Streit zur Feststellung der höheren Gewalt im Sinne von IV. 2. Abs. 2 TV 2017 ziehen wollten, der in ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht Frankfurt samt anschließender Mediation gemündet war. Das haben sie unmissverständlich durch den Eingangssatz der Protokollnotiz, wonach die Parteien die Protokollnotiz "im Rahmen der Mediation zum Abschluss eines Gesamtpakets 2021" vereinbart haben. Nach der Vereinbarung der Protokollnotiz vom 05.03.2021 hat die Beklagte dementsprechend ihren Antrag beim Arbeitsgericht Frankfurt zurückgenommen und sowohl die Tarifvertragsparteien haben u.a. mit dem TV Corona am 05.03.2021 als auch die Betriebsparteien haben mit dem Interessenausgleich und Sozialplan im März 2021 "im Rahmen eines Gesamtpakets" weitere Regelungen zur wirtschaftlichen Konsolidierung der Beklagten getroffen.
cc)
Dass die Tarifvertragsparteien sich in der Protokollnotiz nicht an den Begrifflichkeiten des TV 2017 orientiert und keine Aussage zum Bestehen "höherer Gewalt" getroffen haben, führt zu keinem anderen Auslegungsergebnis. Nach der von ihnen in der Protokollnotiz gewählten Formulierung sollte erkennbar allen mit der Flottenunterschreitung zusammenhängenden Ansprüchen aus dem TV 2017 die Grundlage entzogen werden, unabhängig davon, ob das behördlich verordnete Grounding der Boeing 737 objektiv ein Fall höherer Gewalt darstellte oder von ihnen dazu eine einvernehmliche Feststellung getroffen worden war.
3.
Die Protokollnotiz vom 05.03.2021 zum TV 2017 ist nicht wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot unwirksam.
a)
Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Der jüngere Tarifvertrag löst dabei grundsätzlich den älteren ab. Ein Günstigkeitsvergleich gemäß § 4 Abs.3 TVG findet zwischen Tarifverträgen nicht statt. Die Gestaltungswirkung der Tarifvertragsparteien zur rückwirkenden Änderung tarifvertraglicher Regelungen ist allerdings durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes der Normunterworfenen begrenzt. Es gelten insoweit die gleichen Regelungen wie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen. Zu unterscheiden ist danach zwischen echter und unechter Rückwirkung. Eine echte Rückwirkung ist gegeben, wenn eine Rechtsnorm nachträglich in abgeschlossene Sachverhalte eingreift. Unechte Rechtswirkung kommt solchen Normen zu, die auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirken und damit zugleich die getroffene Rechtsposition entwerten. Das ist der Fall, wenn sich belastende Rechtsfolgen erst nach ihrem in Kraft treten realisieren, tatbestandlich aber von einem bereits "ins Werk gesetzten" Sachverhalt ausgelöst werden. Unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig. Der zu beachtende Vertrauensschutz geht nicht so weit, den normunterworfenen Personenkreis vor Enttäuschungen zu bewahren. Die bloße Erwartung, das geltende Recht werde künftig unverändert fortbestehen, ist nicht schutzwürdig. Vielmehr müssen dann besondere Momente der Schutzbedürftigkeit hinzutreten. Einer echten Rückwirkung sind demgegenüber durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes engere Grenzen gesetzt. Die Grundlage für schutzwertes Vertrauen besteht nur dann nicht mehr, wenn und sobald die Normunterworfenen mit einer Änderung des Tarifvertrages rechnen müssen. Das hat zur Voraussetzung, dass bereits vor der Entstehung des Tarifanspruchs hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Tarifvertragsparteien den - zukünftigen - Anspruch zu Ungunsten der Arbeitnehmer ändern werden. Dabei erfordert der Wegfall des Vertrauensschutzes nicht, dass die/der einzelne Tarifunterworfene positive Kenntnis von den maßgeblichen Umständen hat. Entscheidend und ausreichend ist die Kenntnis der betroffenen Kreise (vgl. hierzu BAG, 20.06.2018 - 7 AZR 737/16 - Rn. 23 bis 25 m.w.N.; BAG 06.12.2017 - 10 AZR 575/16 - Rn. 36 ff.).
b)
Bei der gebotenen Zugrundelegung dieser Vorgaben unterliegt es keinen rechtlichen Bedenken, dass die Tarifvertragsparteien die tariflichen Ansprüche aus dem TV 2017 mit der Protokollnotiz vom 05.03.2021 nachträglich beseitigt haben.
aa)
Zunächst greift die Protokollnotiz nicht in bereits entstandene Tarifansprüche der normunterworfenen Cockpitmitarbeiter*innen ein. Der Protokollnotiz kommt keine echte, sondern lediglich unechte Rückwirkung zu.
(1)
Die Ansprüche auf Vergütung für nicht abgerufene Standby Dienste und auf Gewährung einer 2,5 %-igen linearen Gehaltserhörung waren nicht bereits mit dem erstmaligen Unterschreiten der Mindestanzahl von 39 Flugzeugen des Typs Boeing 737 am 01.05.2019 (Beginn des Sommerflugplans) entstanden. Sie standen vielmehr unter der aufschiebenden Bedingung, dass die Tarifvertragsparteien keinen Fall der höheren Gewalt als Ursache hierfür feststellten. Andernfalls würde IV. Ziffer 2 Abs. 2 des TV 2017 trotz der zwangsläufig stets späteren Feststellung dazu führen, dass für einen Zwischenzeitraum zunächst immer ein Anspruch auf die in Rede stehenden finanziellen Leistungen begründet würde. Die Beklagte könnte dann zumindest vorübergehend ihrer Leistungspflicht niemals entgehen, weil der Zeitpunkt der übereinstimmenden Feststellung der Tarifvertragsparteien zum Vorliegen höherer Gewalt nur später als das Ereignis datieren kann, das den Feststellungsbedarf an sich ausgelöst hat. Diese Feststellungen können rein tatsächlich stets erst dann getroffen worden, wenn die Reduzierung der Flottengröße bereits eingetreten ist. Eine andere Sichtweise wäre auch in der praktischen Umsetzung mit erheblichem Aufwand verbunden. Weil die Beklagte die zunächst zu tätigende Zahlungen bei anschließender Feststellung zur höheren Gewalt wieder rückabwickeln müsste/könnte; hätten die Arbeitnehmer*innen ggf. bereits vereinnahmte und ausgegebene finanzielle Mittel zurückzahlen müssen. Dass die Tarifvertragsparteien eine derart unpraktische Regelung treffen wollten, ist nicht anzunehmen. Insgesamt ist deshalb im Rahmen der gebotenen Auslegung davon auszugehen, dass nach dem TV 2017 ab dem behördlich verordneten Einsatzverbot der Boeing 737 ein in der Entwicklung befindlicher Sachverhalt gegeben war, der erst mit der endgültigen Entscheidung beider Tarifvertragsparteien im Hinblick auf die Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt seinen Abschluss finden konnte (vgl. LAG Düsseldorf, 26.08.2021 - 8 Sa 505/21 - Rn. 76).
(2)
Eine solche einvernehmliche Festlegung war vor dem 05.03.2021 unstreitig von den Tarifvertragsparteien nicht getroffen worden. Dem kann nicht entgegengehalten werden, objektiv habe kein Fall von höherer Gewalt vorgelegen. Wenn es nach dem Willen der Tarifvertragsparteien allein auf die objektiven Gegebenheiten und nicht die einvernehmliche Feststellung angekommen wäre, hätte es nahegelegen, den Begriff der höheren Gewalt im TV 2017 zu definieren oder zumindest zu erläutern. Dem haben sie nicht entsprochen, sondern stattdessen erkennbar eine Konsensual- und Verhandlungslösung gewählt, indem sie in IV. Ziffer 2 Abs.2 TV 2017 das Erfordernis einer einvernehmlichen Feststellung der Tarifvertragsparteien aufgestellt haben. Im Falle einer von beiden Seiten nicht beeinflussbaren, unvorhersehbaren Situation sollten Gespräche und Vereinbarungen stattfinden, um eine adäquate Lösung zu finden. Auch wenn im TV 2017 keine Konfliktlösung geregelt worden ist, ist davon auszugehen, dass eine fehlende Zustimmung gegebenenfalls im Klagewege sollte erzwungen werden können. Andernfalls hätte eine Tarifvertragspartei die Feststellung blockiere und so die eindeutig gewollte konsensuale Lösung verhindern können.
(3)
Dementsprechend haben die Tarifvertragsparteien nach Eintritt des behördlichen Flugverbots und der sich daran anschließenden Unterschreitung der vereinbarten Mindestanzahl von Flugzeugen Verhandlungen über die Folgen aufgenommen und die Regelungen zunächst befristet ausgesetzt, dann aufschiebend bedingt und zuletzt in der Protokollnotiz vom 05.03.2021 endgültig gestrichen. Da keine tarifliche Frist für die einvernehmliche Feststellung "höhere Gewalt" gesetzt worden ist, war während des gesamten Zeitraumes offen, ob die Beklagte verpflichtet sein würde, die Vergütung rückwirkend zum 01.01.2018 um 2,5 % zu erhöhen und nicht abgerufene Standby Dienste zu zahlen.
(4)
Daran änderte auch das Ende der Laufzeit des TV 2017 am 31.12.2020 nichts. Damit ist die Verhandlungsobliegenheit bzw. -verpflichtung nicht entfallen. Diese hätte unabhängig von dem vorliegenden Fall ohne Frage auch für solche Flottenunterschreitungen bestanden, die erst kurz vor Ablauf der Laufzeit des TV 2017 eintreten. Dass die Tarifvertragsparteien den Willen hatten, bei einer z.B. erstmals Anfang Dezember 2020 eingetretenen Flottenreduzierung sich für die einvernehmliche Feststellung höherer Gewalt nur Zeit bis zum 31.12.2020 zu gewähren, ist nicht ersichtlich. Das würde zum einen der von ihnen vereinbarten konsensualen Lösung widersprechen und wäre zum anderen wegen des damit verbundenen Zeitdruck unpraktikabel und nicht sachgerecht. Der Sachverhalt und die daran anknüpfenden Ansprüche der Normunterworfenen waren also solange offen, wie die Tarifvertragsparteien entweder keine einvernehmliche Feststellung zur höheren Gewalt getroffen hatten oder dazu eine rechtskräftige Feststellung eines Arbeitsgerichtes erwirkt worden war. Keine dieser Voraussetzungen war am 05.03.2021 gegeben.
(5)
Auf diesen nicht abgeschlossenen Sachverhalt und die daraus resultierenden Rechtsbeziehungen zu den normunterworfenen Arbeitnehmer*innen haben die Tarifvertragsparteien mit der Protokollnotiz vom 05.03.2021 für die Zukunft eingewirkt. Es liegt mithin eine zulässige unechte Rückwirkung vor, durch die schutzwürdige Erwartungen der betroffenen Arbeitnehmer*innen und so auch des Klägers nicht beeinträchtigt worden sind (LAG Düsseldorf aaO, Rn. 79).
bb)
Selbst wenn man gleichwohl von einer echten Rückwirkung ausgehen wollte, ist diese nicht unzulässig, weil der Kläger wie auch das übrige normunterworfene Cockpitpersonal zu keinem Zeitpunkt darauf vertrauen konnte, dass es nicht doch noch zu einer Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt durch die Tarifvertragsparteien kommen oder der TV 2017 mit denselben Folgen für die Existenz der hier streitgegenständlichen Ansprüche von den Tarifvertragsparteien inhaltlich modifiziert werden würde.
(1)
Die Beklagte und der VC führten durchgehend Verhandlungen über die Frage, welche Folge das Unterschreiten der vereinbarten Flottengröße haben sollte. Damit wurde ausweislich des Informationsschreiben der VC vom 25.06.2019 unmittelbar nach Verhängung des Flugverbotes bereits im April 2019 begonnen. Nach den weiter zur Akte gereichten Schreiben beider Tarifvertragsparteien an die Belegschaft dauerten die Verhandlungen den ganzen Sommer 2019 über an. Das wurde in der Protokollnotiz vom 09./17.07.2019 zum TV 2017 bestätigt, worin festgehalten worden ist, dass kein Einvernehmen über das Vorliegen höherer Gewalt hergestellt werden konnte. Die Verhandlungen mündeten im TV 2019, der im Zusammenhang mit der Protokollnotiz vom 13.03.2020 die Ansprüche der normunterworfenen Arbeitnehmer*innen aus dem TV 2017 erkennbar zumindest modifizierte.
(2)
Dass weder die Beklagte noch der VC den Kläger und die anderen Arbeitnehmer*innen über die Fortdauer der Verhandlung einerseits nach dem 31.08.2019 und andererseits dem Ablauf der in der Protokollnotiz "Moratorium" vom 9.04.2020 zum TV 2019 verlängerten und ergebnislos verstrichenen Frist zur Etablierung einer Langstrecke informiert hatten, konnte bei den Normunterworfenen kein Vertrauen in den Bestand ihrer Ansprüche begründen. Unstreitig haben die Tarifvertragsparteien zu keiner Zeit in die Belegschaft kommuniziert, dass sie endgültig keine einvernehmliche Feststellung treffen konnten und/oder wollten. Allein der Umstand, dass die jeweiligen Positionen zeitweilig festgefahren waren und dies der Belegschaft auch mitgeteilt worden ist, bedeutete nicht zugleich, dass die Mitarbeiter*innen davon ausgehen konnten, weitere Verhandlungen bis hin zu einer gerichtlichen Feststellung würden nicht mehr nicht stattfinden. Die Mitarbeiter*innen konnten sich ihrer Ansprüche vielmehr durchgehend nicht sicher sein. Die Belegschaft wurde durch die Schreiben des VC vom 16.08.2019, 04.09.2019 und 10.09.2021 und das Schreiben der Beklagten vom 10.09.20219 über den zwischen den Tarifvertragsparteien bestehenden Dissens informiert. Nach der in der Corona Pandemie erfolgten Weigerung der Beklagten und der T., die beabsichtigte Langstreckenoperation zu etablieren, blieben die Tarifvertragsparteien weiter in Gesprächen und setzten sich eine interne Erklärungsfrist bis zum 31.12.2020. Als der VC eine Verlängerung dieser Frist um ein weiteres Jahr verweigert und seine Mitglieder mit Schreiben vom 17.12.2020 zur Geltendmachung ihrer Ansprüche aufgefordert hatte, reichte die Beklagte noch innerhalb der Laufzeit des TV 2017 im Dezember 2020 beim Arbeitsgericht Frankfurt eine gegen den VC auf Abgabe einer Erklärung zum bzw. auf Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt gerichtete Klage ein. Dieser Rechtstreit dauerte an, bis die Beklagte nach der Einigung vom 05.03.2021 in Gestalt der Protokollnotiz die Klage zurückgenommen hat.
(3)
Von den maßgeblichen Umständen und Entwicklungen besaßen der Kläger bzw. jedenfalls die sogenannten "betroffenen Kreise" auch Kenntnis. Der Umstand des Groundings der Boeing 737 MAX war allgemein bekannt. Aufgrund der Bestimmung im TV 2017 musste den Mitarbeiter*innen bewusst sein, dass die Tarifvertragsparteien wegen der Unterschreitung der Flottengröße zur Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt Gesprächsbedarf haben würden und dazu gemeinsame Feststellungen zu treffen waren. Hiervon wurde die Belegschaft zudem bereits mit Schreiben des VC vom 25.06.2019 und 16.08.2019 in Kenntnis gesetzt. Über den Verhandlungsverlauf im Hinblick auf den im November 2019 abgeschlossenen TV 2019 und die wechselseitigen Standpunkte zur Feststellung des Vorliegens höherer Gewalt wurden die Mitarbeiter der Beklagten mit diversen Schreiben sowohl des VC als auch der Beklagte durchgehend informiert. Dass sich die Feststellung zur höherer Gewalt mit der Ablehnung der Etablierung einer Langstrecke und der damit einhergehenden Nichtgeltung der Bestimmungen in D. TV 2019 im Zusammenhang mit der Protokollnotiz vom 13.03.2020 erledigt haben könnte, konnten die Normunterworfenen bei verständiger Betrachtung nicht annehmen. Die wirtschaftliche Situation der Beklagten hatte sich durch die Corona Pandemie offensichtlich weiter verschlechtert. Soweit der VC u.a. den Kläger mit Schreiben vom 17.12.2020 dazu aufforderte, seine Ansprüche geltend zu machen, bezog sich das erkennbar allein auf die fristwahrende Geltendmachung der Ansprüche und markierte ersichtlich nicht das Ende der Verhandlungen. Nur weil der VC darin weiter ausgeführt hat, die Beklagte habe sein Angebot, die tarifvertraglich vereinbarten Ausschlussfristen für die sich aus dem TV 2017 ergebenden Ansprüche zu verlängern bzw. deren Laufzeit erst später beginnen zu lassen, abgelehnt und stattdessen unannehmbare Gegenvorschläge unterbreitet, folgte daraus das nicht die endgültige Nichtfeststellung höherer Gewalt durch die Tarifvertragsparteien. Einerseits war zu diesem Zeitpunkt die Laufzeit des TV 2017 noch nicht beendet. Die Tarifvertragsparteien hatten mithin auch für den Kläger erkennbar noch Zeit, eine entsprechende Feststellung zu treffen. Andererseits musste der Kläger damit rechnen, dass, soweit diese Feststellung nicht einvernehmlich getroffen werden konnte, die Beklagte den Klageweg bestreiten würde. Ob er positive Kenntnis davon hatte, dass die Beklagte tatsächlich noch im Dezember 2020 eine entsprechende Klage erhoben hatte, kann deshalb dahingestellt bleiben. Erkennbar waren die Tarifvertragsparteien im Dezember 2020 trotz ihrer bis dahin gegensätzlichen Positionen nicht gehindert, entweder gleichwohl noch eine Übereinkunft zu erzielen oder aber den Rechtsweg zu beschreiten.
(5)
Auch nach dem Ende der Laufzeit des TV 2017 am 31.12.2020 konnten die normunterworfenen Arbeitnehmer*innen einschließlich des Klägers nicht auf ein Ausbleiben der Feststellung höherer Gewalt vertrauen. Wie bereits oben ausgeführt, sieht IV. Ziffer 2. Satz 2 TV 2017 zum einen keine Frist für die erforderliche einvernehmliche Feststellung zur höheren Gewalt vor. Zum anderen wird aus der Tarifsystematik des TV 2017 für die betroffenen Kreise erkennbar, dass auch dann, wenn das Ereignis, welches zur Unterschreitung der vereinbarten Flottengröße führt, z.B. erst im Dezember 2020 eintritt, es für die Tarifvertragsparteien ohne Zeitdruck möglich sein muss, über die Laufzeit des Tarifvertrages hinaus Verhandlungen zwecks einvernehmlicher Feststellung zum Vorliegen höherer Gewalt zu führen (vgl. LAG Düsseldorf, aaO, Rn. 83). Bevor eine endgültige Feststellung der Tarifvertragsparteien zur höherer Gewalt im Sinne von IV. Ziffer 2. Abs. 2 TV 2017 weder einvernehmlich noch durch das Arbeitsgericht getroffen war und die Belegschaft davon Kenntnis erhalten hatte, haben die Tarifvertragsparteien sich am 05.03.2021 in der Protokollnotiz zum TV 2017 darauf verständigt, dass dieser Tarifvertrag keine Ansprüche der Arbeitnehmer in Folge der Flottenreduzierung begründen kann.
4.
Ob das im März 2019 behördlich verordnete Grounding der Boeing 737 objektiv ein Fall höherer Gewalt im Sinne des TV 2017 war, bedarf danach keiner Entscheidung. Ebenso wenig mussten die Tarifvertragsparteien dazu vor oder bei Vereinbarung der Protokollnotiz vom 05.03.2021 zum TV 2017 eine einvernehmliche Feststellung im Sinne von IV. Ziffer 2 Abs.2 Satz 2 TV 2017 treffen. Vielmehr war es ihnen unbenommen, mit der Protokollnotiz vom 5.03.2021 im Zuge einer - wie oben ausgeführt - zulässigen unechten bzw. echten Rückwirkung eine für die Normunterworfenen - zeitlich ältere - tarifvertragliche Vergünstigung durch eine - zeitlich nachfolgende, neue - tarifvertragliche Vereinbarung entfallen zu lassen.
C.
Der Kläger hat die Kosten seiner erfolgslosen Berufung gemäß § 97 Abs.1 ZPO zu tragen.
D.
Die Revision war für den Kläger gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG im Hinblick auf das beim BAG anhängige Verfahren zum Az. 5 AZR 27/21 zuzulassen.