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Beschluss vom 13.12.2022 · IWW-Abrufnummer 233649

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern - Aktenzeichen 5 TaBV 10/22

Eine Betriebsvereinbarung ist nur dann wegen Verstoßes gegen die Sperrwirkung eines Tarifvertrages (§ 77 Abs. 3 BetrVG) ganz oder teilweise unwirksam, wenn sie Gegenstände von Tarifverträgen oder deren Anwendbarkeit eigenständig regelt. An einer eigenständigen Regelung (z. B. zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit) fehlt es, wenn eine Betriebsvereinbarung eine tarifvertragliche Bestimmung lediglich deklaratorisch wiedergibt und auf dieser Grundlage Festlegungen für den Betrieb (z. B. zur Schichtplanung) trifft.


Tenor:
1. Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Schwerin vom 24.02.2022 - 5 BV 19/21 - abgeändert, soweit das Arbeitsgericht die Beteiligte zu 2 verpflichtet hat, die Ziffer 10.1 der Betriebsvereinbarung "Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 dergestalt umzusetzen, dass als Sollarbeitszeit 39 Stunden pro Woche zu Grunde gelegt und entsprechend im Arbeitszeitkonto berechnet werden. Insoweit wird der Antrag des Betriebsrats (Beteiligter zu 1) zurückgewiesen.


2. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.


3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.



Gründe



A.



Die Beteiligten streiten im Anschluss an ein vorangegangenes Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nunmehr im Hauptsacheverfahren über die Durchführung einer Betriebsvereinbarung zur Schichtplanung, insbesondere über die Wirksamkeit dieser Betriebsvereinbarung.



Die Arbeitgeberin stellt Lebensmittel bzw. Vorprodukte hierfür her. Sie beschäftigt zurzeit 60 - 70 Arbeitnehmer, die zum Teil in Schichtsystemen arbeiten.



Am 04.03.2019 schloss die Arbeitgeberin mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) einen Haustarifvertrag, in dem es u. a. heißt:



"...



§ 6 Entgeltzahlung



...



Bis zum 31.12.2021 werden die Samstagszuschläge in Höhe von 20 Prozent gezahlt.



...



§ 10 Schlussbestimmungen



Dieser Tarifvertrag tritt am 01.02.2019 in Kraft. Er kann mit einer Frist von 1 Monat, frühestens zum 31.12.2022 gekündigt werden.



Zum 01.01.2022 wird der Manteltarifvertrag (MTV) der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 übernommen.



..."



Der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2009 (im Folgenden nur: MTV) sieht eine 39-Stunden-Woche vor, während bei der Arbeitgeberin bislang eine regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden galt. Nach § 5 MTV erhalten Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen Zuschläge für Mehr-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit. Zuschläge für Samstagsarbeit sind nach dem MTV nicht zu zahlen. Einzelne Arbeitnehmer verfügen jedoch über eine arbeitsvertragliche Zusage zur Zahlung von Samstagszuschlägen.



Zwischen Februar und Mai 2021 fanden insgesamt vier Einigungsstellensitzungen zur künftigen Schichtplangestaltung statt, in denen eine Betriebsvereinbarung erarbeitet wurde.



Mit E-Mail vom 21.06.2021 übersandte die Arbeitgeberin der NGG einen Entwurf zur Ergänzung des Haustarifvertrages in Form einer Protokollnotiz mit dem folgenden Inhalt:



"...



1. Der Manteltarifvertrag für die Obst und gemüseverarbeitende Industrie vom 14.03.2019 wird für die in Schichtarbeit beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Betrieb S. mit Ausnahme der Zuschlagsregelungen in § 5 MTV ab dem 01.07.2021 in Kraft gesetzt.



2. Der den in Schichtarbeit beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gewährte Samstagszuschlag entfällt zum 30.06.2021 dauerhaft ersatzlos. Sollten einzelvertragliche Regelungen die Gewährung des Samstagszuschlages bestimmen, kann eine Verrechnung mit den durch den Tarifvertrag gewährten Vergünstigungen vorgenommen werden.



...."



Am 22.06.2021 unterzeichneten die Beteiligten die folgende



"Betriebsvereinbarung



Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)



...



2 Lage der Arbeitszeit, Beginn und Ende



2.1



Die Arbeit wird geleistet in



- Vollzeit/Teilzeit,



- Schichtarbeit oder



- Gleitzeit.



Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte beträgt derzeit 40 Stunden pro Woche. Ab Januar 2022 reduziert sich die Arbeitszeit für alle Beschäftigten (mit Ausnahme der AT-Angestellten im Sinne von § 1 Buchst. c MTV) auf 39 Stunden pro Woche. Für Teile der Belegschaft gilt die 39-Stunden-Woche bereits mit Abschluss dieser Betriebsvereinbarung. Einzelheiten dazu ergeben sich aus Ziffer 10.1 dieser Betriebsvereinbarung. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten richtet sich nach der vereinbarten wöchentlichen Arbeitszeit.



2.1.1



Im Betrieb wird in den Bereichen gemäß Ziff. 9 (Gleitzeit) an fünf Tagen pro Woche gearbeitet, und zwar Montag bis Freitag.



2.1.2



Die Arbeitszeit im Bereich der Produktion in den Abteilungen Extraktion, Drinkfertigung, UHT-Bedienung, Schichtleitung, Bedienung Palettierung und in der Abteilung Lager findet im vollkontinuierlichen Betrieb an sieben Tagen die Woche statt und ist in Ziffern 6.3 und 6.4 geregelt.



...



3. Allgemeine Regelungen, Pausen und Zuschläge



...



3.3



...



Sofern die Beschäftigung auf Anweisung des Arbeitgebers mehr als 9 Stunden dauert, haben Beschäftigte spätestens nach 9 Stunden eine bezahlte Pause von 15 Minuten zu beginnen.



...



4 Arbeitszeitkonto



...



4.5



Zum 30. Juni 2021 werden die vorhandenen Arbeitszeitkonten an die neuen Grenzwerte angepasst. Dabei werden bis zu 30 Plusstunden übertragen. Die über 30 hinausgehenden Plusstunden werden ausgezahlt (ab der 91. Plusstunde mit Überstundenzuschlägen). Eventuell noch vorhandene Minusstunden werden auf Null gesetzt.



...



6. Zeiten der Schichtarbeit



...



6.4.3



(1) Bringeschichten



Die Beschäftigten im 6-3-Schichtmodell haben zur vollständigen Erfüllung der tariflichen Wochenarbeitszeit pro Geschäftsjahr 4 bis 7 zusätzliche Schichten abzuleisten (Bringeschichten).



...



(3) Vermeidung von Bringeschichten durch den Einsatz von Erholungsurlaub, Schichtfreizeit oder unbezahltem Urlaub



Die Beschäftigten können die Anzahl der notwendigen Bringeschichten auch durch den Einsatz von Erholungsurlaub, den Einsatz der Schichtfreizeit für die Nacht- oder Schichtarbeit nach § 4 MTV oder durch den Einsatz von unbezahltem Urlaub verringern oder gänzlich vermeiden. ...



...



10 Inkrafttreten, Kündigung, Nachwirkung



10.1



Grundlage dieser Betriebsvereinbarung ist die Erklärung des Arbeitgebers, für alle Beschäftigten in Schichtarbeit die Regelungen aus dem Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie in Mecklenburg-Vorpommern vom 2. Juni 2009 nebst den späteren Änderungen (hier als MTV bezeichnet) - insbesondere die 39-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich - bereits mit Wirkung ab dem 1. Juli 2021 anzuwenden. Dieses Versprechen bezieht sich allerdings nicht auf die Zuschlagsregelungen aus § 5 MTV; insoweit bleibt es bis Jahresende 2021 bei den bisher im Betrieb angewendeten Regeln. Dies gilt auch für den Entgelttarifvertrag, der erst wie geplant zum 1. Januar 2022 Geltung erlangt.



...



10.3



Diese Betriebsvereinbarung tritt mit ihrer Unterzeichnung in Kraft, der erste nach dieser Betriebsvereinbarung gestaltete Dienstplan hat Geltung ab dem 1. Juli 2021 (Stichtag).



..."



Am 25.06.2021 fand eine Betriebsversammlung statt, auf der die Beteiligten den Mitarbeitern die neue Betriebsvereinbarung vorstellten. Der Betriebsratsvorsitzende äußerte sich in der Betriebsversammlung dahingehend, dass ein vorzeitiger Wegfall der Samstagszuschläge ab 01.07.2021 nicht vereinbart worden sei.



Nachdem die Verhandlungen mit der NGG über den Abschluss einer Tarifvereinbarung zum Vorziehen der 39-Stunden-Woche bei gleichzeitigem Wegfall der Samstagszuschläge endgültig gescheitert waren, erklärte die Arbeitgeberin mit Schreiben vom 06.07.2021 gegenüber dem Betriebsrat die Anfechtung der Betriebsvereinbarung. In dem Schreiben heißt es:



"...



wir haben soeben über unseren Arbeitgeberverband von der Gewerkschaft NGG erfahren, dass von Seiten der Gewerkschaft der vom Arbeitgeberverband vorgelegte Entwurf einer Tarifvereinbarung zur Einführung der 39 Stundenwoche bei Wegfall der Samstagszuschläge nicht unterschrieben werden wird. Sie wissen, dass dies Voraussetzung und Geschäftsgrundlage unserer Vereinbarung vor der Einigungsstelle bei Abschluss unserer Betriebsvereinbarung war. Wir fechten deshalb hiermit die geschlossene Betriebsvereinbarung wegen Täuschung und Irrtums an.



..."



Die Arbeitgeberin zahlte den Beschäftigten über den 30.06.2021 hinaus Samstagszuschläge. Die Schichten plante sie zwar auf der Grundlage einer 39-Stunden-Woche, legte aber bei den Arbeitszeitkonten weiterhin eine 40-Stunden-Woche zugrunde. Die über 30 Plusstunden hinausgehenden Stunden zahlte sie entgegen Ziffer 4.5 der Betriebsvereinbarung bei mehreren Mitarbeitern nicht nach dem vorgesehenen Stichtag 30.06.2021 aus. Bei einigen Beschäftigten wurden Minusstunden nicht gestrichen. Des Weiteren gewährte die Arbeitgeberin keine bezahlte 15-Minuten-Pause nach einer mehr als 9-stündigen Beschäftigung (Ziffer 3.3 der Betriebsvereinbarung).



Der Betriebsrat hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, dass die Arbeitgeberin nach § 77 Abs. 1 BetrVG verpflichtet sei, die Betriebsvereinbarung durchzuführen. Diese sei wirksam und verstoße nicht gegen § 77 Abs. 3 BetrVG. Die Betriebsvereinbarung regele lediglich Beginn, Ende und Lage der Arbeitszeit. Einen Anfechtungsgrund gebe es nicht. Im Übrigen sei der Rechtsstreit schon aus ökonomischen Erwägungen wenig sinnvoll, da es lediglich um Samstagszuschläge für die Dauer eines halben Jahres in einem Gesamtvolumen von etwa € 17.000,- gehe.



Der Betriebsrat (Beteiligter zu 1) hat - soweit für das Verfahren noch von Bedeutung - erstinstanzlich zuletzt beantragt,



1. die Beteiligte zu 2 anzuhalten, entsprechend Ziffer 4.5 der "Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 den in der Schicht beschäftigten Arbeitnehmern der Beteiligten zu 2



a) die auf den vorhandenen individuellen Arbeitszeitkonten zum Ende des Stichtags 30.06.2021 über 30 Stunden hinausgehenden Plusstunden bis zur 90. Plusstunde einschließlich ohne Überstundenzuschläge und ab der 91. Plusstunde mit Überstundenzuschlägen jeweils auch ohne gesonderten Antrag der Betroffenen auszuzahlen, und



b) die gegebenenfalls auf den vorhandenen individuellen Arbeitszeitkonten zum Endes des Stichtags 30.06.2021 noch vorhandenen Minusstunden auf Null zu setzen,



2. es der Beteiligten zu 2 aufzugeben, es zu unterlassen, gegen die "Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 zu verstoßen, indem sie den in Schicht beschäftigten Arbeitnehmern der Beteiligten zu 2



a) bei einer auf Anordnung der Arbeitgeberin geleisteten Arbeitszeit von mehr als 9 Stunden entgegen der Ziffer 3.3 Abs. 2 der Betriebsvereinbarung keine bezahlte Pause von 15 Minuten Dauer gewährt und als Arbeitszeit dem Arbeitszeitkonto zuführt,



b) eine Sollarbeitszeit von 40 Stunden pro Wochen statt 39 Stunden pro Woche entsprechend Ziffer 10.1 der BV vorgibt und dem Arbeitszeitkonto berechnet/zugrunde legt.



Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) hat beantragt, die Anträge des Betriebsrats zurückzuweisen, und widerantragend



1. festzustellen, dass die "Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 ab dem 06.07.2021 nicht anzuwenden ist,



- hilfsweise -



2. festzustellen, dass die "Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 ab dem 06.07.2021 nicht anzuwenden ist, soweit es in Ziffer 2.1 heißt: 'Für Teile der Belegschaft gilt die 39-Stunden-Woche sowie die Regelung über die Freischichten gemäß § 4 MTV bereits mit Abschluss dieser Betriebsvereinbarung.'



Die Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung sei nach § 77 Abs. 3 BetrVG, jedenfalls aber aufgrund der Anfechtung unwirksam. Die Betriebsparteien seien sich einig gewesen, dass bei den Schichtarbeitnehmern mit einem Vorziehen der 39-Stunden-Woche auf den 01.07.2021 ein Wegfall der Samstagszuschläge ab diesem Zeitpunkt verbunden sein solle. Beides könne nur durch Tarifvertrag geregelt werden. Da es bereits Vorabsprachen mit der Gewerkschaft hierzu gegeben habe, sei der auch am Einigungsstellenverfahren beteiligte Verbandsvertreter nach Treu und Glauben davon ausgegangen, dass eine entsprechende Tarifregelung zustande kommen werde. Der Betriebsrat sei in den Verhandlungen mit einem Wegfall der Samstagszuschläge bei einer vorzeitigen Einführung der 39-Stunden-Woche einverstanden gewesen. Die Sperrwirkung aus § 77 Abs. 3 BetrVG greife selbst dann, wenn eine Betriebsvereinbarung lediglich die Übernahme eines Tarifvertrages festlege. Eine Gesamtzusage an die Arbeitnehmer dergestalt, dass die 39-Stunden-Woche auf den 01.07.2021 vorgezogen werde, habe die Arbeitgeberin nicht abgegeben. Sie habe lediglich in der Einigungsstelle ihre Bereitschaft erklärt, die 39-Stunden-Woche für die im Schichtdienst Tätigen schon zum 01.07.2021 einzuführen, wenn im Gegenzug ab diesem Zeitpunkt keine Samstagszuschläge mehr zu zahlen seien. Eine Erklärung gegenüber den Beschäftigten habe es aber nicht gegeben. Darüber hinaus ziehe die Betriebsvereinbarung aber auch § 4 MTV vor, nach dem es je 25 geleisteter Nachtschichten im vollkontinuierlichen Schichtsystem eine Freischicht gebe. Auch dieser Verstoß gegen die Sperrwirkung des Tarifvertrages führe zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Der Wegfall von Samstagszuschlägen sei Geschäftsgrundlage für die vorgezogene Einführung der 39-Stunden-Woche gewesen. Im Übrigen mache der Betriebsrat nicht eigene, sondern Individualansprüche der Arbeitnehmer geltend.



Der Betriebsrat hat beantragt, die Wideranträge der Arbeitgeberin zurückzuweisen. Da die Betriebsvereinbarung wirksam sei, sei sie anzuwenden. Abgesehen davon gebe es eine Regelung des Inhalts, wie sie die Arbeitgeberin mit dem Hilfsantrag angreife, überhaupt nicht. Die Arbeitgeberin zitiere die Betriebsvereinbarung falsch.



Das Arbeitsgericht hat den Anträgen des Betriebsrats, soweit diese Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind, entsprochen und die Wideranträge der Arbeitgeberin zurückgewiesen. Das Arbeitsgericht hat sich der Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts in dem vorangegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung angeschlossen. Das Landesarbeitsgericht ist in dem Beschluss vom 07.12.2021 - 5 TaBVGa 1/21 - davon ausgegangen, dass die vorzeitige Anwendung von Bestandteilen des zum 01.01.2022 in Kraft tretenden Manteltarifvertrages nicht Regelungsgegenstand der Betriebsvereinbarung sei, weshalb ein Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG nicht vorliege.



Hiergegen wendet sich die Arbeitgeberin mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Beschwerde. Das Arbeitsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Betriebsvereinbarung die Arbeitgeberin nicht zu einer vorzeitigen Einführung der 39-Stunden-Woche der in Schicht Beschäftigten verpflichte, und habe deshalb einen Verstoß gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verneint. Jedenfalls führe die Anfechtung zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung. Dem Betriebsrat sei bekannt und bewusst gewesen, dass die Arbeitgeberin nur dann zu einer Einführung der 39-Stunden-Woche bereit gewesen sei, wenn zugleich die Verpflichtung zur Zahlung von Samstagszuschlägen wegfalle. Hätte die Arbeitgeberin gewusst, dass sich der Betriebsrat nicht an die Absprache zum Wegfall der Samstagszuschläge halten würde, hätte sie einer vorzeitigen Verkürzung der Wochenarbeitszeit niemals zugestimmt. Darüber hinaus stehe der Arbeitgeberin ein Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht nach § 313 BGB (Störung der Geschäftsgrundlage) zu. Die Arbeitgeberin hätte die Betriebsvereinbarung ohne einen Wegfall der Samstagszuschläge niemals abgeschlossen. Der Betriebsrat habe seine wahre Haltung zur Frage der Samstagszuschläge erst nach Abschluss der Betriebsvereinbarung offenbart. Ein weiteres Festhalten an der Betriebsvereinbarung sei der Arbeitgeberin nicht zumutbar, weshalb ihr wegen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage ein außerordentliches Kündigungsrecht zustehe.



Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 2) beantragt,



den Beschluss des Arbeitsgerichts Schwerin vom 24.02.2022, Aktenzeichen 5 BV 19/21, abzuändern und



1. die Anträge des Betriebsrats zurückzuweisen sowie



- widerantragend -



2. a) festzustellen, dass die Betriebsvereinbarung "Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 ab dem 06.07.2021 nicht anzuwenden ist,



- hilfsweise -



b) festzustellen, dass die "Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung (zur Regelung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeiten und Lage der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeiten und Pausen auf die einzelnen Wochentage gemäß § 87 I Ziff. 2 und 3 BetrVG)" vom 22.06.2021 ab dem 06.07.2021 nicht anzuwenden ist, soweit es in Ziffer 2.1 heißt: 'Für Teile der Belegschaft gilt die 39-Stunden-Woche sowie die Regelung über die Freischichten gemäß § 4 MTV bereits mit Abschluss dieser Betriebsvereinbarung.'



Der Betriebsrat (Beteiligter zu 1) beantragt,



die Beschwerde der Arbeitgeberin zurückzuweisen.



Er verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Welche Erwägungen Gegenstand des Einigungsstellenverfahrens gewesen seien, habe keine Bedeutung. Darauf komme es nicht einmal bei einer Betriebsvereinbarung an, die auf einem Spruch der Einigungsstelle beruhe. Unabhängig davon sei die Arbeitgeberin jedoch davon ausgegangen, dass Änderungsverträge mit den Arbeitnehmern nicht notwendig seien, da angesichts früherer Arbeitsverträge im Zusammenhang mit der Einführung des Haustarifvertrages im Jahr 2019 mit ausreichender Sicherheit von einem Wegfall der Samstagszuschläge bei einer vorzeitigen Anwendung des MTV auszugehen sei.



Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle und auf die erstinstanzliche Entscheidung sowie auf das Vorbringen und die Beschlüsse in dem vorangegangenen Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung (Arbeitsgericht Schwerin, Aktenzeichen 5 BVGa 4/21; Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern, Aktenzeichen 5 TaBVGa 1/21) Bezug genommen.



B.



Die Beschwerde ist zulässig, aber nur zum Teil begründet.



I.



Der Betriebsrat hat aus § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG einen Anspruch gegenüber der Arbeitgeberin auf Durchführung der Regelungen zu Ziffer 4.5 und Ziffer 3.3 Abs. 2 der Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung vom 22.06.2021. Nach Ziffer 3.3 Abs. 2 haben Beschäftigte, sofern sie auf Anweisung des Arbeitgebers mehr als 9 Stunden arbeiten, spätestens nach 9 Stunden eine bezahlte Pause von 15 Minuten anzutreten. Nach Ziffer 4.5 sind die über 30 Stunden hinausgehenden Plusstunden zum Ablauf des 30.06.2021 auszuzahlen und eventuell vorhandene Minusstunden auf Null zu setzen.



Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG führt der Arbeitgeber Vereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber, auch soweit sie auf einem Spruch der Einigungsstelle beruhen, durch, es sei denn, dass im Einzelfall etwas anderes vereinbart ist.



Diese Vorschrift grenzt nicht nur die Kompetenzen der Betriebspartner zueinander ab, indem sie dem Arbeitgeber die alleinige Führung des Betriebs überlässt und einseitige Eingriffe des Betriebsrats in die Betriebsführung verbietet, sondern sie verpflichtet auch den Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat, solche Vereinbarungen ihrem Inhalt entsprechend im Betrieb anzuwenden. Der Betriebsrat kann daher vom Arbeitgeber aus der betreffenden Betriebsvereinbarung iVm. § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG auch deren Durchführung im Betrieb verlangen (BAG, Beschluss vom 18. Mai 2010 - 1 ABR 6/09 - Rn. 16, juris = NZA 2010, 1433).



1.



Eine betriebsverfassungsrechtliche Streitigkeit entfällt nicht schon deshalb, weil durch die Auseinandersetzung über Inhalt, Reichweite oder Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung wegen deren normativen Wirkung auch individualrechtliche Rechtspositionen der unter ihren Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer betroffen sind. Entscheidend ist, ob sich das Verfahren auf das betriebsverfassungsrechtliche Verhältnis der Betriebspartner bezieht (BAG, Beschluss vom 18. Januar 2005 - 3 ABR 21/04 - Rn. 35, juris = NZA 2006, 167).



Der betriebsverfassungsrechtliche Anspruch auf Durchführung der Betriebsvereinbarung ist von den durch sie begründeten individualrechtlichen Ansprüchen zu unterscheiden. Diese Ansprüche kann der Betriebsrat nicht im eigenen Namen geltend machen. Das Betriebsverfassungsrecht hat ihm nicht die Rolle eines gesetzlichen Prozessstandschafters zugewiesen. Dementsprechend darf der Individualrechtsschutz nicht auf das Verhältnis Arbeitgeber/Betriebsrat verlagert werden. Die Arbeitnehmer können nicht die Kosten für die Geltendmachung ihrer Individualrechte durch Einschaltung des Betriebsrats auf den Arbeitgeber abwälzen. Für die Abgrenzung sind nicht die Formulierungskünste des Antragstellers ausschlaggebend. Entscheidend ist, was der Betriebsrat mit seinem Antrag letztlich begehrt (BAG, Beschluss vom 18. Januar 2005 - 3 ABR 21/04 - Rn. 36, juris = NZA 2006, 167).



Der Auslegungsstreit muss den Inhalt der in der Betriebsvereinbarung getroffenen Abreden betreffen. Die Auslegung der gesetzlichen Vorschriften und Tarifverträge ist keine betriebsverfassungsrechtliche Angelegenheit. Soweit die Betriebsvereinbarung keine Regelung enthält und der Arbeitgeber tarifliche oder gesetzliche Vorschriften vollzieht, hat der Betriebsrat keinen betriebsverfassungsrechtlichen Durchführungsanspruch (BAG, Beschluss vom 18. Januar 2005 - 3 ABR 21/04 - Rn. 37, juris = NZA 2006, 167).



Der beteiligte Betriebsrat begehrt mit seinen Anträgen die vollständige Durchführung der Betriebsvereinbarung, was die Arbeitgeberin ablehnt. Zu diesem Zweck hat er verschiedene Regelungen der Betriebsvereinbarung herausgegriffen, die die Arbeitgeberin im Hinblick auf die von ihr geltend gemachte Unwirksamkeit nicht umgesetzt hat. Die Anträge des Betriebsrats zielen nicht darauf, Ansprüche einzelner Arbeitnehmer, die sie ansonsten selbst geltend machen müssten, durchzusetzen. Die Anträge beziehen sich nicht auf einzelne Arbeitnehmer und deren konkrete Forderungen, sondern betreffen jeweils bestimmte Teile der Belegschaft. Der Betriebsrat strebt letztlich eine grundsätzliche Klärung an, dass die Arbeitgeberin die Betriebsvereinbarung Schichtplangestaltung anzuwenden hat, was die Arbeitgeberin ohne jegliche Einschränkung verweigert.



2.



Die Betriebsvereinbarung vom 22.06.2021 ist nicht insgesamt oder teilweise hinsichtlich der streitgegenständlichen Inhalte unwirksam. Sie verstößt weder gegen höherrangiges Recht noch führt die Anfechtungserklärung zu ihrer Nichtigkeit. Auch ist sie nicht aufgrund eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage außerordentlich kündbar.



a) Die Betriebsvereinbarung ist nicht wegen Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG unwirksam.



Nach dieser Vorschrift können Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Eine tarifliche Regelung von Arbeitsbedingungen liegt vor, wenn sie in einem Tarifvertrag enthalten sind und der Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich dieses Tarifvertrags fällt (BAG, Urteil vom 23. Januar 2018 - 1 AZR 65/17 - Rn. 16, juris = NZA 2018, 871). Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG dient der Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie sowie der Erhaltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen. Sie soll verhindern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend - und sei es inhaltsgleich - in Betriebsvereinbarungen geregelt werden. Dementsprechend können die Betriebsparteien weder Bestimmungen über Tarifentgelte treffen noch über deren Höhe disponieren. Das gilt selbst dann, wenn die von ihnen getroffene Regelung für die Arbeitnehmer günstiger ist als diejenige der Tarifvertragsparteien (BAG, Urteil vom 23. Januar 2018 - 1 AZR 65/17 - Rn. 17, juris = NZA 2018, 871).



Die Betriebsvereinbarung vom 22.06.2021 verpflichtet die Arbeitgeberin nicht dazu, für die Beschäftigten in Schichtarbeit die 39-Stunden-Woche - mit oder ohne vollem Lohnausgleich - schon ein halbes Jahr früher als für alle anderen Beschäftigten einzuführen.



Betriebsvereinbarungen sind wegen ihres normativen Charakters nach den für Tarifverträge und für Gesetze geltenden Grundsätzen auszulegen. Dabei ist vom Wortlaut der Bestimmung und dem durch ihn vermittelten Wortsinn auszugehen. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang der Regelungen, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Betriebsparteien geben kann. Soweit kein eindeutiges Auslegungsergebnis möglich ist, kommen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Auslegungskriterien wie etwa eine regelmäßige Anwendungspraxis oder die Normengeschichte in Betracht. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führt (z. B. BAG, Urteil vom 03. Juni 2020 - 3 AZR 730/19 - Rn. 54 = NZA 2021, 347).



Nach diesen Auslegungsgrundsätzen ist der Satz unter Ziffer 2.1 der Betriebsvereinbarung



"Für Teile der Belegschaft gilt die 39-Stunden-Woche bereits mit Abschluss dieser Betriebsvereinbarung."



nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang mit den weiteren Bestimmungen der Betriebsvereinbarung zu betrachten. Das gilt schon deshalb, weil bereits in dem sich anschließenden Satz wegen der Einzelheiten hierzu ausdrücklich auf Ziffer 10.1 der Betriebsvereinbarung verwiesen wird.



Ziffer 2 der Betriebsvereinbarung regelt dem Wortlaut nach die "Lage der Arbeitszeit, Beginn und Ende". Im Betriebsverfassungsrecht wird üblicherweise zwischen den Begriffen "Lage der Arbeitszeit" und "Dauer der Arbeitszeit" unterschieden. Unter das Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG fällt nur die Lage der Arbeitszeit, nicht deren Dauer. Die Trennung zwischen Dauer und Lage der Arbeitszeit kommt auch in der Überschrift der Betriebsvereinbarung zum Ausdruck. Dort ist der Regelungsgegenstand anhand des Mitbestimmungsrechts eindeutig bezeichnet.



Soweit unter Ziffer 2.1 der Betriebsvereinbarung die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit erwähnt ist, hat diese Angabe eine rein deklaratorische Funktion. Der gesamte Absatz beschreibt lediglich die Ausgangssituation, und zwar bis hin zum letzten Satz, in dem festgehalten ist, dass sich die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit der Teilzeitbeschäftigten nach der jeweiligen Vereinbarung mit ihnen richtet. Die Wiedergabe der aktuellen und der zukünftigen Regelungen zur Dauer der Arbeitszeit bezieht sich eindeutig auf den Tarifvertrag und dient allein dem besseren Verständnis. Dafür spricht auch die Zitierung des Tarifvertrages im Zusammenhang mit den AT-Angestellten. Sinn und Zweck der Ausführungen zur aktuell und zukünftig geltenden regelmäßigen Wochenarbeitszeit ist es nicht, diese zum Gegenstand der Betriebsvereinbarung zu machen und in der Betriebsvereinbarung nochmals zu regeln, sondern die auf dieser Grundlage vereinbarten betrieblichen Regelungen nachvollziehbar zu machen.



Da die vorzeitige Geltung der 39-Stunden-Woche für die in Schichtarbeit Beschäftigten nicht tarifvertraglich oder anderweitig geregelt war, sahen es die Beteiligten zur Vermeidung von Missverständnissen als notwendig an, hierzu eine weitere Erläuterung in die Betriebsvereinbarung aufzunehmen. Diese findet sich unter Ziffer 10.1. Danach beruht die vorgezogene Anwendung des Manteltarifvertrages, insbesondere der 39-Stunden-Woche, nicht auf der Betriebsvereinbarung, sondern auf einer "Erklärung des Arbeitgebers" bzw. auf einem "Versprechen" des Arbeitgebers. Wie diese "Erklärung des Arbeitgebers" inhaltlich ausgestaltet ist und in welcher rechtlichen Form sie abgegeben wird, ergibt sich aus der Betriebsvereinbarung nicht. In Betracht kam der Abschluss eines (Änderungs-/Ergänzungs-)Tarifvertrages mit der NGG, aber auch eine individualvertragliche Regelung mit den im Schichtdienst tätigen Arbeitnehmern, ggf. die Abgabe einer Gesamtzusage. Die Betriebsvereinbarung enthält hierzu keinerlei Vorgaben. Die Bezugnahme auf eine Erklärung der Arbeitgeberin macht deutlich, dass die Betriebsvereinbarung gerade nicht die vorgezogene Anwendung von Teilen des MTV regelt. Vielmehr bedarf es hierzu einer gesonderten Erklärung der Arbeitgeberin, die erkennbar nicht Bestandteil der Betriebsvereinbarung selbst ist.



Die Erläuterung unter Ziffer 10.1 wären überflüssig und widersprüchlich, wenn sich bereits unmittelbar aus der Betriebsvereinbarung eine Regelung zur Dauer der Arbeitszeit für die in Schicht Beschäftigten ergeben würde. Die eingeschränkte vorgezogene Anwendung des MTV ist nur "Grundlage", nicht aber "Gegenstand" der Betriebsvereinbarung. Die Beteiligten haben ihren Willen, nicht in tarifvertragliche Arbeitsbedingungen einzugreifen, hinreichend deutlich gemacht, indem sie auf eine gesonderte Erklärung der Arbeitgeberin verwiesen haben. Ob die Arbeitgeberin eine solche Erklärung abgegeben hat, ist für den hier geltend gemachten Anspruch auf Durchführung der Betriebsvereinbarung nicht von Bedeutung. Die von der Arbeitgeberin angestrebte tarifvertragliche Regelung ist jedenfalls nicht zustande gekommen. Einzelvertragliche Vereinbarungen mit den in Schicht beschäftigten Arbeitnehmern liegen ebenfalls nicht vor.



Die Betriebsvereinbarung verstößt auch nicht gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, als es unter Ziffer 6.4.3 Abs. 3 heißt:



"Die Beschäftigten können die Anzahl der notwendigen Bringeschichten auch durch den Einsatz von Erholungsurlaub, den Einsatz der Schichtfreizeit für die Nacht- oder Schichtarbeit nach § 4 MTV oder durch den Einsatz von unbezahltem Urlaub verringern oder gänzlich vermeiden."



Diese Bestimmung regelt nicht eine vorgezogene Anwendbarkeit des § 4 MTV. Sie zählt lediglich verschiedene Möglichkeiten auf, um die sogenannten Bringeschichten zu verringern. Dazu gehört u. a. die Schichtfreizeit nach dem MTV, die mit dessen Inkrafttreten zu gewähren ist. Wann der MTV - ganz oder teilweise - in Kraft tritt, ist dort nicht festgelegt. Mit Inkrafttreten des MTV zum 01.01.2022 konnten die Arbeitnehmer diese Variante zur Verringerung der Bringeschichten nutzen.



b) Die Anfechtungserklärung der Arbeitgeberin führt nicht zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung, da es an einem Anfechtungsgrund fehlt.



Nach § 123 Abs. 1 BGB kann derjenige, der widerrechtlich durch Drohung zur Abgabe einer Willenserklärung bestimmt worden ist, die Willenserklärung mit der Nichtigkeitsfolge des § 142 Abs. 1 BGB anfechten.



Eine arglistige Täuschung im Sinne von § 123 Abs. 1 BGB setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass der Täuschende durch Vorspiegelung oder Entstellung von Tatsachen beim Erklärungsgegner einen Irrtum erregt und ihn hierdurch zur Abgabe einer Willenserklärung veranlasst hat. Dabei muss sich die Täuschung auf objektiv nachprüfbare Tatsachen beziehen. Die Äußerung subjektiver Werturteile genügt nicht. Eine Täuschung kann auch in dem Verschweigen von Tatsachen bestehen, sofern der Erklärende zu deren Offenbarung verpflichtet war. Das subjektive Merkmal "Arglist" liegt vor, wenn der Täuschende weiß oder billigend in Kauf nimmt, dass seine Behauptungen nicht der Wahrheit entsprechen oder mangels Offenbarung bestimmter Tatsachen irrige Vorstellungen beim Erklärungsgegner entstehen oder aufrechterhalten werden; Fahrlässigkeit - auch grobe Fahrlässigkeit - genügt insoweit nicht (BAG, Urteil vom 11. Juli 2012 - 2 AZR 42/11 - Rn. 22, juris = NZA 2012, 1316).



Der Betriebsrat hat bei der Arbeitgeberin keinen Irrtum über objektiv nachprüfbare Tatsachen erzeugt. Der Betriebsrat hat Tatsachen nicht falsch dargestellt. Dass die von der Arbeitgeberin angestrebte Tarifvereinbarung zum Zeitpunkt des Abschlusses der Betriebsvereinbarung noch nicht zustande gekommen war, wusste diese. Die Arbeitgeberin mag davon ausgegangen sein, dass die Gewerkschaftsmitglieder im Betrieb eine entsprechende tarifvertragliche Regelung unterstützen würden und dass diese zustande kommen werde. Diese Erwartung beruhte allerdings nicht auf einer unrichtigen Darstellung von Tatsachen durch den Verhandlungspartner, also dem Betriebsrat.



c) Die Arbeitgeberin war nicht berechtigt, die Betriebsvereinbarung wegen Störung der Geschäftsgrundlage außerordentlich zu kündigen.



Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit anderem Inhalt geschlossen, wenn sie diese Veränderung vorausgesehen hätten, so kann eine Anpassung des Vertrags verlangt werden, soweit einem Teil unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung, das Festhalten am unveränderten Vertrag nicht zugemutet werden kann (§ 313 Abs. 1 BGB). Einer Veränderung der Umstände steht es gleich, wenn wesentliche Vorstellungen, die zur Grundlage des Vertrags geworden sind, sich als falsch herausstellen (§ 313 Abs. 2 BGB). Ist eine Anpassung des Vertrags nicht möglich oder einem Teil nicht zumutbar, so kann der benachteiligte Teil vom Vertrag zurücktreten. An die Stelle des Rücktrittsrechts tritt für Dauerschuldverhältnisse das Recht zur Kündigung (§ 313 Abs. 3 BGB).



Ob das Zustandekommen eines Tarifvertrages mit dem von der Arbeitgeberin beabsichtigten Inhalt Geschäftsgrundlage der Betriebsvereinbarung geworden ist oder nur eine - letztlich enttäuschte - Erwartung der Arbeitgeberin war, kann dahinstehen. Die Betriebsvereinbarung führte jedenfalls nicht für die Dauer eines halben Jahres zu einer unzumutbaren Belastung der Arbeitgeberin. Die Betriebsvereinbarung verpflichtet die Arbeitgeberin nicht, Regelungen des zum 01.01.2022 in Kraft tretenden MTV auf den 01.07.2021 vorzuziehen. Sie greift in keiner Weise in das geltende Tarifrecht und dessen weitere Entwicklung ein, und zwar weder hinsichtlich der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit noch hinsichtlich der Samstagszuschläge. Die Arbeitgeberin musste aufgrund der Betriebsvereinbarung im 2. Halbjahr 2021 keine ihr nicht zumutbaren Leistungen an die Arbeitnehmer erbringen. Die Arbeitgeberin konnte und kann die Betriebsvereinbarung durchführen, ohne unangemessene Nachteile im Hinblick auf die vertragliche oder gesetzliche Risikoverteilung zu erleiden.



II.



Der Betriebsrat hat keinen Anspruch aus § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG iVm. der Betriebsvereinbarung vom 22.06.2021, dass die Arbeitgeberin im 2. Halbjahr 2021 bei den in Schicht beschäftigten Arbeitnehmern eine Sollarbeitszeit von 39 Stunden pro Woche zugrunde legt. Eine derartige Verpflichtung ist gerade nicht Bestandteil der Betriebsvereinbarung. Die Ziffern 2.1/10.1 der Betriebsvereinbarung regeln nicht die Dauer der Wochenarbeitszeit, sondern nehmen lediglich Bezug auf eine gesonderte Erklärung der Arbeitgeberin. Auf die obigen Ausführungen wird verwiesen.



III.



Die Wideranträge sind nicht begründet. Die von der Arbeitgeberin geltend gemachten Einwände führen nicht, wie oben dargelegt, zur Unwirksamkeit der Betriebsvereinbarung in Gänze oder hinsichtlich der angegriffenen Bestandteile.



Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor. Das Verfahren wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

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