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Urteil vom 16.01.2023 · IWW-Abrufnummer 233916

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Aktenzeichen 1 Sa 12/20

1. Die Tätigkeiten einer Beschäftigten in einer gerichtlichen Serviceeinheit stellen jedenfalls ganz überwiegend einen einheitlichen "großen" Arbeitsvorgang im Tarifsinn dar (im Anschluss an BAG 9. September 2020 - 4 AZR 195/20 und 4 AZR 196/20). Die Aufteilung der Tätigkeit in zahlreiche einzelne Arbeitsvorgänge widerspricht der gewollten ganzheitlichen Bearbeitungsweise in den gerichtlichen Geschäftsstellen und damit der gebotenen natürlichen Betrachtungsweise (entgegen LAG Mecklenburg-Vorpommern 16. August 2022 - 5 Sa 174/21 ).

2. Laufen aufgrund der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einzelne Entgeltgruppen "leer", so ist es die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, durch eine Änderung der Entgeltordnung, die einerseits der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und andererseits den geänderten organisatorischen Rahmenbedingungen in den Gerichten und Staatsanwaltschaften Rechnung trägt, eine hierarchische Abstufung der tariflichen Eingruppierungen der Beschäftigten im Justizdienst wiederherzustellen.


In der Rechtssache
- Beklagte/Berufungsklägerin -
Proz.-Bev.:
gegen
- Klägerin/Berufungsbeklagte -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 1. Kammer - durch den
Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Dr. Natter, die ehrenamtliche Richterin Dankesreiter und die ehrenamtliche Richterin Heil auf die mündliche Verhandlung vom 16.01.2023
für Recht erkannt:

Tenor:
I. Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm vom 19.10.2020 - 4 Ca 161/19 - teilweise abgeändert:


1. Es wird festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, die Klägerin seit dem 01.05.2018 nach der Entgeltgruppe 9 und ab dem 01.01.2019 nach der Entgeltgruppe 9a TV-L zu vergüten und die jeweiligen Bruttonachzahlungsbeträge ab dem 01.06.2018 bzw. dem Monatsersten der darauffolgenden Monate mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu verzinsen.


2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.


II. Die weitergehende Berufung des beklagten Landes wird zurückgewiesen.


III. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu 10 % und das beklagte Land zu 90 % zu tragen.


IV. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten über die tarifgerechte Eingruppierung der Klägerin.



Die am ... geborene, verheiratete Klägerin trat nach einer Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 29. Juni 1992 am 1. Juli 1992 bei dem beklagten Land als Geschäftsstellenverwalterin beim Verwaltungsgericht S. ein. Auf das Arbeitsverhältnis fand ursprünglich der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) Anwendung. Die Klägerin war in die Vergütungsgruppe IXb BAT eingruppiert.



Zum 1. November 2006 wurde das Arbeitsverhältnis in den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (im Folgenden: TV-L) übergeleitet. Die Klägerin war nunmehr in die Entgeltgruppe 5 eingruppiert. Mit Verfügung vom 25. April 2008 (Anlage B 1) wurden ihr die Aufgaben einer Kostenbeamtin übertragen. Durch Änderungsverträge, zuletzt vom 10. Oktober 2013, wurde zum 1. April 2015 die Arbeitszeit auf 75 % vereinbart. Mit Änderungsvertrag vom 6. März 2015 wurde die Klägerin in die Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 4 TV-L eingruppiert. Zuletzt wurde die Arbeitszeit auf 100%, befristet bis 31. Dezember 2021, aufgestockt.



Die Klägerin ist derzeit Mitglied einer großen Serviceeinheit, die aktuell insgesamt zwölf Beamte und Angestellte umfasst. Ihr ist die Primärzuständigkeit für die x. Kammer übertragen. Im Rahmen ihrer Aufgaben erledigt sie alle Arbeiten in der Geschäftsstelle im Sinne einer ganzheitlichen Aktenbearbeitung, ausgenommen Kostenfestsetzungen, die in einer Serviceeinheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit anfallen.



Am 17. August 2018 richtete die Klägerin ein Schreiben mit folgendem Wortlaut an die Verwaltungsleiterin des Verwaltungsgerichts:

"Sehr geehrte Frau L.,das Bundesarbeitsgericht hat mit Urteil vom 28.02.2018 - 4 AZR 816/16 - dem Grundsatz nach entschieden, dass die Tätigkeit von Beschäftigten in Serviceeinheiten bei Bundesgerichten im Regelfall eine Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 a TVöD/Bund rechtfertigt.Ich beantrage eine Überprüfung und gegebenenfalls eine Höhergruppierung in die angemessene Entgeltstufe zum frühestmöglichen Zeitpunkt.Mit freundlichen Grüßen"



Mit Schreiben ihres früheren Prozessbevollmächtigten vom 22. November 2018 machte die Klägerin Ansprüche auf Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 ab 1. Januar 2018, hilfsweise der Entgeltgruppe 8, geltend und bat um die Erstellung einer Tätigkeitsbewertung. Hierauf fertigte die Verwaltungsleiterin des Verwaltungsgerichts unter dem Datum vom 8. Februar 2019 eine Tätigkeitsdarstellung und -bewertung an (Anlage K 1), die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:



Die Verwaltungsleiterin gelangte aufgrund dieser Tätigkeitsdarstellung zu folgender tariflichen Bewertung:

- 78 %: Geschäftsstellenverwaltung: EG 6 Fg. 4- 2 %: Heranziehung und Ladung der ehrenamtlichen Richter: EG 6 Fg. 2- 8 % Aufgaben des Kostenbeamten: EG 6 Fg. 2- 5 %: Richterassistenz: EG 6 Fg. 2- 6 %: Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen: EG 6 Fg. 2- 1 %: Einarbeitung neuer Kollegen: EG 6 Fg. 2



Mit ihrer am 29. März 2019 eingegangenen Klage begehrt die Klägerin eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9(a), hilfsweise 8. Sie trug vor, die erstellte Tätigkeitsbewertung sei unzutreffend. Sie widerspreche den Grundsätzen, die das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 28. Februar 2018 entwickelt habe. Hiernach seien sämtliche von ihr ausgeübten Tätigkeiten einem einheitlichen Arbeitsvorgang zuzuordnen. Das maßgebliche Arbeitsergebnis sei bei natürlicher Betrachtung die Betreuung der Aktenvorgänge in der Serviceeinheit vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens. Es sei nicht bereits bei der Bildung von Arbeitsvorgängen zwischen "gewöhnlichen" und "schwierigen" Tätigkeiten zu unterscheiden. Im vorliegenden Fall sei die Herausnahme schwieriger Arbeitsschritte weder organisierbar noch faktisch so vollzogen.



Nach der Tätigkeitsdarstellung seien 22 % ihrer Tätigkeiten als "schwierige" Tätigkeiten im Sinne der Nummer 3 der Protokollerklärung zu Abschnitt 12 der Entgeltordnung zum TV-L anzusehen, nämlich die Ladung der ehrenamtlichen Richter, die Aufgaben des Kostenbeamten, die Richterassistenz, die Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen sowie die Einarbeitung neuer Kollegen. Aber auch im Rahmen der fälschlich zu einem gesonderten Arbeitsvorgang zusammengefassten "Geschäftsstellenverwaltung" fielen schwierige Tätigkeit im Sinne der Protokollerklärung an. Soweit die Gegenseite in Abrede stelle, dass mit der Klage kein angemessener Zeitraum der Tätigkeitsdarstellung dargelegt wurde, verkenne dies, dass bereits die vorgelegte Tätigkeitsbeschreibung exemplarisch für ihre übliche Tätigkeit sei. Außerdem sei die Tätigkeitsbeschreibung außergerichtlich nie in Abrede gestellt, sondern vielmehr zur Basis der dem Klageverfahren vorangegangenen Tätigkeitsbewertung geworden. Für den Zeitraum vom 16. Juli 2020 bis zum 23. Juli 2020 habe sie exemplarisch ihre Tätigkeiten nach Zeitanteilen erfasst (Anlage K 2).



Die Ausschlussfrist des § 29 a Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L sei nicht einschlägig. Gemäß § 29 a Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L sei Voraussetzung dafür, dass sich nach der Entgeltordnung zum TV-L eine höhere Entgeltgruppe als vor der Überleitung ergebe. In diesem Falle müsse der Beschäftigte einen Antrag auf Eingruppierung in die Entgeltgruppe stellen, die sich nach § 12 TV-L ergebe. In ihrem Fall habe sich jedoch nicht durch die Überleitung eine höhere Entgeltgruppe ergeben. Ihr Anspruch auf Höhergruppierung sei keine Folge der Überleitung in die Entgeltordnung des TV-L, sondern eine Folge einer Neubewertung ihrer Tätigkeit infolge der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Februar 2018.



Die Klägerin beantragte,

1.Es wird festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, die Klägerin ab 01.01.2018 nach Entgeltgruppe 9 (TV-L, Anlage A, Entgeltordnung) Stufe 4 und ab 01.04.2019 Stufe 5 hilfsweise in Stufe 3, weiter hilfsweise in Stufe 2 zu vergüten und die sich insoweit ergebenden Differenzbeträge für die Monate ab Januar 2018 ab dem Ersten des jeweiligen Folgemonats mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen.hilfsweise2.Es wird festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, die Klägerin ab 01.01.2018 nach Entgeltgruppe 8 (TV-L, Anlage A, Entgeltordnung) Stufe 4 und ab 01.04.2019 Stufe 5 hilfsweise in Stufe 3, weiter hilfsweise in Stufe 2 zu vergüten und die sich insoweit ergebenden Differenzbeträge für die Monate ab Januar 2018 ab dem Ersten des jeweiligen Folgemonats mit fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen.



Das beklagte Land beantragte,

die Klage abzuweisen.



Das beklagte Land trug vor, die Klägerin habe nicht substantiiert dargelegt, welche Tatsachen für eine Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 TV-L sprächen. Die Klägerin habe schon keinen angemessenen Zeitraum für die Darstellung ihrer Tätigkeit zugrunde gelegt. Bei den von der Klägerin als schwierig bezeichneten Aufgaben handele es sich nur zu gut einem Fünftel um schwierige Tätigkeiten im Sinne des Teils II Abschnitt 12.1 der Entgeltordnung zum TV-L. Die Klägerin lasse sich nicht zu den Arbeitsergebnissen ein, sondern stelle allein fest, dass die Betreuung sämtlicher Aktenvorgänge ein abgrenzbares Arbeitsergebnis darstelle. Nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte sei eine andere Auslegung des Begriffs des Arbeitsvorgangs geboten. Die Tarifvertragsparteien hätten ein nach der Schwierigkeit der Tätigkeit ausdifferenziertes Vergütungsgefüge geschaffen. Eine Auslegung des Begriffs des Arbeitsvorgangs, der dazu führe, dass die Entgeltgruppen 6 und 8 übersprungen würden, sei tarifwidrig. Es sei ohne weiteres möglich, die Aktenbearbeitung in schwierige und gewöhnliche Tätigkeiten aufzuteilen.



Dies gelte umso mehr, als nicht allein die Geschäftsstelle, sondern auch Richter und Rechtspfleger die Akte bearbeiteten und zahlreiche Aktenvorgänge von mehreren Personen betreut würden. Die Arbeitsschritte bei der Aktenbearbeitung seien nicht vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens allein den Beschäftigten in einer Serviceeinheit übertragen. Eine Zusammenfassung der Einzeltätigkeiten zu einem Arbeitsvorgang entspreche daher nicht der "natürlichen Betrachtungsweise".



Zur Tätigkeit in einer Serviceeinheit sei auszuführen, dass einheitliche Arbeitsvorgänge dann vorlägen, wenn die Mitglieder der Serviceeinheit eine Arbeit als abgeschlossen betrachteten. Wenn die Stapelverarbeitung erfolge, werde immer ein Arbeitsschritt nach dem anderen von oft unterschiedlichen Mitgliedern der Serviceeinheit erledigt. Der Sinn einer großen Serviceeinheit liege darin, dass jedes Mitglied alles bearbeiten könne und dazu in der Lage sei, jeden Arbeitsschritt vollständig zu erledigen. Dadurch könnten einzelne sinnvolle Arbeitsschritte ermittelt werden, wie dies auch in der Tätigkeitsdarstellung und -bewertung erfolgt sei.



Außerdem stehe einer Höhergruppierung der Klägerin die Ausschlussfrist nach § 29a Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L entgegen. Die Klägerin habe diese Ausschlussfrist nicht gewahrt, was zum Ausschluss der zu spät beantragten Höhergruppierung führe. Gemäß § 29a Abs. 4 Satz 1 TVÜ-L habe ein Antrag auf Höhergruppierung nach § 12 TV-L im Rahmen der Überleitung der Entgeltordnung am 1. Januar 2012 nach § 29a Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L grundsätzlich nur bis zum 31. Dezember 2012 gestellt werden können. Die Beschäftigten verblieben demnach in ihrer bisherigen Eingruppierung, solange ihnen keine andere Tätigkeit übertragen werde. Vorliegend sei der Klägerin nach dem Übergang in die Entgeltordnung des TV-L keine andere Tätigkeit übertragen worden, so dass der erst am 17. Juli 2018 gestellte Antrag auf Höhergruppierung verspätet sei.



Mit Urteil vom 19. Oktober 2020 gab das Arbeitsgericht der Klage sowohl hinsichtlich der Eingruppierung als auch hinsichtlich der Stufenzuordnung in vollem Umfang statt. Zur Begründung führte das Arbeitsgericht aus, entgegen der Auffassung des beklagten Landes stelle die ganzheitliche Bearbeitung der zugewiesenen Aktenvorgänge vom Eingang bis zum Abschluss des Verfahrens bei natürlicher Betrachtungsweise ein einziges abgrenzbares Arbeitsergebnis und damit einen einheitlichen Arbeitsvorgang dar. Bereits nach der vom Verwaltungsgericht Sigmaringen erstellten Tätigkeitsdarstellung umfasse die Geschäftsstellenverwaltung einen Anteil von 78 % der gesamten Arbeitszeit der Klägerin und sei damit ein Arbeitsvorgang. Aber auch die weiteren separaten Arbeitsvorgänge seien diesem Arbeitsvorgang ganz überwiegend zuzurechnen. Diese Auslegung stehe dem Willen der Tarifvertragsparteien nicht entgegen. Denn ein entgegenstehender Wille habe in den tariflichen Eingruppierungsbestimmungen nicht den erforderlichen Niederschlag gefunden.



Die Klägerin übe auch überwiegend schwierige Tätigkeiten im Tarifsinn aus. Innerhalb des großen Arbeitsvorgangs seien der Klägerin 21 % schwierige Tätigkeiten übertragen. Der Umfang übersteige damit ein lediglich unerhebliches Maß deutlich. Ohne diese Tätigkeiten sei ein voll verwertbares Arbeitsergebnis nicht zu erzielen. Die Zuordnung der Klägerin zu den Stufen 4 bzw. 5 sei unstreitig.



Gegen das ihm am 9. November 2020 zugestellte Urteil hat das beklagte Land am 16. November 2020 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist am 12. Januar 2021 begründet. Es trägt vor, dem Anspruch stehe bereits die Ausschlussfrist des § 29a Abs. 4 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L entgegen. Hiernach könne ein Anspruch auf Höhergruppierung nur bis zum 31. Dezember 2012 gestellt werden. Die Regelung umfasse auch diejenigen Fälle, in denen bereits nach dem BAT eine höhere Eingruppierung hätte erfolgen müssen.



Die Auslegung des Arbeitsgerichts zum Begriff des Arbeitsvorgangs sei fehlerhaft. Sie stehe im Widerspruch zur Tarifsystematik und zur Entstehungsgeschichte der Tarifverträge. Bereits aus den in der Protokollerklärung Nr. 1 aufgezählten Beispielen für ein abgrenzbares Arbeitsergebnis folge, dass die Tarifvertragsparteien nicht die gesamte Tätigkeit eines Arbeitnehmers als Arbeitsvorgang verstünden. Beispielhaft seien die Protokoll- und Beschlusserstellung als abgrenzbare Arbeitsergebnisse zu nennen. Die Betreuung der gesamten Aktenvorgänge beschreibe den zeitlichen Verlauf der Rechtsangelegenheit, der mit einem arbeitsbezogenen Ergebnis nicht gleichgesetzt werden dürfe. Die gegenteilige Auffassung des Bundesarbeitsgerichts finde im Tarifrecht keine Stütze.



Die Auslegung widerspreche auch der Tarifsystematik. Der TV-L sehe in Verbindung mit der Entgeltordnung zeitlich gestaffelte Anteile und Aufbauentgeltgruppen vor. Die Sichtweise des Bundesarbeitsgerichts führe dazu, dass bereits geringe zeitliche Anteile an qualifizierten Tätigkeiten zum Erreichen der höchsten Aufbauentgeltgruppe führten. Im Streitfall erbringe die Klägerin überwiegend Tätigkeiten, die nicht schwierig seien. Selbst wenn man dem Bundesarbeitsgericht folge, müsse der erforderliche Anteil an schwierigen Tätigkeiten innerhalb des jeweiligen Arbeitsvorgangs anfallen.



Zuletzt sei auch die Ausschlussfrist des § 37 TV-L nicht gewahrt. Das Schreiben der Klägerin vom 17. Juli 2018 erfülle die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Geltendmachung nicht.



Das beklagte Land beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Ulm vom 19.10.2020 - 4 Ca 161/19 - wird abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.



Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.



Sie trägt vor, die Ausschlussfrist des § 29a Abs. 4 Satz 1 TVÜ-L stehe dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen. Sie betreffe lediglich die Fallkonstellation, dass eine Höhergruppierung begehrt werde, die sich aus der damaligen Änderung der Entgeltordnung ergeben habe. Eine von vornherein zu niedrige Eingruppierung werde nicht erfasst.



Was die Bildung der Arbeitsvorgänge angehe, so verweise sie auf die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 9. September 2020. Die Aufteilung eines einheitlichen Arbeitsvorgangs in möglichst viele kleinteilige Abschnitte verstoße gegen die tariflichen Normen. Die Kritik des beklagten Landes an der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts sei unzutreffend. Die systematische Auslegung des Tarifvertrags führe zu keinem anderen Ergebnis. Ein entgegenstehender Wille der Tarifvertragsparteien habe im Tarifwerk keinen Niederschlag gefunden. Falls die Auslegung des Bundesarbeitsgerichts ein von den Tarifvertragsparteien nicht gewünschtes Ergebnis ergebe, sei es deren Sache, den Tarifvertrag zu korrigieren. Zu Unrecht wende das beklagte Land schließlich ein, dass die tarifliche Ausschlussfrist nicht gewahrt sei. Das Schreiben vom 17. Juli 2020 genüge zur Wahrung der Ausschlussfrist.



Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle über die mündlichen Verhandlungen verwiesen. Mit Beschluss vom 29. März 2021 hat die Kammer die Verhandlung des Rechtsstreits bis zur Erledigung der im Februar 2021 eingelegten Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin und der Tarifgemeinschaft deutscher Länder gegen die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 9. September 2020 (4 AZR 195/20 und 4 AZR 196/20) ausgesetzt. Mit Beschluss vom 4. Oktober 2022 hat das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.



Mit Verfügung vom 10. Januar 2023 wies der Vorsitzende darauf hin, dass die begehrte Stufenzuordnung der Klägerin Fragen aufwerfe. Hierauf teilte die Klägerin mit, dass die Frage der Stufenzuordnung ausgeklammert werden könne.



Entscheidungsgründe



I.



Die Berufung des beklagten Landes ist gemäß § 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG statthaft. Sie ist auch gemäß § 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden.



II.



Die Berufung des beklagten Landes ist im Wesentlichen unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin in die Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L eingruppiert ist. Lediglich was den Zeitraum des Feststellungsbegehrens angeht, hat die Berufung des beklagten Landes teilweise Erfolg.



1. Die Klage ist zulässig. Soweit die Klägerin ihre Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L, hilfsweise in die Entgeltgruppe 8, begehrt, handelt es sich um eine im öffentlichen Dienst übliche und gemäß § 256 Abs. 1 ZPO zulässige Eingruppierungsfeststellungsklage. Das Feststellungsinteresse besteht auch für die geltend gemachten Zinsforderungen (vgl. nur BAG 12. Dezember 2018 - 4 AZR 147/17 - Rn. 15).



Soweit die Klägerin ursprünglich darüber hinaus die Feststellung der maßgeblichen Stufe in der Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L begehrt hat, hat sie die Klage mit Zustimmung des beklagten Landes in der Berufungsinstanz zurückgenommen. Zwar ist regelmäßig ein Feststellungsinteresse nur dann gegeben, wenn durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag der Streit zwischen den Parteien insgesamt beseitigt und das Rechtsverhältnis abschließend geklärt werden kann. Die Rechtskraft der Entscheidung muss regelmäßig weitere gerichtliche Auseinandersetzungen über die zwischen den Parteien strittigen Fragen um denselben Fragenkomplex ausschließen (st. Rspr., vgl. nur BAG 27. August 2014 - 4 AZR 518/12 - Rn. 15).



Im Streitfall ist es jedoch prozessökonomisch, die Frage der Stufenordnung vorerst auszuklammern. Sollte die Entscheidung über die Eingruppierung der Klägerin in die Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L rechtskräftig werden, wird das beklagte Land festzustellen haben, welcher Stufe die Klägerin in der fraglichen Entgeltgruppe zuzuordnen ist. Diese Frage wird maßgeblich davon abhängen, zu welchem Zeitpunkt der Klägerin die nach Auffassung der Kammer höherwertige Tätigkeit übertragen wurde. Dieser Zeitpunkt lässt sich unter Umständen "unstreitig" feststellen mit der Folge, dass ein weiterer Rechtsstreit mit den Parteien vermieden wird. Die primär streitige Frage zwischen den Parteien ist, in welche Entgeltgruppe die Klägerin eingruppiert ist.



2. Die Klage ist mit dem Hauptantrag im Wesentlichen begründet. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass das beklagte Land verpflichtet ist, der Klägerin eine Vergütung nach der Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L zu bezahlen.



a) Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet unstreitig der TV-L Anwendung. Somit richtet sich die Eingruppierung der Klägerin nach § 12 Abs. 1 und 2 TV-L i.V.m. den Tätigkeitsmerkmalen der Entgeltordnung zum TV-L.



aa) Nach § 29a Abs. 1 TVÜ-L gelten für die in den TV-L übergeleiteten Beschäftigten für Eingruppierungen ab dem 1. Januar 2012 die §§ 12,13 TV-L sowie die Entgeltordnung zum TV-L. Die Überleitung zum 1. Januar 2012 erfolgte unter Beibehaltung der bisherigen Entgeltgruppe für die Dauer der unverändert auszuübenden Tätigkeit.



Von einer unverändert auszuübenden Tätigkeit ist nicht mehr auszugehen, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer Tätigkeitsänderung auch ohne das Inkrafttreten der Entgeltordnung zum TV-L gehalten war, die Eingruppierung der Arbeitnehmerin zu überprüfen, also dann, wenn sich die geänderte Tätigkeit auf die Eingruppierung auswirken konnte (BAG, 9. September 2020 - 4 AZR 195/20 - Rn. 20).



Im vorliegenden Fall kann nicht mehr von einer unverändert auszuübenden Tätigkeit ausgegangen werden, weil das Verwaltungsgericht S. die Klägerin mit Änderungsvertrag vom 6. März 2015 von der Entgeltgruppe 5 in die Entgeltgruppe 6 Fallgruppe 4 höhergruppiert hat. Der Grund für die Höhergruppierung ist zwar von den Parteien nicht mitgeteilt worden. Es liegt jedoch die Annahme nahe, dass die Klägerin bis dahin als Geschäftsstellenverwalterin in die Entgeltgruppe 5 eingruppiert war und sodann - nach Bildung von Serviceeinheiten beim Verwaltungsgericht S. - als Beschäftigte in einer Serviceeinheit in die Entgeltgruppe 6 höhergruppiert wurde.



bb) Der Anspruch der Klägerin auf Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L ist entgegen der Auffassung des beklagten Landes nicht gemäß § 29 Abs. 4 TVÜ-L verfallen.



(1) Die 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts hat hierzu mit Urteil vom 21. Juli 2020 - 14 Sa 68/19 - ausgeführt:



(2) Dieser Rechtsauffassung schließt sich die Kammer uneingeschränkt an (ebenso LAG Baden-Württemberg 3. November 2020 - 19 Sa 21/20 - Rn. 65 ff). Auch die hiesige Klägerin hat nicht geltend gemacht, dass sie bei unveränderter Tätigkeit im Zuge der Überleitung in die neue Entgeltordnung ab dem 1. Januar 2012 in eine höhere Entgeltgruppe eingruppiert gewesen sei. Vielmehr hat die Klägerin stets hervorgehoben, dass sie, möglicherweise seit der Übertragung der Tätigkeit als Geschäftsstellenverwalterin, spätestens aber seit Abschluss des Änderungsvertrags vom 6. März 2015 in die Entgeltgruppe 9 bzw. ab dem 1. Januar 2019 in die Entgeltgruppe 9a eingruppiert war, somit unabhängig von dem Inkrafttreten der neuen Entgeltordnung unrichtig eingruppiert gewesen sei.



Damit weist der Entscheidungsfall keinen Zusammenhang mit der Vorschrift des §§ 29a Abs. 3 TVÜ-L auf. Diese Vorschrift betrifft ausschließlich die Fallgestaltung, dass sich nach Inkrafttreten der Entgeltordnung eine höhere Eingruppierung als zuvor ergab. Wollte man alle sonstigen Fälle einer unzutreffenden Eingruppierung unter die Vorschrift fassen, so hätte dies die abwegige Konsequenz, dass Beschäftigte, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Entgeltordnung überhaupt keinen Anlass dafür hatten, ihre Eingruppierung in Frage zu stellen, von der Geltendmachung einer unzutreffenden Eingruppierung ausgeschlossen wären. Eine derartige Rechtsfolge wäre vom Zweck des Überleitungsrechts nicht gedeckt. Für den Entscheidungsfall ist somit ausschließlich die Ausschlussfrist des §§ 37 Abs. 1 TV-L einschlägig.



b) Das Arbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass jedenfalls der ganz überwiegende Teil der Gesamttätigkeit der Klägerin einen "großen" Arbeitsvorgang im Tarifsinn ausmacht.



aa) Seit spätestens dem Jahr 2013 hat das Bundesarbeitsgericht den Begriff des Arbeitsvorgangs unter Modifizierung seiner bisherigen Rechtsprechung wie folgt definiert:



bb) Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer uneingeschränkt an. Die frühere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach tatsächlich trennbare Teiltätigkeiten, die aufgrund ihrer tariflichen Wertigkeit verschiedenen Vergütungsgruppen zuzuordnen sind, nicht zu einem einheitlichen Arbeitsvorgang zusammengefasst werden durften (so zuletzt noch BAG 23. September 2009 - 4 AZR 308/08 - Rn. 24, allerdings bereits dort nur betreffend tatsächlich getrennte, also nicht nur theoretisch trennbare Tätigkeiten; zur Entwicklung der Rechtsprechung im Einzelnen: BAG 9. September 2020 - 4 AZR 195/20 - Rn. 54 ff), beruhte auf einer nicht überzeugenden methodischen Betrachtungsweise. Diese hatte der frühere Senatsvorsitzende Neumann in einem Beitrag in der ZTR 1987, 41 entwickelt, nachdem der 4. Senat kurz zuvor seine frühere Rechtsprechung, wonach in dem jeweiligen Arbeitsvorgang im tariflich geforderten Maß heraushebende Tätigkeiten vorliegen mussten, mit Urteil vom 19. März 1986 (4 AZR 687/84 - Rn. 47 ff) aufgegeben hatte. Zutreffend wurde bereits damals gegen die Auffassung von Neumann eingewandt, es sei denkgesetzlich nicht möglich, einzelne Arbeitsvorgänge durch unterschiedliche Bewertung zu gewinnen, wenn doch die vorherige Abgrenzung der Tätigkeit in Arbeitsvorgänge Voraussetzung für eine Bewertung und eine unterschiedlich tarifrechtliche Zuordnung sei (Jesse, ZTR 1987, 193). In seiner neueren Rechtsprechung hat der 4. Senat diesen methodischen Bedenken in zutreffender Weise Rechnung getragen (im Einzelnen Natter/Sänger, ZTR 2019, 475).



cc) In Anwendung dieser Grundsätze stellt die ganzheitliche Bearbeitung der einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit übertragenen Aufgaben des mittleren Justizdienstes im Sinne der Protokollerklärung Nr. 2 zu Teil II Abschnitt 12 der Entgeltordnung jedenfalls ganz überwiegend einen "großen" Arbeitsvorgang im Tarifsinn dar. Ob hierzu auch die Aufgaben des Kostenbeamten und das Schreiben von Langtexten zählen, bedarf keiner abschließenden Entscheidung. Denn in jedem Fall macht die Geschäftsstellenverwaltung einschließlich der richterassistierenden Tätigkeiten mehr als die Hälfte an der Gesamttätigkeit der Klägerin aus.



(1) Zutreffend hat die 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts in ihrem Urteil vom 23. Juli 2020 zu einer bei einem Arbeitsgericht tätigen Servicemitarbeiterin Folgendes hierzu ausgeführt:



(2) Auch dieser rechtlichen Einschätzung schließt sich die Kammer - mit einer gewissen Einschränkung hinsichtlich der Anfertigung von Langtexten und des Kostenansatzes - an. Es trifft zwar zu, dass die neuere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts dazu führen kann, dass in bestimmten Fallgestaltungen einzelne Entgeltgruppen "leerlaufen". Diese Folge beruht einerseits darauf, dass sich die Tarifvertragsparteien bei der Bildung von Entgeltgruppen, die auf ein unterschiedlich zeitliches Maß an heraushebenden Tätigkeiten abstellen, an der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts orientiert haben. Sie ist andererseits auf den Umstand zurückzuführen, dass die öffentlichen Arbeitgeber etwa seit den 1990er Jahren ihre Arbeitsorganisation zunehmend auf ganzheitliche Bearbeitungsweisen umgestellt haben, um die Geschäftsabläufe schneller und effizienter zu gestalten. Vor allem bei den sogenannten Assistenztätigkeiten wurden Arbeiten, die früher arbeitsteilig mehreren Beschäftigten übertragen waren, nunmehr ganzheitlich einem Beschäftigten übertragen. Die Folge dieser neuen Arbeitsorganisation ist, dass zunehmend größere oder sogar große Arbeitsvorgänge anzunehmen sind (BAG 9. September 2020 - 4 AZR 195/20 - Rn. 29).



Die Problematik "leerlaufender" Entgeltgruppen kann nicht in der Weise gelöst werden, dass unter Berufung auf einen (angeblich) übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien im Jahre 1975 auch unter den heutigen, geänderten Verhältnissen der Begriff des Arbeitsvorgangs im Tarifsinn als die kleinstmögliche abtrennbare Einzeltätigkeit an der Gesamttätigkeit eines Beschäftigten definiert wird (so aber Geyer ZTR 2021, 539). Vielmehr ist es die Aufgabe der Tarifvertragsparteien, auf der Grundlage der Verhandlungsklausel zwischen ver.di und der TdL vom 2. März 2019 eine Lösung zu vereinbaren, die einerseits der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und andererseits den geänderten organisatorischen Rahmenbedingungen in den Betrieben und Verwaltungen Rechnung trägt. Eine Überprüfung der tariflichen Tätigkeitsmerkmale auf ihre "Billigkeit und Angemessenheit" durch die Gerichte scheidet aus. Die in der Rechtsprechung teilweise verbreitete Tendenz, unter Berufung auf die durch die neuere Rechtsprechung hervorgerufene "Unwucht" im Tarifgefüge entgegen den tatsächlichen organisatorischen Gegebenheiten in den Verwaltungen kleinteilige Arbeitsvorgänge zu bilden (so etwa LAG Berlin-Brandenburg 12. Februar 2020 - 15 Sa 1261/19 - Rn. 104 ff), ist verfehlt. Wie der 4. Senat in seinen Grundsatzurteilen vom 9. September 2020 (4 AZR 195/20 - Rn. 69 und 4 AZR 196/20 - Rn. 67) zutreffend ausgeführt hat, kann eine Anpassung der Tätigkeitsmerkmale nur durch eine den Tarifvertragsparteien vorbehaltene Änderung erfolgen.



Insoweit kann sich das beklagte Land auch nicht darauf berufen, die auf ein unterschiedliches zeitliches Maß an heraushebenden Tätigkeiten abstellenden Entgeltgruppen seien im Vertrauen auf die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vereinbart worden. Höchstrichterliche Rechtsprechung erzeugt kein Gesetzesrecht und damit keine damit vergleichbare Rechtsbindung. Eine in der Rechtsprechung bislang vertretene Auslegung aufzugeben, verstößt nicht als solches gegen Art. 20 Abs. 3 GG. Die Änderung einer höchstrichterlichen Rechtsprechung ist unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes grundsätzlich unbedenklich, wenn sie hinreichend begründet ist und sich im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung hält (st. Rspr., vgl. nur BAG 12. Juni 2019 - 7 AZR 477/17 - Rn. 33).



Bei diesem Prüfungsmaßstab scheidet die Zubilligung eines Vertrauensschutzes aus. Die von Neumann begründete Auffassung war bereits in den 80iger Jahren kritisiert worden und wurde umso weniger vertretbar, wie die öffentlichen Arbeitgeber zunehmend ganzheitliche Bearbeitungsweisen in den Verwaltungen einführten. Die neuere Rechtsprechung des 4. Senats hat lediglich die zutreffenden rechtlichen Schlussfolgerungen aus den geänderten Organisationsstrukturen gezogen.



(3) Soweit auch nach den Grundsatzurteilen des 4. Senats vom 9. September 2020 in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, die ganzheitliche Sachbearbeitung der Beschäftigten in Serviceeinheiten könne in zahlreiche Arbeitsvorgänge im Tarifsinn aufgespalten werden (so LAG Mecklenburg-Vorpommern 16. August 2022 - 5 Sa 174/21 - Rn. 101 ff), tritt die Kammer dem nicht bei. Die Aufspaltung der Gesamttätigkeit der Beschäftigten in Serviceeinheiten in insgesamt zehn Arbeitsvorgänge (so im Fall des LAG Mecklenburg-Vorpommern aaO), geht an der Wirklichkeit der Sachbearbeitung in einer gerichtlichen oder staatsanwaltschaftlichen Geschäftsstelle vorbei (so auch LAG Hamm 21. April 2021 - 3 Sa 653/20 - zu einer staatsanwaltlichen Geschäftsstelle). Ein abgetrennter oder auch nur abtrennbarer Arbeitsvorgang "Aktenverwaltung" lässt sich nicht ausmachen. Vielmehr stehen die aktenverwaltenden Tätigkeiten einer Servicekraft in einem untrennbaren Zusammenhang mit ihren sonstigen Tätigkeiten bei der Erfassung des Verfahrens, bei der Anfertigung der verfahrenseinleitenden Verfügung, bei der Erstellung einer Ladung oder bei einer sonstigen richterassistierenden Tätigkeit.



Auch die Beantwortung von Sachstandsfragen und Auskunftsersuchen formeller Art, die Terminsvorbereitung und die Ladung der Prozessbevollmächtigten sowie die Ladung der ehrenamtlichen Richter zählen zur ganzheitlichen Sachbearbeitung einer Servicekraft und lassen sich bei einer natürlichen Betrachtungsweise nicht auseinanderreißen. Gleiches gilt für jedenfalls das kleine Schreibwerk und das Fertigen der Protokolle, letzteres jedenfalls dann, wenn es sich nicht um eine Protokollführung in der mündlichen Verhandlung selbst handelt. Die Erteilung von vollstreckbaren Ausfertigungen und von Rechtskraft- bzw. Notfristzeugnissen lässt sich ebenso wenig ohne eine künstliche Abspaltung von der ganzheitlichen Sachbearbeitung abtrennen. Ausschließlich die Tätigkeit des Kostenbeamten und das Schreiben von Langtexten, das allerdings durch das Selbstschreiben oder die Nutzung von Spracherkennung durch die Entscheider immer mehr an Bedeutung verliert, könnten bei einer natürlichen Betrachtungsweise als zumindest abtrennbare Einzeltätigkeiten betrachtet werden.



Die Auffassung, die ganzheitliche Sachbearbeitung in den gerichtlichen Serviceeinheiten könne in zahlreiche Arbeitsvorgänge aufgespalten werden, stammt aus einer teils schon "versunkenen" und teils noch im Veränderungsprozess begriffenen Justizwelt. Die frühere (analoge) Welt zeichnete sich durch eine stark arbeitsteilige Geschäftsstellenorganisation aus, in deren Rahmen Urkundsbeamte der Geschäftsstelle und Schreibkräfte unterschiedliche Aufgaben wahrnahmen. Jedenfalls dann, wenn in den Gerichten und Staatsanwaltschaften das sog. Serviceeinheitenkonzept nicht nur "auf dem Papier" umgesetzt wurde, ist von der ursprünglichen Organisation nichts mehr übriggeblieben. Während etwa früher ein Beschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO nach Eingang der Schriftsätze und einer entsprechenden Verfügung des/der Vorsitzenden von einer Schreibkraft zunächst geschrieben und im weiteren Verlauf nach Korrektur und Unterschrift durch den/die Vorsitzende/n vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zur Post gegeben und anschließend veraktet wurde, wird heute (in der digitalen Welt) der Beschluss nach § 278 Abs. 6 ZPO vom Servicebereich mit Hilfe von "copy und paste" gefertigt, signaturreif dem/der Vorsitzenden vorgelegt, nach der Signatur über das beA versandt und sogleich zur elektronischen Akte genommen. Die genannten Arbeitsschritte sind in einen "Workflow" eingebettet, der jede Aufspaltung in eigenständige Arbeitsvorgänge als unnatürlich erscheinen lässt.



(4) Auch die Tätigkeitsdarstellung des Verwaltungsgerichts S. ist von derselben, der ganzheitlichen Bearbeitungsweise widersprechenden Aufspaltung von zusammengehörenden Einzeltätigkeiten gekennzeichnet. So soll die Schriftgutverwaltung, die in einem untrennbaren Zusammenhang (bereits in der Papierakte und erst recht in der elektronischen Akte) mit nahezu allen sonstigen Tätigkeiten der Klägerin steht, als eigenständiger Arbeitsvorgang anzusehen sein. Diese Aufspaltung widerspricht der gebotenen natürlichen Betrachtungsweise, weil z.B. die Veraktung einer ausgeführten Zustellung in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Bewirkung der Zustellung steht. Die Bewirkung der Zustellung (in einem elektronischen Versandpaket) lässt sich von der Veraktung der Zustellung (in der elektronischen Akte) nur im Wege einer künstlichen Abspaltung trennen. Die Klägerin ist keine Registratorin, deren Aufgabe überwiegend im Verwalten von Akten besteht. Sie verwaltet keine Akte, sondern ganzheitlich eine Geschäftsstelle. Gleiches gilt für die unterschriftsreif vorbereiteten Beschlüsse und Verfügungen und für die Ladung der Parteien und der ehrenamtlichen Richter.



Soweit das beklagte Land erstinstanzlich darauf hingewiesen hat, die Tätigkeiten in einer Geschäftsstelle würden von einer Mehrheit von Servicekräften "vom Stapel" verrichtet, ändert dies an der rechtlichen Einschätzung nichts. Es mag sein, dass die Klägerin in einer (elektronischen) Akte einmal den einen und einmal den anderen Arbeitsschritt verrichtet, je nach dem, in welchem Verfahrensstadium sie die Akte "zieht". Dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass als Arbeitsvorgang im Tarifsinn nunmehr jeder einzelne Arbeitsschritt anzusehen ist. Es ist für nahezu jede Tätigkeit typisch, dass sich erst nach der Erledigung einer Mehrheit von Arbeitsschritten ein sinnvolles Arbeitsergebnis erzielen lässt. Der Begriff des Arbeitsschrittes darf nicht mit dem Begriff des Arbeitsvorgangs im Tarifsinn gleichgesetzt werden (grundlegend Krasemann, Das Eingruppierungsrecht nach dem BAT/BAT-O, 8. Aufl. S. 443 f).



c) Nach den dargestellten Rechtsgrundsätzen ist die Klägerin in die Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L eingruppiert.



aa) Die für die Eingruppierung der Klägerin maßgebenden tariflichen Tätigkeitsmerkmale des Teils II Abschnitt 12 Unterabschnitt 1 lauten auszugsweise:



bb) Der Klägerin sind unstreitig die Aufgaben einer Beschäftigten in einer Serviceeinheit nach der Protokollerklärung Nr. 2 des Teils II Abschnitt 12 der Entgeltordnung zum TV-L übertragen. Zumindest die Geschäftsstellenverwaltung, die Heranziehung und Ladung der ehrenamtlichen Richter/innen, die richterassistierenden Tätigkeiten und die Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen bilden einen "großen" Arbeitsvorgang im Tarifsinn. Innerhalb des "großen" Arbeitsvorganges fallen als schwierige Tätigkeiten im Sinne der Protokollerklärung Nr. 3 jedenfalls die Ladung von Amts wegen, die Heranziehung der ehrenamtlichen Richter, die Erteilung von Rechtskraft- und Notfristzeugnissen, die unterschriftsreife Vorbereitung von Beschlüssen und Verfügungen und die Erteilung von Ausfertigungen und Beglaubigungen (soweit dies bei elektronischer Aktenführung noch anfällt) an.



Diese schwierigen Tätigkeiten liegen in einem rechtlich erheblichen Ausmaß in dem maßgeblichen "großen" Arbeitsvorgang vor. Ohne diese Tätigkeiten könnte die Klägerin ihre Tätigkeit in der Geschäftsstelle nicht sinnvoll verrichten; ein verwertbares Arbeitsergebnis ließe sich im Rahmen einer ganzheitlichen Sachbearbeitung nicht erzielen. Es ist nicht erforderlich, dass die schwierigen Tätigkeiten innerhalb des "großen" Arbeitsvorganges ihrerseits mindestens die zeitliche Hälfte an den Gesamttätigkeiten ausmachen. Damit ist die Tätigkeit der Klägerin insgesamt der Entgeltgruppe 9 bzw. 9a TV-L zuzuordnen.



d) Die Klägerin hat allerdings erst ab dem 1. Mai 2018 einen Anspruch auf eine höhere Vergütung. Für den Zeitraum vom 1. Januar bis 30. April 2018 ist der Anspruch gemäß § 37 Abs. 1 TV-L verfallen.



aa) Eine Ausschlussfrist ist nur dann gewahrt, wenn der Anspruchsteller unmissverständlich zum Ausdruck bringt, dass er Inhaber einer nach Grund und Höhe spezifizierten Forderung ist und auf der Erfüllung dieser Forderung besteht. Das ist dann nicht der Fall, wenn der Arbeitnehmer lediglich "um Prüfung" bittet, ob die Voraussetzungen eines näher bezeichneten Anspruchs vorliegen. Damit bringt er nicht zum Ausdruck, den Arbeitgeber unabhängig vom Ergebnis der Prüfung auf Zahlung von Vergütung in Anspruch nehmen zu wollen (st. Rspr., vgl. nur BAG 28. Februar 2018 - 4 AZR 816/16 - Rn. 51).



bb) Hiernach hat die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 17. Juli 2018 ihren Anspruch nicht fristwahrend geltend gemacht. Sie hat in dem Schreiben lediglich auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Februar 2018 hingewiesen und um Prüfung gebeten, ob sie ebenfalls höhergruppiert werden könne. Dieses Schreiben genügt für eine ordnungsgemäße Geltendmachung nicht. Erst mit Anwaltsschreiben vom 22. November 2018 erfolgte eine ordnungsgemäße Geltendmachung. Dies bedeutet, dass die Klägerin erst ab dem 1. Mai 2018 eine höhere Vergütung beanspruchen kann.



3. Der Hilfsantrag, wonach die Klägerin die Feststellung begehrt, dass sie in die Entgeltgruppe 8 eingruppiert sei, ist nicht zur Entscheidung angefallen, nachdem die Klage bereits mit dem Hauptantrag Erfolg hat.



III.



Die Kosten des Rechtsstreits waren gemäß § 92 Abs. 1 ZPO verhältnismäßig zu teilen. Für die Zulassung der Revision bestand angesichts der Grundsatzurteile des 4. Senats vom 9. September 2020, denen die Kammer folgt, keine Veranlassung.

Dr. Natter
Dankesreiter
Heil

Verkündet am 16.01.2023

Vorschriften§ 29 a Abs. 4 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L, § 29 a Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L, § 12 TV-L, § 29a Abs. 4 Satz 1, § 29a Abs. 4 Satz 1 TVÜ-L, § 29a Abs. 3 Satz 1 TVÜ-L, § 37 TV-L, § 64 Abs. 6 ArbGG, § 313 Abs. 2 Satz 2 ZPO, § 64 Abs. 2 Buchst. b ArbGG, § 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO, § 256 Abs. 1 ZPO, § 12 Abs. 1, 2 TV-L, § 29a Abs. 1 TVÜ-L, §§ 12, 13 TV-L, § 29 Abs. 4 TVÜ-L, §§ 29a Abs. 3 TVÜ-L, §§ 37 Abs. 1 TV-L, Art. 20 Abs. 3 GG, § 278 Abs. 6 ZPO, § 37 Abs. 1 TV-L, § 92 Abs. 1 ZPO