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Urteil vom 03.02.2023 · IWW-Abrufnummer 233965

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Aktenzeichen 7 Sa 67/22

1. § 20a IfSG unterscheidet in Bestands- und in "Neuarbeitnehmer". Für bereits vor dem 16. März 2022 beschäftigte Arbeitnehmer (Bestandsarbeitnehmer) besteht kein gesetzliches Tätigkeitsverbot.

2. Die Anordnung eines Tätigkeitsverbotes für solche Arbeitnehmer ist gemäß § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG dem zuständigen Gesundheitsamt als ermessensgeleitete Einzelfallentscheidung vorbehalten.

3. Liegt danach kein Tätigkeitsverbot vor, ist der Arbeitgeber kraft Direktionsrechts nicht berechtigt, solche Arbeitnehmer unbezahlt von der Erbringung der Arbeitsleistung freizustellen.

4. Die Leistungsfähigkeit und auch Leistungswilligkeit des Arbeitnehmers beziehen sich auf die nach § 294 BGB zu bewirkende Beschäftigung. Ein fehlender Nachweis gemäß § 20a Abs. 1 IfSG steht dem nicht entgegen.


In der Rechtssache
- Beklagte/Berufungsklägerin -
Proz.-Bev.:
gegen
- Klägerin/Berufungsbeklagte -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 7. Kammer - durch den
Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Pfeiffer, die ehrenamtliche Richterin Gräfe und den ehrenamtlichen Richter Lang auf die mündliche Verhandlung vom 03.02.2023
für Recht erkannt:

Tenor:
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 12.10.2022 - 15 Ca 2557/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.


2. Die Revision wird zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten zweitinstanzlich zuletzt über Annahmeverzugsvergütung der Klägerin für den Zeitraum vom 26. März 2022 bis zum 31. Juli 2022 sowie über die Kostentragungspflicht als Folge des beidseits für erledigt erklärten Beschäftigungsanspruchs der Klägerin.



Wegen des erstinstanzlichen unstreitigen und streitigen Vorbringens der Parteien einschließlich ihrer Rechtsansichten wird auf den nicht mit einem Berichtigungsantrag angegriffenen Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Bezug genommen und verwiesen.



Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 12.10.2022 der Klage im zuletzt gestellten Umfang stattgegeben. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe unter I. Bezug genommen und verwiesen.



Die Beklagte hat gegen das ihr am 18.10.2022 zugestellte Urteil mit beim Berufungsgericht am 08.11.2022 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt und sie zugleich begründet.



Sie rügt auf der Grundlage ihres Begründungsschriftsatzes vom 08.11.2022, der Gegenstand der Berufungsverhandlung war und auf den Bezug genommen und verwiesen wird, näher bestimmt fehlerhafte Rechtsanwendung des Arbeitsgerichts insbesondere insoweit, als es in Bezug auf die Auslegung des § 20a IfSG verkannt habe, dass zwischen dem ordnungsrechtlichen Verfahren des § 20a Abs. 2 bis Abs. 5 IfSG, welche ein öffentlich-rechtliches Verbot normiere und dem zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungsgehalt, der Anordnung einer gesetzlichen Tätigkeitsvoraussetzung nach § 20a Abs. 1 IfSG, differenziert werden müsse. Der Annahme einer gesetzlichen Tätigkeitsvoraussetzung stehe - entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts Stuttgart - auch nicht das Gebot der Normenklarheit entgegen. Im Gegenteil lasse § 20a IfSG nicht den Schluss zu, dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, Bestandsmitarbeiter zu beschäftigen, die die gesetzliche Tätigkeitsvoraussetzung des § 20a Abs. 1 IfSG nicht erfüllten. Hinsichtlich der Auslegung des Wortlauts sei entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht der Wortlaut des § 20a Abs. 2 oder Abs. 3 S.4 IfSG, sondern der des § 20a Abs. 1 IfSG entscheidend. Dort sei ausdrücklich bestimmt, dass die in Einrichtungen nach § 20a Abs. 1 IfSG tätigen Personen über einen Impf- oder Genesenennachweis verfügen müssten. Damit normiere das Gesetz den Impf- und Genesenenstatus als gesetzliche Tätigkeitsvoraussetzung. § 20a Abs. 1 IfSG gelte als inhaltlich abgeschlossene Regelung - systematisch vor die Klammer gezogen - für beide Mitarbeitergruppen gleichermaßen und regele die grundsätzliche Immunisierungspflicht als Tätigkeitsvoraussetzung. Auch aus der Gesetzesbegründung (insb. zu § 20a Abs. 3 IfSG) ergebe sich die angeblich klare Trennung zu neu eingestellten Mitarbeitern nicht. Hinsichtlich des unbedingten Schutzes vulnerablen Personengruppe sehe die Gesetzesbegründung in BT-Drs. 20/188 S. 4 Folgendes vor:

"Neue Tätigkeitsverhältnisse können ab dem 16. März 2022 nur bei Vorlage eines entsprechenden Nachweises eingegangen werden."



Wenn nach dem Willen des Gesetzgebers bereits kein Arbeitsverhältnis eingegangen werden solle (vereinfacht gesagt: "ohne Impfung kein Arbeitsvertrag"), stelle sich die Frage einer Tätigkeit erst gar nicht. Denn ohne den Abschluss eines Arbeitsvertrages werde ohnehin keine Person tätig. Wenn nach dem Willen des Gesetzgebers allerdings ohne Impfung schon keine Arbeitsverhältnisse begründet werden sollten, könnten denknotwendig keine Lohnzahlungsansprüche entfallen. Das bedeute: selbst nach der vom Vordergericht erfolgten Lesart des Gesetzes sei die rechtliche Würdigung unhaltbar. Denn nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers beträfen die beabsichtigen Regelungen selbstverständlich auch Bestandsmitarbeiter. Unabhängig von der gesetzlichen Tätigkeitsvoraussetzung nach § 20a Abs. 1 IfSG sei die unbezahlte Freistellung der Klägerin auch nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen wirksam erfolgt. Es sei der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum unmöglich gewesen, die Arbeitsleistung zu den arbeitsvertraglichen Bedingungen zu erfüllen. Die unbezahlte Freistellung könne entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts sehr wohl auf das Direktionsrecht gestützt werden. Ihr Direktionsrecht habe sie in Ausübung billigen Ermessens dahingehend konkretisiert, nur noch immunisiertes Personal in ihren Einrichtungen zu beschäftigen. Ihr Gesundheitskonzept trage nicht nur § 20a IfSG Rechnung. Sie komme damit auch ihren gesetzlichen Verpflichtungen als Träger einer Pflegeeinrichtung aus dem Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz Baden-Württemberg (WTPG) nach. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sei ihr die Beschäftigung der nicht immunisierten Klägerin unzumutbar (gewesen). Für eine wirksame unbezahlte Freistellung und gegen eine Vergütungspflicht spreche im Übrigen, dass die Klägerin nicht bereit gewesen sei, die Tätigkeit zu den vertraglichen Bedingungen zu leisten. Sie sei demnach weder leistungsfähig noch leistungswillig im Sinne des § 297 BGB gewesen. Sie gerate gemäß § 297 BGB nicht in Annahmeverzug, wenn die Klägerin außerstande sei, die Arbeitsleistung zu bewirken.



Die Beklagte beantragt:

das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 12. Oktober 2022 (Az.: 15 Ca 2557/22) abzuändern und die Klage abzuweisen.



Die Klägerin beantragt,

nachdem sie ihren Beschäftigungsantrag in der Hauptsache für erledigt erklärt hat, dem die Beklagte beigetreten ist, Zurückweisung der Berufung und verteidigt das erstinstanzliche Urteil auf der Grundlage ihres Schriftsatzes vom 16.01.2023, auf den sowie auf den weiteren Schriftsatz der Beklagten vom 25.01.2023 nebst dem Sitzungsprotokoll vom 03.02.2023 Bezug genommen und verwiesen wird.



Entscheidungsgründe



I.



Die statthafte, frist- und formgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Die Annahmeverzugsklage der Klägerin für den Zeitraum vom 26.03.2022 bis zum 31.07.2022 ist dem Grund und der Höhe nach zulässig und auch begründet. Das hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt.



1. Die Berufungskammer verweist in Bezug auf die Annahmeverzugsbegehren zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts in seinen Entscheidungsgründen unter I. 3. und macht sich diese ausdrücklich zu eigen. Das Arbeitsgericht hat seiner Beurteilung die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Annahmeverzug, insbesondere zur Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit, zu Grunde gelegt und eine von Rechts wegen nicht zu beanstandende Subsumtion des von ihm festgestellten, von der Beklagten auch nicht angegriffenen und somit bindenden Sachverhaltes durchgeführt.



2. Die diesbezüglich erfolgten Berufungsangriffe der Beklagten rechtfertigen kein anderes Ergebnis.



a) Soweit die Beklagte in Bezug auf die Annahmeverzugsansprüche der Klägerin von einer fehlenden Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit im Sinne des § 297 BGB ausgeht, kann ihr nicht gefolgt werden. Entgegen der Ansicht der Beklagten gehört die Vorlage eines Impf- oder Genesenen-Nachweises nicht zu den arbeitsvertraglichen Bedingungen.



aa) Zutreffend hat das Arbeitsgericht unter I. 3. a) cc) ccc) (1) ausgeführt, dass sich der Leistungswille auf die im Sinne des § 294 BGB zu bewirkende Beschäftigung beziehe. Diese sei identisch mit der arbeitsvertraglich vereinbarten Tätigkeit des Arbeitnehmers, wenn diese im Arbeitsvertrag konkret bestimmt sei (vgl. etwa BAG, Urt. v. 10. August 2022, 5 AZR 154/22, Rn. 19, AP Nr. 172 zu § 615 BGB; BAG, Urt. v. 21. Juli 2021, 5 AZR 543/20, Rn. 14, AP Nr. 164 zu § 615 BGB). Die arbeitsvertraglich vereinbarte Tätigkeit der Klägerin und damit die zu bewirkende Beschäftigung ist die einer Pflegehelferin. Diese Tätigkeit wollte die Klägerin erbringen, bis die rechtsunwirksame Freistellung durch die Beklagte sie daran hinderte. Auch darüber hinaus bis zum Ende des streitgegenständlichen Zeitraums mit Ablauf des 31.07.2022 lag die Leistungswilligkeit der Klägerin vor. Entgegenstehende Anhaltspunkte sind nicht ersichtlich.



bb) Die Klägerin war auch tatsächlich und rechtlich zur geschuldeten Arbeitsleistung in der Lage. Auch insoweit hat das Arbeitsgericht zutreffend erkannt, dass die Klägerin rechtlich in der Lage gewesen wäre, ihre Arbeitsleistung als Pflegehelferin zu erbringen, weil weder § 20a Abs. 1IfSG noch das Gesundheitsamt nach § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG ihre Tätigkeit verboten hätten. Das arbeitgeberseitige, mit der Freistellung der Klägerin verbundene Tätigkeitsverbot habe nicht zu einem Unvermögen zur Erbringung der Arbeitsleistung im Sinne des § 297 BGB geführt. Die Beklagte habe hiermit selbst die Ursache dafür gesetzt, dass die Klägerin nicht an ihren Arbeitsplatz gelangen konnte. Das Leistungshindernis habe damit seine Ursache in der von ihr geregelten Arbeitsorganisation. Auch wenn man davon ausginge, dass die Beklagte vertretbare arbeitsschutzrechtliche Gründe für das Tätigkeitsverbot angeführt haben sollte, schließe das die Verpflichtung zur Vergütungsfortzahlung nicht aus. Für Ansprüche aus § 615 Satz 1 in Verbindung mit § 611a Abs. 2 BGB sei es grundsätzlich unerheblich, aus welchem Grund dies geschieht und ob der Arbeitgeber dies verschuldet habe. Der Arbeitgeber sei deshalb auch dann, wenn er aus Präventionsgründen oder den hier von der Beklagten angeführten Haftungsgründen - ohne infektionsschutzrechtliche gesetzliche oder behördliche Anordnung - den Arbeitnehmer freistelle, diesem für die Zeit der Freistellung zur Vergütungsfortzahlung verpflichtet. Dem ist nichts hinzuzufügen.



II.



1. Die Kostenentscheidung zu Lasten der Beklagten folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 91a ZPO. Letzteres ergibt sich daraus, dass die Beklagte auch bezüglich des übereinstimmend für erledigt erklärten Beschäftigungsantrags die Kosten zu tragen hat.



a) Haben die Parteien in der mündlichen Verhandlung den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, entscheidet das Gericht über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen (Erfolgsaussicht).



b) Vorliegend hätte die Klage mit dem Beschäftigungsantrag ohne den Eintritt des erledigenden Ereignisses Erfolg gehabt.



c) Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Erledigung nicht etwa in Folge der Aufhebung des § 20a IfSG mit Ablauf des 31.12.2022 eingetreten ist. Wäre hierauf abzustellen, dann hätte die Klägerin insoweit die Kosten zu tragen, weil bereits mit der Einführung des § 20a IfSG durch Art. 1 Nr. 4 des Gesetzes (BGBl Jahrgang 2021 Teil I Nr. 83, ausgegeben am 11.12.2021, S. 5162ff) zur Stärkung der Impfprävention gegen COVID-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie vom 10.12.2021, gültig ab dem 12.12.2021 (Art. 23 Abs. 1), in dessen Art 2 Nr. 1 die Aufhebung des § 20a mit Ablauf des 31.12.2022 bestimmt war (Art. 23 Abs. 4). Die Klägerin hätte ihren Beschäftigungsanspruch von Anfang an zeitlich bis zum Ablauf des 31.12.2022 begrenzen müssen. Vorliegend ist indessen der Widerruf der unberechtigten widerruflichen Freistellung der Klägerin durch die Beklagte vom 13.03.2022 mit Wirkung ab dem 01.01.2023 Grund für das erledigende Ereignis. Die Klägerin arbeitet seitdem wieder als Pflegehelferin.



d) Hinsichtlich der Begründetheit des Beschäftigungsanspruchs der Klägerin verweist die Berufungskammer zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts in seinen Entscheidungsgründen unter I. 1. und macht sich diese ausdrücklich zu eigen. Das Arbeitsgericht hat seiner Beurteilung die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers, zur Auslegung von Gesetzen und zur ausnahmsweisen Freistellung zu Grunde gelegt und eine von Rechts wegen nicht zu beanstandende Subsumtion des von ihm festgestellten, von der Beklagten auch nicht angegriffenen und somit bindenden Sachverhaltes durchgeführt.



e) Demgegenüber rechtfertigen die Berufungsangriffe der Beklagten keine andere Beurteilung. Die Beklagte legt ihrer Rechtsansicht ein anderes Auslegungsergebnis des § 20a IfSG zu Grunde. Die von ihr gewonnene Auslegung ist methodisch nachvollziehbar. Jedoch sprechen nach Ansicht der Berufungskammer die vorgenannten und in Bezug genommenen besseren Gründe für das vom Arbeitsgericht erkannte Ergebnis.



2. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nach § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG vor.

Pfeiffer
Gräfe
Lang

Verkündet am 03.02.2023

Vorschriften§ 20a IfSG, § 20a Abs. 2 bis Abs. 5 IfSG, § 20a Abs. 1 IfSG, § 20a Abs. 2, Abs. 3 S.4 IfSG, § 20a Abs. 3 IfSG, § 297 BGB, § 69 Abs. 2 ArbGG, § 294 BGB, § 20a Abs. 5 Satz 3 IfSG, § 611a Abs. 2 BGB, § 97 Abs. 1 ZPO, § 91a ZPO, § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG