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Urteil vom 12.12.2022 · IWW-Abrufnummer 234508

Hessisches Landesarbeitsgericht - Aktenzeichen 16 Sa 700/22

1. Die Gleichsetzung betrieblicher Vorgänge mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem kann eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen Personen darstellen.

2. Bei der Konkretisierung der Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht ( § 241 Abs. 2 BGB ) sind die grundrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ( Art. 5 Abs. 1 GG ) zu beachten.

3. Es hat eine Abwägung der Umstände des Einzelfalls zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und den Rechtsgütern, in deren Interesse das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll, stattzufinden. Dabei wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit zurücktreten müssen, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung darstellt. Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn der Meinungsäußerung zutreffend erfasst worden ist.


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 3. März 2022 ‒ 7 Ca 114/21 ‒ teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 7. Mai 2021 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst wurde.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Production Worker in der Abteilung xxx weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Zug um Zug gegen Rückgabe des Zeugnisses vom 7. Mai 2021 ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung, Weiterbeschäftigung und die Erteilung eines Zwischenzeugnisses.



Die Beklagte stellt Lebensmittelprodukte her und beschäftigt etwa 1800 Arbeitnehmer. Bei ihr ist ein Betriebsrat gebildet. Der am xx.xx. 1983 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit 30. April 2020 auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrags vom 24. April 2020 (Bl. 6-9 der Akte) in der Fassung der Änderungsvereinbarung vom 7. August 2020 (Bl. 10 der Akte) als „Production Worker“ bei der Beklagten zu einer Bruttomonatsvergütung von 3334,80 € tätig.



Am 23. April 2021 kam es während der Spätschicht in der Betriebskantine zu einem Vorfall, dessen genauer Verlauf und Wortlaut streitig ist.



Nach der Behauptung des Klägers wurde an diesem Tag eine Sammelbestellung Pizza aufgegeben. Regulärer Pausenbeginn sei um 17:00 Uhr. Der Kläger und sein Kollege A seien um ca. 17:05 Uhr in der Kantine angekommen, wo sich bereits 3 weitere Kollegen aus der Schicht des Klägers befunden hätten. Unmittelbar danach sei der Schichtleiter B mit weiteren Kollegen in der Kantine eingetroffen. Der Schichtleiter B habe den Kläger angeschrien, warum er zeitlich vor dessen Eintreffen bereits in der Kantine stehe. Ein Teil der Mitarbeiter habe die für sie gelieferte Pizza genommen und die Kantine verlassen. Der andere Teil habe seine Pizza in der Kantine gegessen. Als die Uhr 17:15 Uhr angezeigt habe, seien der Kläger und sein Kollege noch am Essen gewesen. Der Schichtleiter B habe daraufhin in provozierendem Ton zum Kläger gesagt: „Eure Pause ist gleich zu Ende.“ Der Kläger habe nicht mehr gewusst, wie er mit der durchgehenden Drucksituation angemessen umgehen konnte. Die Aggressionen des Schichtleiters hätten ihn so unter Zugzwang gesetzt, dass er geäußert habe: „Kommt iss schneller, wir werden von B behandelt wie im KZ.“ Der Kläger und sein Kollege hätten sich auf den Weg zum Arbeitsplatz begeben und die Pizza im Gehen gegessen.



Nach der Behauptung der Beklagten habe der Kläger am 23. April 2021 während der Spätschicht seinen Arbeitsplatz ohne sich abzumelden verlassen und, nachdem er sich umgezogen hatte, sich in die Kantine begeben. Alle anderen Mitarbeiter der Spätschicht hätten erst nachdem sie von ihrer Schichtleitung informiert wurden, dass die Essensbestellung eingetroffen ist, die Pause angetreten, um gemeinsam in der Kantine zu essen. Auf die Nachfrage des Schichtleiters, warum der Kläger früher in die Pause gegangen sei, habe dieser geantwortet: „Es sind doch nur 5 Minuten.“ Der Schichtleiter habe den Kläger sodann darauf hingewiesen, dass die vorgeschriebenen Pausenzeiten von jedem Mitarbeiter einzuhalten seien und die Pause erst angetreten werde, nachdem der Schichtleiter die Mitarbeiter informiert habe, dass die Essensbestellung eingetroffen sei. Anschließend hätten alle ihr Essen zu sich genommen. Nachdem der Kläger sein Essen verzehrt hatte, sei er aufgestanden und habe zu seinen Kollegen A gesagt: „Komm fress schneller, wir müssen gehen - ist ja wie im KZ hier.“



In einer E-Mail vom 5. Mai 2021 an die Personalabteilung sowie den Betriebsrat nahm der Kläger zu dem Vorfall unter anderen wie folgt Stellung: „Meine Aussage in der Kantine, die ich mir hätte verkneifen können, war personenbezogen und nicht gegen meinen Arbeitgeber gerichtet. Trotzdem hätte ich das nicht sagen sollen, was mir im Nachhinein bewusst wurde. Ich bin sehr zufrieden mit der Firma C und komme gerne hier arbeiten…“ Wegen des Inhalts der E-Mail wird auf Bl. 49-51 der Akte verwiesen.



Mit Schreiben vom 5. Mai 2021 (Bl. 52, 53 der Akte) hörte die Beklagte den Betriebsrat zu einer fristlosen hilfsweise ordentlichen Kündigung an. Der Betriebsrat erklärte sich dazu am 6. Mai 2021 wie folgt: „Die Kündigung wird zur Kenntnis genommen, eine weitere Stellungnahme innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG wird seitens des Betriebsrates nicht ergehen.“



Mit Schreiben vom 7. Mai 2021 (Bl. 12 der Akte), zugegangen am selben Tag, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht.



Dagegen hat sich der Kläger mit seiner am 26. Mai 2021 beim Arbeitsgericht eingegangenen Kündigungsschutzklage gewandt.



Hinsichtlich der Einzelheiten des unstreitigen Sachverhalts, des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und der gestellten Anträge wird auf den Tatbestand der Entscheidung des Arbeitsgerichts (Bl. 128-130 R der Akte) Bezug genommen.



Das Arbeitsgericht hat die Klage, soweit im Berufungsverfahren von Bedeutung, abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe (Bl. 130R bis 135 der Akte) verwiesen.



Dieses Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 26. April 2022 zugestellt, der dagegen am 10. Mai 2022 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 26. Juli 2022 am 26. Juli 2022 begründet hat.



Der Kläger rügt, das Arbeitsgericht habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass im Betrieb der Beklagten ein rauer Umgangston herrsche. Der Schichtleiter B spreche den Kläger sowie dessen Kollegen mit Migrationshintergrund mit „ihr Kanaken“ an, einen aus Rumänien stammenden Kollegen bezeichne er stets als „Zigeuner“. Als der Kläger und sein Kollege sich unterhielten, habe der Vorgesetzte zu diesen gesagt: „Ihr Türken redet zu viel.“ Ein anderes Mal habe er sie dadurch diffamiert, dass er vorgeschlagen habe, sein Kollege und er sollten die Fliesen mit der Zahnbürste auf allen Vieren putzen. Am 23. April 2021 sei der Kläger um 17:05 Uhr in der Kantine eingetroffen. Er sei von seinem Vorgesetzten von hinten angeschrien worden, er solle diesem den Vortritt lassen. Wie in allen Pausen habe der Kläger die Uhrzeit stets im Blick gehabt. Um 17:15 Uhr habe sich der Vorgesetzte zum Kläger und seinem Kollegen, die ihr Essen zu sich nahmen, gebeugt und in provozierenden Ton gesagt: „Eure Pause ist gleich zu Ende.“ Dieser Anspruch sei mit dem Ziel erfolgt, den Kläger und seinen Kollegen unter Druck zu setzen. Der Kläger habe sich in einer Ausnahmesituation befunden. Er und sein Kollege hätten erneut nachgegeben und sogleich die Pause beendet. Der Kläger habe dann zu seinem Kollegen gesagt: „Komm iss schneller, wir werden von B behandelt wie im KZ.“ Die Äußerung habe keine Verbindung zu den Zuständen eines Konzentrationslagers im Nationalsozialismus gehabt. Jeder Anwesende habe ihr lediglich den Wert beigemessen, dass der Kläger seinem Kollegen sagte, man solle gehen, weil der Vorgesetzte sie unerträglich streng und herabwürdigend behandele. In der Folge dieses Ausbruchs sei die Wortwahl des Klägers zunächst auch kein Thema gewesen. Auch der Vorgesetzte selbst habe sie als eine gehaltlose Gegenwehr des Klägers empfunden und mit der Wortwahl überhaupt kein Problem gehabt. Jeder habe den Ausbruch des Klägers als einen Hilferuf verstanden. Das Arbeitsgericht habe verkannt, dass der Kläger die Buchstaben KZ nicht benutzt habe, um die Beklagte oder seinen Vorgesetzten direkt mit einem Konzentrationslager zu vergleichen, sondern für eine undefinierte Art Arbeitslager, in dem ein Vorgesetzter die Arbeiter unangemessen streng behandelt. Fehlerhaft habe das Arbeitsgericht eine Abmahnung nicht für erforderlich gehalten. Ohne nähere Begründung habe es eine negative Prognose angenommen. Fehlerhaft habe das Arbeitsgericht festgestellt, dass sich der Kläger nicht entschuldigt habe. In seiner E-Mail vom 5. Mai 2021 habe er ausdrücklich eingeräumt: „Trotzdem hätte ich das nicht sagen sollen, was mir im Nachhinein bewusst wurde.“ Hierin sei eine Entschuldigung zu sehen. Im Übrigen habe sich der Kläger mit Schriftsatz vom 30. August 2021 (Bl. 34 der Akte) wie folgt für sein Verhalten entschuldigt: „Der Kläger wollte die Beklagte nicht verärgern und entschuldigt sich abermals ausdrücklich bei der Beklagten dafür.“ Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass der Ausspruch des Klägers nicht als Reaktion auf Arbeitsbedingungen im klassischen Sinne erfolgt sei. Vielmehr habe es sich um eine Reaktion auf eine weitere Diffamierung seines Vorgesetzten, die allein den Grund gehabt habe, den Kläger zu verletzen und herabzuwürdigen, gehandelt. Der Kläger berufe sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Die Kündigung sei wegen fehlerhafter Betriebsratsanhörung unwirksam, da der Kündigungssachverhalt nicht richtig dargestellt worden sei. Die Beklagte führe dort aus, der Kläger habe gesagt: „Komm fress schneller, ist ja wie im KZ hier.“ Das habe der Kläger so nicht gesagt. Als entlastende Gesichtspunkte hätte dem Betriebsrat die Vorgeschichte zwischen dem Kläger und seinem Vorgesetzten mitgeteilt werden müssen. Der Kläger habe seinen Arbeitsplatz auch nicht -wie dem Betriebsrat mitgeteilt- ohne Abmeldung verlassen, sondern sei auf Toilette gewesen. Dem Betriebsrat werde auch nicht mitgeteilt, warum die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ende der Kündigungsfrist unzumutbar sei. Entscheidend sei, dass die Kündigung ausgesprochen wurde, bevor das Anhörungsverfahren beendet war. Der Betriebsrat habe lediglich mitgeteilt, dass innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG (eine Woche für die ordentliche Kündigung) keine Stellungnahme abgegeben werde. In Bezug auf § 102 Abs. 2 S. 3 BetrVG (3-tägige Frist zur Stellungnahme für den Betriebsrat bei einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung) habe der Betriebsrat keine Stellungnahme abgegeben. Der Arbeitgeber hätte daher mit dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung noch warten müssen. Aufgrund der Unwirksamkeit der Kündigung sei kein Endzeugnis, sondern ein Zwischenzeugnis zu erteilen und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung verpflichtet.



Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Darmstadt vom 3. März 2022 -7 Ca 114/21- teilweise abzuändern, soweit es die Klage abgewiesen hat und festzustellen, dass das Arbeitverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 7. Mai 2021 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst ist, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Zug um Zug gegen Rückgabe des Zeugnisses vom 7. Mai 2021 ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen, die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsbedingungen als „Production Worker“ in der Abteilung xxx weiter zu beschäftigen.



Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.



Die Beklagte verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts als zutreffend und nimmt auf ihren erstinstanzlichen Vortrag Bezug. Der Vortrag des Klägers, er habe den Inhalt und die Tragweite seiner Äußerung, konkret die Buchstaben KZ, nicht verstanden, sei eine reine Schutzbehauptung. Das Arbeitsgericht habe zu Recht erkannt, dass der Kläger mit seiner E-Mail vom 5. Mai 2021 gezeigt habe, dass er intellektuell in der Lage sei, seine Äußerungen inhaltlich zu verstehen einschließlich deren Wirkung auf andere. Der Kläger lebe seit seinem 7. Lebensjahr in Deutschland und sei hier zur Schule gegangen, weshalb er wissen müsse, was ein KZ sei. Der Kläger beschreibe seinen Schichtleiter als jemanden, der ihn unerträglich diffamiere. Dass er damit einen Vergleich zu den Behandlungen im KZ herstellen wollte, liege nicht fern. Der Versuch einer Rechtfertigung der Äußerung des Klägers scheitere. Es handele sich hierbei nicht um eine berechtigte Kritik am Vorgesetzten. Vielmehr überschreite die Äußerung eine gesetzliche Grenze und verharmlose faschistisches Unrecht. In der E-Mail des Klägers vom 5. Mai 2021 sei auch nichts von einer Entschuldigung zu lesen. Das Arbeitsgericht habe die E-Mail zutreffend dahin gewürdigt, dass sie nur erfolgte, um eine drohende Kündigung abzuwenden. Die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt. Unter Berücksichtigung der Grundsätze der subjektiven Determinierung sei der Kündigungssachverhalt zutreffend dargestellt worden. Der Betriebsrat habe am 6. Mai zu erkennen gegeben, dass er innerhalb der Frist des § 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG keine weitere Stellungnahme abgeben werde.



Hinsichtlich des Kontexts der Äußerung des Klägers habe das Arbeitsgericht sogar zu dessen Gunsten angenommen, dass dieser unter Druck gestanden habe, da er sich von seinem Schichtleiter schlecht behandelt gefühlt habe. Letzteres werde ausdrücklich bestritten, da laut Aussage der Kollegen eine gelöste Atmosphäre während der Mittagspause bestanden habe. Keiner der anwesenden Kollegen des Klägers könne bestätigen, dass der Schichtleiter B den Kläger aggressiv diffamiert habe. Der Kläger habe seinen Vorgesetzten nicht lediglich kritisiert, sondern ihm mit seiner Äußerung jede menschliche und moralische Integrität abgesprochen. Hinzu komme, dass die Äußerung in Anwesenheit mehrerer Kollegen erfolgte.



Das Gericht hat den Parteien einen rechtlichen Hinweis erteilt; insoweit wird auf Bl. 192 der Akte Bezug genommen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle verwiesen.



Entscheidungsgründe



I.



Die Berufung ist statthaft, § 8 Abs. 2 ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO, § 64 Abs. 2b ArbGG. Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, § 66 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO und damit insgesamt zulässig.



II.



Die Berufung des Klägers ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde durch die Kündigung der Beklagten vom 7. Mai 2021 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst.



Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, d.h. typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht (Bundesarbeitsgericht 25. Januar 2018 -2 AZR 382/17- Rn. 26; 14. Dezember 2017 -2 AZR 86/17- Rn. 27; 7. Juli 2011 -2 AZR 355/10- Rn. 12).



Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers, seiner Vertreter und Repräsentanten oder von Arbeitskollegen stellen einen erheblichen Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine vertragliche Pflicht zur Rücksichtnahme dar (§ 241 Abs. 2 BGB) und sind „an sich“ geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen (Bundesarbeitsgericht 7. Juli 2011 -2 AZR 305 50/10- Rn. 14; 24. November 2005 -2 AZR 584/04- Rn. 22). Die Gleichsetzung noch so umstrittener betrieblicher Vorgänge mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem und ein Vergleich von Handlungen des Arbeitgebers oder der für ihn handelnden Menschen mit den vom Nationalsozialismus geförderten Verbrechen bzw. den Menschen, die diese Verbrechen begingen, kann eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen Personen darstellen. Darin liegt zugleich eine Verharmlosung des in der Zeit des Nationalsozialismus begangenen Unrechts und eine Verhöhnung seiner Opfer.



Bei der Konkretisierung der Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht (§ 241 Abs. 2 BGB) sind die grundrechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, zu beachten (Bundesarbeitsgericht 24. November 2005 -2 AZR 584/04- Rn. 23). Das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG ist für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung konstituierend. Es gewährleistet eine der wesentlichen Äußerungsformen der menschlichen Persönlichkeit. Aufgrund seiner großen Bedeutung ist seine Berücksichtigung jeweils im Rahmen des Möglichen geboten. Mit der überragenden Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG wäre es unvereinbar, wenn das Grundrecht in der betrieblichen Arbeitswelt, die für die Lebensgrundlage zahlreiche Staatsbürger wesentlich bestimmend ist, gar nicht oder nur eingeschränkt anwendbar wäre. Dabei besteht der Grundrechtsschutz unabhängig davon, ob eine Äußerung rational oder emotional, begründet oder grundlos ist, und ob sie von anderen für nützlich oder schädlich, wertvoll oder wertlos gehalten wird. Der Grundrechtsschutz bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der Äußerung. Auch eine polemische oder verletzende Formulierung entzieht einer Äußerung noch nicht den Schutz der Meinungsfreiheit.



Allerdings wird das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht schrankenlos gewährt, sondern durch die allgemeinen Gesetze und das Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG) beschränkt und muss in ein ausgeglichenes Verhältnis mit diesem gebracht werden. Dabei gibt die Verfassung das Ergebnis einer solchen Abwägung nicht vor. Dies gilt insbesondere wenn, wie hier, auf Seiten des Arbeitgebers verfassungsrechtlich geschützte Positionen in Betracht kommen. Dazu gehört nicht nur die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG). Durch Art. 12 GG wird auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers, die insbesondere durch eine Störung des Betriebsablaufs und des Betriebsfriedens berührt werden kann, geschützt. Auch gehört die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Interessen der anderen Vertragspartei (§ 241 Abs. 2 BGB) zu den allgemeinen Gesetzen (Art. 5 Abs. 2 GG). Zwischen der Meinungsfreiheit und dem beschränkenden Gesetz findet eine Wechselwirkung statt. Insbesondere die Regelung des § 241 BGB muss ihrerseits der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts in einem freiheitlichen demokratischen Staat Rechnung tragen. Dem besonderen Wertgehalt des Art. 5 Abs. 1 GG, der ebenfalls eine Ausprägung der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darstellt und für eine grundsätzliche Freiheit der Meinungsäußerung streitet, muss die gebührende Beachtung geschenkt werden. Die diesem Grundrecht schrankensetzenden Regelungen und gegenläufigen verfassungsrechtlich geschützten Positionen müssen deshalb ihrerseits aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ausgelegt und so in ihrer dieses Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden (Bundesarbeitsgericht 24. November 2005, a.a.O. Rn. 26 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; Bundesarbeitsgericht 5. Dezember 2019 -2 AZR 240/19- Rn. 95).



Dementsprechend ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles eine Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit und den Rechtsgütern, in deren Interesse das Grundrecht der Meinungsfreiheit eingeschränkt werden soll, vorzunehmen. Dabei wird das Grundrecht der Meinungsfreiheit regelmäßig zurücktreten müssen, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde oder als eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung darstellt. Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn der Meinungsäußerung zutreffend erfasst worden ist. Die Auslegung hat vom Wortlaut der Äußerung auszugehen, darf aber den Kontext, in dem sie steht sowie die für den Empfänger erkennbaren Begleitumstände unter dem sie gefallen ist, nicht unberücksichtigt lassen. Die isolierte Betrachtung eines bestimmten Äußerungsteils wird den Anforderungen an eine zuverlässige Sinnermittlung regelmäßig nicht gerecht. Einer Äußerung darf kein Sinn beigelegt werden, den sie nicht besitzt. Bei mehrdeutigen Äußerungen muss eine ebenfalls mögliche Deutung mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen werden. Bei Aussagen die bildlich eingekleidet sind, müssen sowohl die Aussage der Einkleidung selbst als auch die so genannte Kernaussage je für sich daraufhin überprüft werden, ob sie die gesetzlichen Grenzen überschreiten (Bundesarbeitsgericht 24. November 2005, a.a.O. Rn. 27 zum Vergleich betrieblicher Verhältnisse mit den in Konzentrationslagern begangenen Verbrechen; 5. Dezember 2019 -2 AZR 240/19- Rn. 86 ff. zur Schmähkritik bezogen auf Judenvergleich; 7. Juli 2011 -2 AZR 355/10- Rn. 34 wo im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt wird, dass die Gleichsetzung einer einzelnen Äußerung eines Repräsentanten des Betriebs mit Vorgehensweisen während des Nationalsozialismus in ihrem Ausmaß der Pflichtwidrigkeit geringer ist, als wenn der gesamte Betrieb des Arbeitgebers mit solchen Verfahrensweisen verglichen worden wäre; zu den Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit im Arbeitsverhältnis zuletzt: Hülsmann, RdA 22, 228ff).



Selbst unter Zugrundelegung der Schilderung des Vorfalls von 23. April 2021 wie sie von der Beklagten dargestellt wird, rechtfertigt die (in dieser Form vom Kläger bestrittene) Äußerung die außerordentliche Kündigung nicht.



Nach der Behauptung der Beklagten im Schriftsatz vom 1. Oktober 2021 auf Seite 1 unten, 2 oben (Bl. 43, 44 der Akte) habe der Kläger am 23. April 2021 während der Spätschicht seinen Arbeitsplatz ohne sich abzumelden verlassen und, nachdem er sich umgezogen hatte, sich in die Kantine begeben. Alle anderen Mitarbeiter der Spätschicht hätten erst nachdem sie von ihrer Schichtleitung informiert wurden, dass die Essensbestellung eingetroffen ist, die Pause angetreten, um gemeinsam in der Kantine zu essen. Auf die Nachfrage des Schichtleiters, warum der Kläger früher in die Pause gegangen sei, habe dieser geantwortet: „Es sind doch nur 5 Minuten.“ Der Schichtleiter habe den Kläger sodann darauf hingewiesen, dass die vorgeschriebenen Pausenzeiten von jedem Mitarbeiter einzuhalten seien und die Pause erst angetreten werde, nachdem der Schichtleiter die Mitarbeiter informiert habe, dass die Essensbestellung eingetroffen sei. Anschließend hätten alle ihr Essen zu sich genommen. Nachdem der Kläger sein Essen verzehrt hatte, sei er aufgestanden und habe zu seinen Kollegen A gesagt: „Komm fress schneller, wir müssen gehen - ist ja wie im KZ hier.“



Die an seinen Kollegen gerichtete Äußerung „Komm fress schneller, wir müssen gehen - ist ja wie im KZ hier“ setzt weder den Schichtleiter B mit einem Repräsentanten des Nationalsozialismus gleich noch rückt sie die Beklagte in die Nähe verbrecherischer NS-Organisationen. Aus dem Kontext der Äußerung ergibt sich zunächst, dass diese in Zusammenhang zu der unmittelbar zuvor erfolgten Rüge wegen des aus Sicht des Schichtleiters verfrühten Antritts der Pause durch den Kläger erfolgte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese Rüge nicht in einem persönlichen Gespräch dieser beiden Personen erfolgte, sondern in Gegenwart der Arbeitskollegen des Klägers, der hierauf beschwichtigend („es sind doch nur 5 Minuten.“) reagierte. Anschließend musste sich der Kläger über die Einhaltung der Pausenzeiten belehren lassen. Der Kläger fügte sich und nahm sein Essen zu sich. Im Anschluss daran erfolgte die Äußerung des Klägers zu seinem Kollegen, der noch nicht fertig gegessen hatte: „Komm fress schneller, wir müssen gehen - ist ja wie im KZ hier.“



Dieser Kontext zeigt, dass der unmittelbar zuvor öffentlich vor seinen Kollegen wegen einer (aus seiner, des Klägers) Sicht geringfügig zu früh angetretener Pause gerügte Kläger mit seiner Äußerung zunächst seinen Kollegen „antreiben“ wollte, zur Vermeidung weiterer Konflikte schneller zu essen. Ferner beinhaltete die Äußerung zugleich eine Kritik an dem Schichtleiter, während der Einnahme seines Essens nicht gehetzt zu werden sowie den Ausdruck des Unverständnisses darüber, auf welche Weise der Schichtleiter die Einhaltung der Pausenzeiten sicherstellt.



Soweit die Beklagte auf den gerichtlichen Hinweis, zu dem Kontext der Äußerung des Klägers Stellung zu nehmen, bestritten hat, dass der Kläger unter Druck gestanden habe und (während der Pause) eine gelöste Atmosphäre bestanden habe sowie dass keiner der anwesenden Kollegen bestätigen könne, dass der Schichtleiter B den Kläger aggressiv diffamiert habe, ergibt sich daraus nichts anderes. Das Gericht würdigt gerade den von der Beklagten geschilderten Sachvortrag, wie sie diesen auf Seite 1 unten, 2 oben des Schriftsatzes vom 1. Oktober 2021 (Bl. 43, 44 der Akte) vorgetragen hat. Ob der Kläger „unter Druck gestanden“ hat, ist eine innere Tatsache. Wie sich der Kläger gefühlt hat, mag den übrigen Beteiligten verborgen geblieben sein. Dies gilt auch, soweit (insgesamt) eine gelöste Atmosphäre bestanden haben mag. Gerade unter Zugrundelegung des von der Beklagten geschilderten Gesprächsverlaufs verlief die streitgegenständliche Pause jedenfalls für den Kläger, auch wenn er nicht „aggressiv diffamiert“ wurde, nicht störungsfrei. Er wurde vor seinen Kollegen wegen eines zu früh erfolgten Pausenantritts gerügt und sodann über die Einhaltung der Pausenzeiten belehrt. Vor dem Hintergrund dieser Situation ist seine Äußerung zu bewerten.



Dies führt dazu, dass sie dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt, weil es sich um eine in einer konkreten Situation erfolgte Kritik an dem Verhalten seines Vorgesetzten handelt. Die Grenze zur Schmähkritik hat der Kläger dabei nicht überschritten. Voraussetzung hierfür wäre, dass nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (BAG 7. Juli 2011 ‒ 2 AZR 355/10 ‒ Rn. 17). Gerade der Kontext der Äußerung zeigt (wie ausgeführt), dass es um sich um eine sachbezogene, wenn auch überspitzt formulierte, Kritik am Verhalten des Vorgesetzten des Klägers, des Schichtleiters B, handelte.



Da die Äußerung des Klägers dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG unterfällt, erweist sich auch die ordentliche Kündigung nicht aus verhaltensbedingten Gründen als sozial gerechtfertigt, § 1 Abs. 2 KSchG.



Nachdem das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 7. Mai 2021 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst wurde, kann der Kläger die Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Production Worker in der Abteilung xxx verlangen (BAG GS 27. Februar 1985 ‒ GS 1/84).



Aus arbeitsvertraglicher Nebenpflicht kann der Kläger Zug um Zug gegen Rückgabe des ihm erteilten Endzeugnisses die Erteilung eines Zwischenzeugnisses verlangen.



III.



Als unterlegene Partei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.



Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor, § 72 Abs. 2 ArbGG.

Vorschriften§ 102 Abs. 2 S. 1 BetrVG, § 102 Abs. 2 S. 3 BetrVG, § 8 Abs. 2 ArbGG, § 511 Abs. 1 ZPO, § 64 Abs. 2b ArbGG, § 66 Abs. 1 ArbGG, § 519, § 520 ZPO, § 626 Abs. 1 BGB, § 241 Abs. 2 BGB, Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 2 GG, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12 GG, § 241 BGB, § 1 Abs. 2 KSchG, § 91 Abs. 1 ZPO, § 72 Abs. 2 ArbGG