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Urteil vom 29.11.2022 · IWW-Abrufnummer 235022

Landesarbeitsgericht Nürnberg - Aktenzeichen 1 Sa 250/22

1. Ohne hinreichende Verdachtsmomente ist der Arbeitgeber nicht befugt, den arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmer durch ein Loch in der Hecke auf seinem Privatgrundstück beobachten und filmen zu lassen. Die beobachteten Tatsachen unterliegen im Prozess einem Verwertungsverbot.

2. Soweit sich aus dem Vortrag des Arbeitnehmers im Prozess eine Pflichtverletzung ergibt, kann dies verwertet werden.

3. Die eingeräumten Tätigkeiten beim Bau der Gartenmauer rechtfertigen eine außerordentliche Kündigung wegen genesungswidrigen Verhaltens ohne Abmahnung nicht.

4. Die gegen den Arbeitnehmer zum Ausdruck kommende, durch geänderte und schlechte Arbeitsbedingungen bei der Erfüllung des Weiterbeschäftigungsanspruchs gekennzeichnete feindselige Haltung des Arbeitgebers kann die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Antrag des Arbeitnehmers rechtfertigen.


Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Bamberg, Kammer Coburg, vom 10.05.2022, Az. 4 Ca 612/21, wird zurückgewiesen.

II. Das Arbeitsverhältnis wird auf Antrag des Klägers mit Wirkung zum 31.05.2022 aufgelöst.

III. Die Beklagte hat an den Kläger € 35.000,-- (in Worten: Euro Fünfunddreißigtausend) als Abfindung gemäß §§ 9 , 10 KSchG , § 3 Nr. 9 EStG zu zahlen.

Im Übrigen wird der Antrag des Klägers zurückgewiesen.

IV. Bei der Kostenentscheidung 1. Instanz hat es sein Bewenden. Von den Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger 1/6, die Beklagte 5/6 zu tragen.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten über die Berechtigung einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitgebers sowie über die gerichtliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Abfindung auf Antrag des Arbeitnehmers.



Der im Jahr 1965 geborene Kläger ist seit 02.04.1990 bei der Beklagten, bei der mehr als zehn Arbeitnehmer regelmäßig tätig sind, als Betontechnologe beschäftigt. Er erhielt zuletzt ein Bruttomonatsentgelt von durchschnittlich 3.620,- €. Der Kläger ist einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.



Der Kläger ist - bis auf einen Zeitraum von 16.03. bis 23.03.2021 - seit 01.11.2020 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt bis über den 31.05.2022 hinaus.



Am 28.09. und 29.09.2021 ließ die Beklagte den Kläger bei Tätigkeiten auf seinem Hausgrundstück beobachten und durch ein Loch in der Hecke mit einer Kamera aufzeichnen. Wegen des von der Agentur erstellten Berichts wird auf die mit Schriftsatz der Klägervertreter vom 14.02.2022 vorgelegte Ablichtung Bezug genommen (Bl. 61 d.A.).



Auf Antrag der Beklagten vom 13.10.2021 erteilte das Inklusionsamt mit Bescheid vom 27.10.2021 die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung des Klägers.



Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 27.10.2021, dem Kläger zugegangen am 28.10.2021, außerordentlich mit sofortiger Wirkung.



Mit seiner am 03.11.2021 erhobenen Klage selben Datums hat der Kläger die Unwirksamkeit dieser außerordentlichen Kündigung geltend gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, ein wichtiger Grund hierfür sei nicht gegeben. Zudem sei die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. Die ordnungsgemäße Anhörung des bei der Beklagten bestehenden Betriebsrats werde bestritten. Die Beklagte habe ihn bis zur Rechtskraft des Prozesses weiterzubeschäftigen.



Der Kläger hat - nach Rücknahme des zunächst gestellten allgemeinen Feststellungsantrags auf Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses - erstinstanzlich zuletzt beantragt:



1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die fristlose Kündigung der Beklagten vom 27.10.2021 nicht beendet wird.



2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Betontechnologe weiterzubeschäftigen.



Die Beklagte hat beantragt,



die Klage abzuweisen.



Die Beklagte hält die außerordentliche Kündigung für wirksam. Der Kläger habe während ihm attestierter Arbeitsunfähigkeit schwere körperliche Arbeiten verrichtet. Er habe sich daher gesundheitsschädlich verhalten und auch die Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht. Nach dem Bericht des beauftragten Dienstes habe der Kläger am 28.09.2021 gegen 13.00 Uhr in seinem Garten handwerkliche Tätigkeiten ausgeführt, und zwar überwiegend in gebeugter und knieender Haltung. Gegen 15.30 Uhr habe er mehrfach versucht, einen Zwei-Takt-Stampfer zu starten. Die Arbeit habe er ohne Unterbrechung bis 17.00 Uhr verrichtet. Dies habe er am 29.09.2021 ab 10.30 Uhr fortgeführt, und zwar zusammen mit einer anderen Person. Hier habe er handwerkliche Tätigkeiten überwiegend in gebückter Haltung verrichtet, Gegenstände getragen und Schaufelarbeiten durchgeführt. Zu derartigen Tätigkeiten sei der Kläger aufgrund seiner Behinderung und seiner Arbeitsunfähigkeit körperlich nicht in der Lage. Selbst wenn die Arbeitsunfähigkeit nicht vorgeschoben sei, stelle die Verrichtung derartiger Arbeiten ein gesundheitsschädliches Verhalten dar. Der Kläger habe seine vertragliche Rücksichtnahmepflicht in grober Weise verletzt. Er habe auch das Vertrauen in seine Redlichkeit zerstört. Dies gelte umso mehr, wenn, wie nach ihren - der Beklagten - Informationen gegeben, die Krankschreibung auch wegen körperlicher/orthopädischer Probleme erfolgt sei. Eine Abmahnung sei bei einem solchen Verhalten nicht erforderlich. Die Beobachtungsperson habe den entsprechenden Bericht am 29.09.2021 erstellt und ihn am 30.09.2021 zur Verfügung gestellt, so dass der Antrag auf Zustimmung zur Kündigung beim Inklusionsamt rechtzeitig gestellt worden sei. Der Betriebsrat sei mit Anhörungsschreiben vom 13.10.2021, dem Betriebsrat übergeben am 19.10.2021, informiert worden und habe dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung am 20.10.2021 zugestimmt. Als Kündigungsbegründung ist im Anhörungsschreiben aufgeführt (Anlage B 1 zum Schriftsatz der Beklagtenvertreter vom 02.02.2022, Bl. 48 d.A.):



Hr. B... ist seit 01.11.2020 fast durchgehend krank.



Er hat 7 Tage gearbeitet seit dem 01.11.2020 (vom 16.03.2021 bis zum 24.03.2021). Es kamen ständig verschiedene Krankmeldungen von diversen Ärzten (Aufstellung beiliegend).



Wir haben Hrn. B... daraufhin von einem Privatdetektiv beobachten lassen.



Dieser hat uns am 30.09.2021 mitgeteilt, dass er festgestellt, hat, dass Hr. B... schwere körperliche Arbeiten bei sich im Garten durchführt (unter anderem Anlegen und Pflastern einer Terrasse).



Wir beabsichtigen deshalb Hrn. B... zu kündigen.



Begründung: "schwere körperliche Arbeit bei Arbeitsunfähigkeit". "Genesungswidriges Verhalten bei Arbeitsunfähigkeit".



Die Krankenkasse von Hrn. B... (D...) wurde informiert und dazu aufgefordert, den medizinischen Dienst der Krankenkassen einzuschalten.



Ein BEM-Gespräch wurde am 23.09.2021 von Hrn. F... mit Hrn. B... geführt (gem. BV v. 02.03.2020).



Der Kläger wendet ein, die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei deswegen nicht eingehalten, weil die Beklagte bereits am 28.09.2021 gegen 15.30 Uhr vor dem Grundstück den entsprechenden Bericht der Detektei erhalten habe. Er bestreite, dass die behaupteten Beobachtungen gemacht werden konnten. Der Garten seines Hauses liege an der von der Straße abgewandten Seite und sei von dort nicht einsehbar. Er besitze kein rotes Shirt, könne also nicht die beobachtete Person gewesen sein. Er sei im Juli 2021 an der rechten Schulter operiert worden, die Heilbewährung sei mit drei Monaten festgelegt worden. Es seien weitere Krankheitsursachen hinzugekommen. Er habe keine Pflasterarbeiten ausgeführt. Am 28.09. habe sein Schwiegersohn auf dem Grundstück eine Gartenmauer aus Beton gegossen und teilweise gemauert. Er selbst habe nur versucht, mit kleinen Handlangertätigkeiten zu helfen, habe etwa ein bis zweimal die Motorschubkarre beladen und etwa 20 Minuten den Zwei-Takt-Stampfer bedient. Am 29.09. habe ein Nachbar weitergearbeitet. Er selbst sei ihm nur mit leichten Tätigkeiten zur Hand gegangen. Es treffe nicht zu, dass er die Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht habe. Er sei zum damaligen Zeitpunkt arbeitsunfähig erkrankt gewesen, und zwar schon über den Entgeltfortzahlungszeitraum hinaus. Er habe im privaten Umfeld ohne Druck den Versuch unternommen, die Belastungsfähigkeit der Schulter zu testen, habe sich gerade nicht genesungswidrig verhalten. Soweit die Beklagte die Verrichtung sonstiger Tätigkeiten behaupte, werde dies bestritten. Er sei zu derart kurzen körperlichen Tätigkeiten durchaus in der Lage. Demgegenüber sei bei der Beklagten eine Tätigkeit geschuldet, die über acht Stunden hinweg zu verrichten sei und zu 65 bis 70% in schwerer körperlicher Arbeit bestehe. Bei dieser habe er schwere Sanierarbeiten zu verrichten, etwa Stahlbolzen mit einem Gewicht von 25 kg einzukleben, eine 300 kg schwere Betonfräse gemeinsam mit einem Kollegen zu bedienen, die Ausrüstung an die benötigte Stelle zu tragen, Eimer mit Beton mit einem Gewicht von 10 kg zu tragen. Auch die Betriebsratsanhörung sei unzureichend. Die angeblich festgestellten Tatsachen über seine Tätigkeit seien dem Betriebsrat vorenthalten worden, das Protokoll der Detektei sei dem Betriebsrat nicht vorgelegt worden. Zudem müsse die Frage aufgeworfen werden, ob die Detektei, die durch die Beklagte hierzu veranlasst worden sei, mit dem Filmen auf dem Hausgrundstück nicht seine Persönlichkeitsrechte verletzt habe.



Die Beklagte hält dem entgegen, die Beobachtungen entsprächen der Wahrheit. Der Kläger habe den Zwei-Takt-Stampfer durchgehend von 15.45 Uhr bis 17.00 Uhr bedient. Wenn der Kläger die Motorschubkarre beladen habe, die eine Belastungskapazität von 300 bis 500 kg habe, habe er Lasten von 600 bis 1.000 kg bewegt. Aus dem Schreiben der Widerspruchsbehörde an den Klägervertreter vom 07.03.2022 (Anlage zum Schriftsatz vom 23.03.2022, Bl. 68 d.A.) ergebe sich, dass auch die Ärzte nach Prüfung der Atteste zum Ergebnis gekommen seien, dass die Tätigkeiten, falls sie sich so zugetragen hätten, wie von ihr, der Beklagten, behauptet, in jedem Fall genesungswidrig gewesen seien. Eine Absprache mit den behandelnden Ärzten über die Belastung der Schulter sei nicht erfolgt. Die zweiwöchige Frist zum Antrag gegenüber dem Inklusionsamt sei eingehalten. Die Geschäftsführung habe erst am 30.09.2021 durch den zusammenfassenden Bericht des Detektivs von den Verstößen erfahren. Lediglich der nicht kündigungsberechtigte Mitarbeiter O... sei am 29.09.2021 vor Ort gewesen. Die Geschäftsleitung habe den Betriebsrat am 18.10.2021 ausführlich über die dem Kläger gemachten Vorwürfe informiert. Eine Abmahnung sei entbehrlich - das Verhalten des Klägers sei ihr als Arbeitgeberin nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit auch für den Arbeitnehmer erkennbar schlechthin ausgeschlossen. Unabhängig von der Videoaufnahme hätten die beobachtenden Zeugen sehen können, dass der Kläger auf der linken Seite aus dem Gartenhaus Schaufeln herausgetragen habe, und zwar durch ein Loch in der Hecke. Sie hätten den Kläger aus einer Entfernung von etwa 15 Metern identifizieren können. Sie hätten gesehen, dass er in gebückter Haltung Pflastersteine verlegt habe. Darüber hinaus habe man ihn bei der Bedienung des Zwei-Takt-Stampfers erkennen können. Die aus der Überwachung gewonnenen Erkenntnisse seien auch verwendbar. Anlass für die Überwachung sei gewesen, dass dem Kläger die Nutzung des Firmenfahrzeugs gestattet gewesen sei, weil er seiner Tochter beim Bau deren Hauses in der Nähe des Einsatzortes habe helfen wollen. Allerdings sei beim Notieren der Arbeitszeiten der Verdacht aufgekommen, dass der Kläger doch nicht auf direktem Weg zur Baustelle gefahren sei. Aus diesem Grund sei ihm am 15.03.2021 die Nutzungsmöglichkeit des Firmenfahrzeugs entzogen worden. Er habe die Anweisung erhalten, dass die Arbeitszeit im Betrieb in U... beginne und ende. Unmittelbar darauf sei der Kläger dauerhaft arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Sie, die Beklagte, habe aber aufgrund der früheren Bitte des Klägers gewusst, dass dieser auf der Baustelle seiner Tochter gearbeitet habe. Dies gelte umso mehr, als der Kläger bereits in der Vergangenheit trotz Arbeitsunfähigkeit im Betrieb erschienen sei und gearbeitet habe, obwohl er die Anweisung gehabt habe, das Arbeiten während der Arbeitsunfähigkeit zu unterlassen. Aus diesem Grund habe er unter dem 30.11.2020 eine entsprechende Abmahnung erhalten (S. 3 des Schriftsatzes der Beklagtenvertreter vom 31.03.2022, Bl. 78 d.A.). Sie, die Beklagte, habe daher Anlass zur Annahme gehabt, dass der Kläger während der Arbeitsunfähigkeit weiter seiner Tochter helfe.



Der Kläger wendet ein, er habe die Motorschubkarre zweimal höchstens zur Hälfte geladen. Die Tätigkeit habe dem Heilungsverlauf nicht geschadet. Die auf der Schulteroperation beruhende Krankheitsursache sei seit 25.10.2021 erledigt. Seit 26.10.2021 sei er wegen einer völlig anderen Ursache arbeitsunfähig erkrankt. Beim Beschäftigten O..., der laut Bericht am 28.09. und am 29.09.2021 vor Ort gewesen sei, handele es sich um den Personalleiter, so dass dessen Kenntnisse der Beklagten zurechenbar seien. Der Vortrag hinsichtlich der persönlichen Information des Betriebsrats sei unsubstantiiert und einer Beweisaufnahme nicht zugänglich; diese werde weiter bestritten. Der Betriebsrat sei über die Abmahnung nicht informiert gewesen; diese sei im Übrigen nicht einschlägig.



Das Arbeitsgericht Bamberg - Kammer Coburg - hat mit Endurteil vom 10.05.2022 wie folgt entschieden:



1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 27.10.2021 nicht aufgelöst ist.



2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtkräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Betontechniker weiterzubeschäftigen.



3. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.



4. Der Streitwert wird auf 14.480,00 Euro festgesetzt.



5. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.



Das Arbeitsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis weder außerordentlich noch ordentlich nach Ablauf der Kündigungsfrist aufgelöst. Ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB liege nicht vor. Es könne offenbleiben, ob dies bereits deswegen gelte, weil die Behauptungen der Beklagten, der Kläger habe sich genesungswidrig verhalten, derjenigen, er habe die Arbeitsunfähigkeit vorgetäuscht, widerspreche. Es könne unterstellt werden, dass die Beklagte ihre Kündigung in erster Linie auf genesungswidriges Verhalten stütze. Es könne dahinstehen, ob der Sachvortrag der Beklagten über das Verhalten des Klägers überhaupt verwertbar sei, weil er aufgrund rechtswidrigen Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Klägers gewonnen sein könnte. Jedenfalls wäre vor Ausspruch der Kündigung eine Abmahnung erforderlich gewesen. Zwar müsse sich ein arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer so verhalten, dass er bald wieder genese. Er habe alles zu unterlassen, was seine Genesung verzögern könnte und insoweit auf die schützenswerten Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Eine schwerwiegende Verletzung dieser Rücksichtnahmepflicht könne auch eine außerordentliche Kündigung an sich rechtfertigen. Eine solche Pflichtverletzung könne auch in der Durchführung von Freizeitaktivitäten liegen, die mit der Arbeitsunfähigkeit nur schwer in Einklang zu bringen seien. Vorliegend könne zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass der Kläger seine Rücksichtnahmepflichten verletzt habe. Selbst wenn man aber von einem "an sich" wichtigen Grund ausgehe, könne nicht festgestellt werden, dass der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar sei. Eine außerordentliche Kündigung komme nur als letztes Mittel in Betracht. Vorliegend wäre nicht ausgeschlossen gewesen, dass sich der Kläger durch eine Abmahnung von einer erneuten Pflichtverletzung hätte abhalten lassen. Die Abmahnung vom 30.11.2020 betreffe keine gleichartigen Pflichten. Der dortige Vorwurf beziehe sich auf Tätigwerden im Betrieb während der Krankschreibung, nicht auf genesungswidriges Verhalten. Der Kläger habe, selbst wenn man den Sachvortrag der Beklagten unterstelle, privat und ohne Druck gearbeitet. Er hätte die Tätigkeit jederzeit abbrechen können. Ein Zielerreichungsdruck sei nicht vorhanden gewesen. Ein finanzieller Schaden sei der Beklagten im Hinblick auf das Fehlen von Entgeltfortzahlung nicht entstanden. Es sei auch nicht von vornherein erkennbar, dass die Beklagte ein solches Verhalten in keinem Fall hinnehmen würde. Die im Prozess geäußerte Auffassung des Klägers, sein Verhalten sei nicht zu beanstanden gewesen, sei bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung nicht zu berücksichtigen. Auf das Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit könne sich die Beklagte nicht berufen, weil es insoweit an der Anhörung des Betriebsrats fehle. Die ordentliche Kündigung erweise sich aus denselben Gründen als unwirksam, weil es an einer erforderlichen Abmahnung fehle. Aufgrund der festgestellten Unwirksamkeit der Kündigung habe die Beklagte den Kläger bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Kündigungsprozess weiterzubeschäftigen.



Das Endurteil des Arbeitsgerichts Bamberg - Kammer Coburg - vom 10.05.2022 ist den anwaltlichen Prozessvertretern der Beklagten ausweislich des elektronischen Empfangsbekenntnisses am 13.06.2022 zugestellt worden. Diese haben namens und in Vollmacht der Beklagten mit Schriftsatz vom 06.07.2022, beim Landesarbeitsgericht eingegangen am selben Tag, Berufung gegen die Entscheidung eingelegt. Sie haben die Berufung mit am 12.08.2022 eingegangenem Schriftsatz selben Datums begründet.



Zur Begründung ihrer Berufung hat die Beklagte geltend gemacht, das Arbeitsgericht sei unzutreffend davon ausgegangen, dass eine nochmalige Abmahnung erforderlich gewesen wäre. Der Kläger sei am 30.11.2020 abgemahnt gewesen. Diese beziehe sich darauf, dass er während der Arbeitsunfähigkeit nicht arbeiten dürfe, und zwar überhaupt nicht, also weder im Betrieb noch im privaten Bereich. Unabhängig von der Notwendigkeit einer Abmahnung habe der Kläger durch die Pflichtverletzung das in ihn gesetzte Vertrauen zerstört. Vorliegend komme hinzu, dass die ausgeübten Tätigkeiten denjenigen gleich seien, die der Kläger auch während seiner geschuldeten Tätigkeit hätte verrichten müssen. Eine Umdeutung der Kündigung in eine ordentliche sei nicht veranlasst gewesen; insoweit fehle es an der Zustimmung des Inklusionsamtes wie an der Anhörung des Betriebsrats.



Die Beklagte hat dem Kläger nach Aufforderung durch dessen Prozessbevollmächtigte ab 26.09.2022 die Weiterbeschäftigung angeboten. Sie hat ihm allerdings nunmehr eine Tätigkeit im Werk C..., nicht mehr in U... zugewiesen. Dort wurde er zunächst in einem Baucontainer ohne Tageslicht untergebracht, mitten in der Produktionshalle mit erheblicher Lärmbelästigung. Er hat nur noch im Werk, nicht mehr auf Baustellen arbeiten müssen. Die Beklagte hat ihm den Zugriff auf das Firmennetzwerk verweigert. Der Kläger hat geltend gemacht, die Beklagte habe ihm über längere Zeit keinerlei Tätigkeiten zugewiesen.



Die Beklagte und Berufungsklägerin stellt im Berufungsverfahren folgende Anträge:



1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Bamberg, Kammer Coburg, 4 Ca 612/21, zugestellt am 13.06.2022 wird abgeändert und die Klage abgewiesen.



2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen.



Der Kläger und Berufungsbeklagte beantragt,



die Berufung zurückzuweisen.



Außerdem beantragt er für den Fall der Abweisung der Berufung:



Das zum 02.04.1990 begründete Arbeitsverhältnis der Parteien wird aufgelöst zum 31.05.2022 und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine angemessene Abfindung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber € 60.000,-- betragen sollte.



Die Beklagte und Berufungsklägerin stellt den Antrag,



den Auflösungsantrag des Klägers abzuweisen.



Der Kläger schließt sich den Ausführungen des Arbeitsgerichts an. Er bleibe dabei, dass er keine Pflasterarbeiten verrichtet habe. Er sei sich stets bewusst gewesen, dass er alles zu unternehmen habe, um die Arbeitsfähigkeit zurückzuerlangen. Von einem schuldhaften Verhalten könne keine Rede sein. Wenn doch, sei dem Arbeitsgericht darin zuzustimmen, dass eine einschlägige Abmahnung fehle. Zu berücksichtigen sei zudem, dass die Beklagte ihren gesamten Tatsachenvortrag unter Verletzung seines Persönlichkeitsrechts erlangt habe. Diese habe ihn anlasslos auf seinem Privatgrundstück überwacht, ohne dass ihr konkrete Verdachtsmomente für ein Fehlverhalten vorgelegen hätten. Er bleibe dabei, dass die Betriebsratsanhörung schon unzureichend vorgetragen sei.



Mit Schriftsatz vom 03.11.2022 hat der Kläger die Auflösung des Arbeitsverhältnisses begehrt. Er hat geltend gemacht, die Weiterbeschäftigung sei ihm nicht mehr zumutbar. Die Auflösung sei zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist, mithin zum 31.05.2022, vorzunehmen. Die Auflösung rechtfertige sich schon deswegen, weil die Beklagte ihn unter Verletzung seines Persönlichkeitsrechts durch einen Detektiv habe überwachen lassen, weil sie ihn schon in der Vergangenheit mit einer unberechtigten Abmahnung überzogen habe, weil er als einziger Arbeitnehmer im Werk C... von 08.00 Uhr bis 17.18 Uhr arbeiten müsse, als einziger Betonprüfer ausschließlich im Werk prüfen müsse, als einziger Zutrittsbeschränkungen im Werk C... erhalten, keine Firmenmailadresse und keinen Zugriff zum Firmennetzwerk bekommen habe. Zudem sei er zunächst in einem Container ohne Tageslicht mit einer Bürofläche von 2,25 m mal 1,75 m eingesetzt worden mit einem Bürostuhl, der nicht ergonomisch einstellbar sei. Er habe seine früheren Tätigkeiten wie Beratung der Bauleiter bezüglich der verschiedenen Betonsorten, Überwachung und Kontrolle des Betoneinbaus auf den Baustellen, Herstellen der Probekörper im Labor und Dokumentation der Ergebnisse, Anmeldung, Dokumentation und Kommunikation mit Fremdüberwachung durch die Landesgewerbeanstalt, Ausarbeitung von Sanierungskonzepten und Überwachung und Ausführung der Sanierungen im konstruktiven Ingenieurbau nicht mehr durchführen dürfen. Die Beklagte habe ihm beantragten Urlaub nur für neun Tage genehmigt mit der Begründung, es sei Hochsaison, obwohl nur auf Lager produziert worden sei. Mehrfach habe er keine Aufgaben erhalten. Er führe nur etwa 8 Messungen am Tag mit einem Zeitaufwand von jeweils 15 bis 20 Minuten durch, dürfe die Betonmischanlage nicht betreten. Die neue Tankkarte weise ein geringeres Guthaben auf als zuvor. All dies zeige, dass ihm eine Weiterbeschäftigung bei der Beklagten unzumutbar sei. Es sei eine Abfindung von 18 Monatsgehältern, mithin 60.000,- €, angemessen.



Die Beklagte hat eingewandt, die Weiterbeschäftigung sei nicht unzumutbar. Der Kläger sei seit fast zwei Jahren nicht mehr im Betrieb gewesen; aus diesem Grund sei seine Stelle mit einem anderen Mitarbeiter besetzt worden. Dem Kläger sei nach kurzer Zeit ein angemessener Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt worden. Es treffe nicht zu, dass der Kläger ab 08.00 Uhr habe arbeiten müssen. Die ihm übertragenen Aufgaben könnten mit einem Laptop ohne Netzwerkzugang erledigt werden. Der Kläger habe im Übrigen noch einen Laptop in Besitz, der ihm vom früheren zweiten Geschäftsführer überlassen worden sei. Von diesem, dem Bruder des jetzigen Geschäftsführers, habe man sich getrennt. Der Kläger habe die Herausgabe des Laptops verweigert mit der Begründung, dies habe er vom anderen Geschäftsführer erhalten. Dieses Verhalten erwecke den Anschein, als würde der Kläger immer noch für diesen Geschäftsführer tätig werden. Aus diesem Grund sei sie berechtigt, ihm den Zugriff auf das Firmennetzwerk zu verweigern. Es sei falsch, dass dem Kläger keine Arbeit zugewiesen worden sei. Er habe die Aufgabe erhalten, ein Sanierungskonzept zu erstellen; dieser Aufgabe sei er bisher nicht nachgekommen. Dem Kläger sei zudem ein Teil der Aufgaben des Betonlaboranten zugewiesen worden. Urlaub habe sie zu Recht verweigert. Der Betriebsrat habe der Versetzung des Klägers ins Werk in C... zugestimmt. Dies sei zumutbar; die einfache Fahrtzeit zwischen den Werken betrage nur zehn Fahrminuten.



Die Kammer hat den Geschäftsführer in der Verhandlung vom 29.11.2022 über die dem Kläger zugewiesenen Tätigkeiten befragt. Der Geschäftsführer hat die Darstellung aus dem Beklagtenschriftsatz bestätigt und erklärt, ein anderweitiger Einsatz des Klägers komme nicht in Betracht. Der Kläger hat vor Augen des Gerichts den Laptop an den Beklagtengeschäftsführer übergeben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Darstellung des Sachverhalts in Tatbestand und Entscheidungsgründen im arbeitsgerichtlichen Urteil, auf die Niederschrift über die Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht vom 29.11.2022 sowie auf die von den Parteien eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.



Entscheidungsgründe



Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht beim Landesarbeitsgericht eingereichte und auch begründete Berufung der Beklagten ist in der Sache nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Berufungskammer folgt zunächst der ausführlichen und sehr sorgfältigen Begründung des Arbeitsgerichts, der sie sich anschließt, so dass insoweit auf eine erneute, nur wiederholende Darstellung verzichtet werden kann (§ 69 Abs. 2 ArbGG).



Das Arbeitsgericht hat, ohne dies im Tenor zum Ausdruck zu bringen, auch über die Kündigung befunden, soweit die Erklärung als ordentliche Kündigung Wirkungen entfalten könnte. Es kann dahinstehen, ob dies veranlasst war. Eine fehlende Umdeutungsmöglichkeit scheitert jedenfalls nicht an der fehlenden Anhörung des Betriebsrats hierzu. Unstreitig hat der Betriebsrat der Kündigung auch als außerordentlicher ausdrücklich zugestimmt. Die Bescheide des Inklusionsamts sind nicht vorgelegt. Aus diesem Grund kam eine solche Umdeutung im Hinblick auf den klägerischen Vortrag in Betracht. Nunmehr hat die Beklagte im Berufungsverfahren klargestellt, dass eine Umdeutung nicht veranlasst sei. Eine Entscheidung hierüber ist durch die Berufungskammer nicht erfolgt.



1. Insbesondere zu den in der Berufungsinstanz vorgetragenen Tatsachen und Argumenten ist, was die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch die außerordentliche Kündigung betrifft, Folgendes hinzuzufügen:



a. Auch die Berufungskammer hat keinen Zweifel an der Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB. Diese Frist begann nicht schon nach Übergabe des ersten Berichts am 28.09.2021, selbst wenn der Bericht gegenüber dem Beschäftigten O... abgegeben wurden und wenn dieser als Personalleiter anzusehen ist, dessen Kenntnisse der Beklagten zuzurechnen sind. Die Beklagte durfte die Beobachtung noch einen weiteren Tag fortsetzen und die Ermittlungen durch weitere Beobachtungen absichern. Geht man aber vom 29.09.2021 als dem maßgeblichen Tag der Kenntniserlangung aus, ist die am 13.10. erfolgte Beteiligung des Inklusionsamtes rechtzeitig zur Wahrung der Frist erfolgt.



b. Die von der Beklagten am 28.09. und 29.09.2021 erhobenen Daten und Beobachtungen sind im vorliegenden Kündigungsschutzverfahren nicht verwertbar.



aa. Derartige personenbezogene Daten eines Beschäftigten dürfen für Zwecke des Beschäftigungsverhältnisses nur erhoben, verarbeitet und genutzt werden, wenn dies für dessen Durchführung oder Beendigung erforderlich ist. Zur Durchführung gehört die Kontrolle, ob der Arbeitnehmer seinen Pflichten nachkommt, zur Beendigung im Sinne der Kündigungsvorbereitung die Aufdeckung einer Pflichtverletzung, die die Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann. Die Datenerhebung, -verarbeitung oder -nutzung darf keine übermäßige Belastung für den Arbeitnehmer darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen. So dürfen Arbeitnehmer grundsätzlich erwarten, dass besonders eingriffsintensive Maßnahmen nicht ohne einen durch Tatsachen begründeten Verdacht einer Straftat oder schweren Pflichtverletzung ergriffen werden, dass insbesondere nicht "ins Blaue hinein" oder wegen des Verdachts bloß geringfügiger Verstöße eine heimliche Überwachung und ggf. "Verdinglichung" von ihnen gezeigter Verhaltensweisen erfolgt (BAG 31.01.2019, 2 AZR 426/18, zitiert nach juris mit dem Verweis für die verdeckte Videoüberwachung auf BAG 22. September 2016 - 2 AZR 848/15 - Rn. 28; für die verdeckte Observation durch einen Detektiv auf BAG 29. Juni 2017 - 2 AZR 597/16 - Rn. 26 ff.; für ein verdecktes Keylogging vgl. BAG 27. Juli 2017 - 2 AZR 681/16 - Rn. 30).



bb. Vorliegend stellt die Überwachung des Klägers auf seinem Privatgrundstück eine unverhältnismäßige Erhebung solcher Daten dar. Die Beklagte hat für eine solche Überwachung keinen hinreichenden Anlass vorgetragen. Der Umstand, dass der Kläger früher auf der Baustelle seiner Tochter gearbeitet hat, stellt schon deswegen keinen solchen Umstand dar, weil der Kläger damals mit dem Firmenfahrzeug unterwegs und offensichtlich nicht arbeitsunfähig war. Die Beklagte begründet den Entzug des Fahrzeugs ja mit dem Umstand, dass ihr die notierten Arbeitszeiten verdächtig vorgekommen seien. Damals war die Mitarbeit auf der Baustelle der Tochter zulässig. Auch die Beklagte hat nicht erklärt, warum eine während der Arbeitsfähigkeit erlaubte Mitarbeit auf der Baustelle der Tochter einen Verdachtsumstand dafür darstellen soll, dass der Kläger während der nunmehr bestehenden Arbeitsunfähigkeit unerlaubt auf dieser oder anderen Baustellen oder dem eigenen Grundstück tätig würde. Die Kammer kann Verdachtsumstände, die eine derartige Überwachung des Klägers rechtfertigen würde, in keiner Weise erkennen.



cc. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, die hinsichtlich der Verwertungsmöglichkeiten des unzulässig erlangten Sachvortrags anzustellen ist, ist vorliegend zu berücksichtigen, dass die Beklagte den Kläger durch ein Loch in der Hecke, wie sie selbst vorträgt, hat beobachten und filmen lassen. Sie hat damit einen erheblichen Eingriff in die geschützte Privatsphäre des Klägers vorgenommen. Ein solcher Eingriff könnte allenfalls gerechtfertigt sein, wenn konkrete Verdachtsmomente für eine schwere Pflichtverletzung vorgelegen hätten. Dies war jedoch nicht der Fall. Das Verwertungsverbot erstreckt sich dabei sowohl auf die als Beweismittel angebotene Videoaufzeichnung als auch auf den schriftlichen Bericht der Detektei wie auf das Angebot der Vernehmung der Detektive als Zeugen.



c. Unabhängig hiervon steht jedoch eine erhebliche Pflichtverletzung des Klägers - wenngleich in geringerem Umfang - aufgrund seiner eigenen Einlassungen fest. Es versteht sich von selbst, dass man mit einer Schulterverletzung einen Bodenstampfer nicht bedienen soll. Auch der Kläger hat bestätigt, dass dieser Rüttler erhebliche Schwingungen verursacht. Die Kammer kann sich kaum eine ungeeignetere Tätigkeit vorstellen, wenn - wie der Kläger selbst bestätigt hat - eine Arbeitsunfähigkeit wegen einer operierten Schulter besteht.



d. Die Kammer folgt dem Arbeitsgericht jedoch darin, dass diese - an sich für eine außerordentliche Kündigung geeignete schwere Verletzung der Rücksichtnahmepflicht - nach Art und Ausmaß unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der Interessen der Vertragsparteien die Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht unzumutbar gemacht hat. Zu beachten ist, dass entsprechend der Einlassung des Klägers nur von einer relativ kurzen Betätigung des Bodenstampfers auszugehen ist. Zu beachten ist weiter, dass die übrigen Tätigkeiten weniger schwer wiegen. So kann ein kurzzeitiges Schaufeln, bei dem jeweils nur geringes Gewicht bewegt wird, eine geringere Belastung der Schulter darstellen. Tätigkeiten in gebeugter Haltung oder auf Knien können dergestalt sein, dass sie die Schulter überhaupt nicht belasten. Dasselbe gilt für die vom Kläger eingeräumten Zuarbeiten. Zu bewerten ist des Weiteren, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten im Kündigungszeitpunkt mehr als 30 Jahre bestanden hat und dass der Kläger mit im Kündigungszeitpunkt 56 Jahren ein Lebensalter erreicht hat, in dem die Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr so günstig sein dürften. Zu beachten ist des Weiteren, dass er einem behinderten Menschen gleichgestellt ist. Schließlich hat die Beklagte über den Vertrauensverlust hinaus das Vorliegen weiterer Nachteile nicht behauptet. Zu beachten ist, dass der Kläger aus dem Entgeltfortzahlungszeitraum bereits seit längerem herausgefallen war.



e. Die Berufungskammer folgt dem Arbeitsgericht auch darin, dass es nicht ausgeschlossen war, weitere Vertragsverletzungen durch Ausspruch einer Abmahnung zu verhindern. Entgegen der Auffassung der Beklagten war die Abmahnung vom 30.11.2020 nicht einschlägig. In dieser Abmahnung wird dem Kläger ausdrücklich untersagt, "während der Arbeitsunfähigkeit zur Arbeiten bzw. auf der Arbeit zu erscheinen". Grundlage sei die "Fürsorglichkeit" der Beklagten. Die Abmahnung bezieht sich erkennbar auf Tätigkeiten für den Arbeitgeber. Der Kläger musste sie nicht nach seinem Empfängerhorizont auf jegliche körperliche Tätigkeit während der Arbeitsunfähigkeit auch außerhalb der Arbeit oder "des Arbeitens" beziehen.



f. Die Tätigkeit, so wie sie für die Entscheidung zugrunde zu legen ist, ist nicht für sich geeignet, das Vertrauen in die Redlichkeit des Klägers in einer Weise zu verlieren, dass die Zusammenarbeit schlechthin nicht mehr zumutbar ist. Bei der von der Beklagten für ihre Meinung herangezogenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 02.03.2006 (2 AZR 53/05, zitiert nach juris) ging es um einen beim Medizinischen Dienst beschäftigten Arzt. Das Bundesarbeitsgericht stellt dabei ausdrücklich darauf ab, dass die Verletzung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht dort umso schwerer wog, als der Kläger aufgrund seines beruflichen Aufgabenfeldes dazu verpflichtet war, das Vertrauen Außenstehender in die von ihm geleistete Arbeit und die korrekte Aufgabenerledigung seines Arbeitgebers nicht zu erschüttern. Durch sein Verhalten habe er zu erkennen gegeben, dass er die Maßstäbe bei der Begutachtung von Arbeitnehmern, an deren Arbeitsunfähigkeit Zweifel bestehen, offensichtlich für sich selbst nicht zur Anwendung bringen wolle. Hierdurch würden Interessen und Ansehen seines Arbeitgebers wesentlich beeinträchtigt (a.a.O., Rn. 27). Vergleichbares ist vorliegend in keiner Weise gegeben. Im Urteil vom 26.08.1993 (2 AZR 154/93, zitiert nach juris) war erschwerend zu berücksichtigen, dass der Arbeitnehmer einer Nebentätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber nachgegangen war. In der Entscheidung vom 13.11.1979 (6 AZR 934/77, zitiert nach juris) ging es ebenfalls um Nebentätigkeiten, die zudem den Wettbewerbsinteressen des Arbeitgebers zuwiderliefen - im Übrigen hatte die Revision des Klägers Erfolg, so dass die Kündigung unwirksam war. Einen Rechtssatz dahingehend, dass ein solches Verhalten wegen Wegfalls des Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers stets zur Kündigung berechtigen würde, gibt es nicht.



2. Das Arbeitsverhältnis ist jedoch auf Antrag des Klägers aufzulösen.



a. Der Auflösungsantrag ist zulässig. Er konnte erstmals in zweiter Instanz gestellt werden. Die Voraussetzungen des § 533 ZPO müssen nicht erfüllt sein. Er ist nach § 9 Abs. 1 S. 3 KSchG bis zur letzten Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht möglich (zuletzt BAG v. 27.09.2022, 2 AZR 5/22, zitiert nach juris).



b. Dabei ist unerheblich, ob die Kündigung auch wegen Fehlens ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats unwirksam ist. Das Arbeitsgericht hat dies zurecht offengelassen, weil diesbezüglich eine Beweisaufnahme erforderlich gewesen wäre. Das Arbeitsgericht hat die Kündigung mit ausführlicher Begründung für unwirksam erklärt, weil die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB nicht gegeben seien. Die Berufungskammer ist dem gefolgt. Für die Zulässigkeit des Auflösungsantrags des Arbeitnehmers genügt es, wenn die Kündigung jedenfalls auch wegen Fehlens des wichtigen Grundes oder der Unzumutbarkeit im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB für unwirksam erklärt worden ist (so z.B. Spilger in KR, Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsrecht, 13. Aufl. 2022, § 9 Rn. 32 m.w.N.; Treber/Rennpferdt, KR, a.a.O., § 13 Rn. 154 ff.). Da über die Umdeutung letztlich nicht entschieden war, konnte der Antrag auch mit Wirkung zu demjenigen Zeitpunkt gestellt werden, in dem die ordentliche Kündigung Wirkungen entfaltet hätte.



c. Zu beachten ist allerdings, dass der Kläger im vorliegenden Verfahren Antrag auf Weiterbeschäftigung gestellt und durchgesetzt hat und dass er die Arbeit ab 26.09.2022 tatsächlich aufgenommen hat. Soweit er sich zur Begründung der Unzumutbarkeit für die Weiterbeschäftigung daher auf Sachverhalte beruft, die ihm in den damaligen Zeitpunkten bekannt waren, verhält er sich widersprüchlich. Er selbst ist nicht von Unzumutbarkeit wegen des Eingriffs in seine Privatsphäre und wegen des unberechtigten "Überziehens" mit einer Abmahnung ausgegangen. Die Kammer hat diese Vorfälle bei der Bewertung der Unzumutbarkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG daher nicht zu berücksichtigen.



d. Unzumutbarkeit ergibt sich jedoch aus der Art und Weise der Beschäftigung ab 26.09.2022 und aus der Haltung, die die Beklagte gegenüber dem Kläger an den Tag legt. Unstreitig hat sie ihm die bisherigen Aufgaben nicht mehr zugewiesen, hat ihn vielmehr in eine andere Niederlassung versetzt. Die Begründung hierfür überzeugt in keiner Weise. Sie hätte auch den im Lauf der Arbeitsunfähigkeit oder des Kündigungsschutzprozesses mit den ursprünglichen Aufgaben des Klägers betrauten Mitarbeiter in die Niederlassung nach C... versetzen können. Die Kammer hat in der Befragung und Diskussion mit dem Geschäftsführer S... in der mündlichen Verhandlung vom 29.11.2022 den nachhaltigen Eindruck gewonnen, dass dieser die angedeutete Entscheidung der Arbeitsgerichte über die Kündigung nicht nachvollziehen kann und dass er dies den Kläger weiterhin spüren lassen wird. Dem entspricht, dass er von einem Vertrauensverlust gegenüber dem Kläger allein deswegen ausgeht, weil dieser den Firmenlaptop nicht sofort zurückgegeben hat. Hieraus den Verdacht abzuleiten, der Kläger würde mit dem Bruder des Geschäftsführers zum Nachteil der Beklagten weiter zusammenarbeiten, erscheint der Kammer als abwegig. Der Kläger kann bei einer derart feindlichen Haltung des Geschäftsführers nach der Überzeugung der Kammer nicht damit rechnen, dass in Zukunft eine störungsfreie Weiterarbeit, ein unbelastetes Miteinander möglich ist. Dies rechtfertigt die Auflösung auf seinen Antrag hin.



3. Als Abfindungshöhe hält die Kammer einen Betrag in Höhe von 35.000,- € für angemessen. Zu berücksichtigen sind das Lebensalter wie auch die langjährige Betriebszugehörigkeit des Klägers, dazu seine Gleichstellung. Zu beachten ist allerdings auch, dass der Kläger selbst in nicht unerheblicher Weise gegen seine vertraglichen Pflichten verstoßen hat, und zwar selbst dann, wenn man von seinem eigenen Sachvortrag ausgeht. Diese Mitverantwortung für die Störung des Arbeitsverhältnisses erscheint der Kammer doch erheblich - dies rechtfertigt eine deutliche Absenkung des möglichen Höchstmaßes der Abfindung im Hinblick auf die lange Betriebszugehörigkeit und das Lebensalter des Klägers. Andererseits erscheint es bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage keineswegs als ausgeschlossen, dass der Kläger seine Arbeitsleistung weiterhin erfolgreich vermarkten kann. Bei Zugrundelegen eines Bruttomonatsgehalts von 3.620,- € erscheint daher eine deutliche Reduzierung eines Betrags von einem halben Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr angebracht und ein Betrag von 35.000,- € angemessen.



4. Nach alldem ist die Berufung der Beklagten unbegründet, der Auflösungsantrag des Klägers begründet; allerdings ist er insoweit abzuweisen, als der Kläger einen höheren Betrag als 35.000,- € als Abfindung verlangt hat.



5. Hinsichtlich der Kosten der ersten Instanz hat es sein Bewenden - insoweit ist das Rechtsmittel der Beklagten erfolglos (§ 97 Abs. 1 ZPO). Bei den Kosten des Berufungsverfahrens ergibt sich die Quote anteiligen Obsiegens bzw. Unterliegens. Insoweit hat die Kammer den Auflösungsantrag zu einem Drittel bewertet und berücksichtigt, dass er nur teilweise erfolgreich war.



6. Für die Zulassung der Revision besteht kein gesetzlich begründeter Anlass.

Vorschriften§§ 9, 10 KSchG, § 3 Nr. 9 EStG, § 626 Abs. 2 BGB, § 626 Abs. 1 BGB, § 69 Abs. 2 ArbGG, § 533 ZPO, § 9 Abs. 1 S. 3 KSchG, § 9 Abs. 1 S. 1 KSchG, § 97 Abs. 1 ZPO