Urteil vom 22.03.2023 · IWW-Abrufnummer 235210
Landesarbeitsgericht Thüringen - Aktenzeichen 4 Sa 272/21
1. Eine Kündigung kann grundsätzlich auf den Verdacht eines Fehlverhaltens gestützt werden (sog. Verdachtskündigung).
2. Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung ist die vorherige ordnungsgemäße Anhörung des*der Arbeitsnehmers*in, in welcher dem*der zu Kündigenden die Verdachtsmomente offen zu legen sind, damit er*sie diese ggf. entkräften kann.
3. Verschweigt ein*e Arbeitsgeber*in in der Anhörung ein wesentliches Verdachtsmoment ist diese nicht ordnungsgemäß und die Kündigung unwirksam.
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 30.9.2021 - 1 Ca 274/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer zum einen auf betriebsbedingte Gründe zum anderen auf den Verdacht von Drogenkonsum gestützten Kündigung.
Der Kläger war bei der Beklagten seit dem 17.07.2018 als Verpackungshelfer beschäftigt; zuletzt mit einer Arbeitszeit von 40 Stunden/Woche und einer monatlichen Vergütung von 2.200,00 € brutto.
Die Beklagte beschäftigte mehr als zehn Arbeitnehmer i. S. d. Kündigungsschutzgesetzes.
Unter dem 19.01.2021 traf sie die Entscheidung, eine Hilfsstelle als Verpacker/Produktionshelfer abzubauen. Die Aufgaben sollten auf andere Arbeitnehmer übertragen werden, welche aufgrund der Einschätzung der Beklagten seinerzeit auch weniger zu tun hatten und damit etwas Zeit zur Verfügung gehabt hätten.
Die Arbeit Verpacken von ca. 2 Stunden im Tag sollte die Produktion übernehmen. Das Kommissionieren von ca. einer Stunde am Tag der technische Betriebsleiter. Die Beistellung/Warenannahme ca. 2 Stunden am Tag der technische Betriebsleiter/bzw. Vormontage. Das Aufräumen und die allgemeine Ordnung ca. eine Stunde am Tag sollte an jedem Arbeitsplatz eigenverantwortlich vorgenommen werden. Die Zuarbeit Lagerbestellung ca. eine Stunde am Tag sollte ebenfalls der technische Betriebsleiter/Vormontage übernehmen. Wegen der Einzelheiten des Vortrages diesbezüglich wird auf die als Anlage B1 zu den Akten gereichte Bewertung vom 19.01.2021 (Bl. 47 d. A.) Bezug genommen.
Die Beklagte hegte den Verdacht, der Kläger könne Drogen konsumiert haben. Mit Schreiben vom 25.01.2021 forderte sie ihn wegen Verdachts auf Drogenkonsum unter Darstellung ihrer Verdachtsmomente auf, einem Drogentest zuzustimmen und diesen durchführen zu lassen und zu dem Verdacht Stellung zu nehmen. Den Umstand, dass sie gehört habe, der Kläger habe seine Fahrerlaubnis aufgrund Drogenkonsums verloren, erwähnte sie dabei nicht. Wegen der weiteren Einzelheiten dieses Schreibens wird auf die zu den Akten gereichte Kopie hiervon (Bl. 50 und 51 d. A.) Bezug genommen.
Der Kläger verweigerte den Drogentest. Mit Schreiben vom 22.01.2021 kündigte die Beklagte dem Kläger das Arbeitsverhältnis zum 28.02.2021 unter Berufung auf die betriebsbedingten Gründe. Mit Schreiben vom 10.02.2021 kündigte die Beklagte den Kläger zum 31.03.2021 unter Berufung auf den Verdacht des Drogenkonsums.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner am 12.02.2021 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten aufgrund der Verfügung vom 17.02.2021 ausweislich des Bekenntnisses der Prozessbevollmächtigten der Beklagten jedenfalls vor dem 24.02.2021 (Bl. 26 der Akte) zugestellten Klage.
Wegen des Weiteren unstreitigen und streitigen Vortrags im ersten Rechtszug wird, der dort vertretenen Ansichten und gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (S. 2 bis 5 des Entscheidungsabdrucks - Bl. 91 - 94 der Akte) Bezug genommen.
Mit Urteil vom 30.09.2021 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass beide Kündigungen nicht sozial gerechtfertigt sind und das Arbeitsverhältnis nicht beendet haben.
Die Beklagte habe nicht dargelegt, in welcher Weise konkret die Arbeit des Klägers auf die übrigen Mitarbeiter verteilt werden solle ohne überobligatorische Leistungen dieser Mitarbeiter zu verlangen. Insofern hätte im Einzelnen vorgetragen werden müssen, welche Tätigkeiten des Klägers auf welche Mitarbeiter übertragen werden sollten und inwiefern diese Mitarbeiter zur zusätzlichen Übernahme dieser Aufgaben in der Lage gewesen seien.
Die vorgebrachten Verdachtsmomente seien keine hinreichend sichere Tatsachengrundlage für einen dringenden Tatverdacht.
Gegen dieses ihm am 03.12.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit am 08.12.2021 beim Thüringer Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Nachdem das Gericht aufgrund des am 03.02. eingegangenen Antrag hin mit Beschluss vom 04.02.2022 die Berufungsbegründungsfrist bis zum 03.03.2022 verlängert hatte, ist diese an dem Tag eingegangen.
Die Beklagte trägt zu ihrer wirtschaftlichen Entwicklung vor. Wegen der näheren Einzelheiten dieses Vortrages wird auf S. 2 der Berufungsbegründung (Bl. 125 der Akte) und die dazu überreichen Kopien von Jahresabschlüssen (Bl. 131 bis 190 der Akte) Bezug genommen. Deshalb sei eine Stelle zu streichen gewesen. Die Stelle des Verpackungshelfers, als nur solcher sei der Kläger beschäftigt gewesen, sei wirtschaftlich nicht sinnvoll. An dieser Stelle werde kein Gewinn generiert. Sie stelle nur einen Kostenfaktor dar. Sinnvoll sei es nur, diese Stelle aufrecht zu erhalten, wenn alle anderen Kräfte voll ausgelastet seien und die Notwendigkeit bestehe, eine eigene Kraft für die Verpackung vorzuhalten. Andere Aufgaben habe der Kläger entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichtes nicht wahrgenommen und die Versuche ihn anderweit einzusetzen seien gescheitert. Die Aufgaben, welche der Kläger im Unternehmen wahrgenommen habe, seien wie folgt neu verteilt worden:
C.......... K.............
P........... S.............
L........... W............
E........... K.............
M.......... G.............
R........... S............
Diese Mitarbeiter hätten die Verpackungstätigkeit und auch die Aufgaben im Lager übernommen. Der Kläger habe im Lager notwendige Lagerware zur Herstellung für die Produktionskräfte geholt und ausgegeben sowie etwaige Lieferungen ins Lager verräumt. Diese Tätigkeiten hätten insbesondere durch die Zeugen L......... W........... und E.......... K.......... übernommen werden können. Dabei handele es sich um Auszubildende, welche aufgrund des geringen Ausbildungsgehalts im Unternehmen hätten frei eingesetzt werden und diese Helfertätigkeiten wirtschaftlicher hätten ausführen können. Die Entlassung des Klägers habe bei der Beklagten und deren verbliebenen Mitarbeitern zu keiner überobligatorischen Mehrarbeit, sprich Überstunden, geführt.
Zwar könne sie, die Beklagte nicht mehr im Einzelnen vortragen, wann der Kläger welches Teil wie verloren oder verlegt habe, da hierüber keine Protokolle geführt worden seien. Hieraus ließen sich sehr wohl Schlüsse auf Drogenkonsum ziehen. Hierfür spreche auch fluchtartiges Verlassen des Betriebes und das Vorschieben einer Erkrankung, um sich einem Drogentest zu entziehen. Sie, die Beklagte, habe alles getan, um den Verdacht des Drogenkonsums aufzuklären. Der Kläger habe sich allerdings zweimal einem Drogentest entzogen. Dies begründe hinreichend dringenden Verdacht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 30.09.2021, 1 Ca 274/21, wird abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens. Die Beklagte habe trotz der Auflagen im ersten Rechtszug nicht hinreichend substantiiert die betriebliche Notwendigkeit der Kündigung dargelegt. Es habe andere Möglichkeiten gegeben, der wirtschaftlichen Situation zu begegnen. Im zweiten Rechtszug habe sich bezüglich des behaupteten Verdachts auf Drogenkonsum kein neuer Erkenntnisstand gegeben.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist unbegründet.
Zur Begründung nimmt die Kammer Bezug auf die ausführlichen, zutreffenden und überzeugenden Gründe der angefochtenen Entscheidung, folgt diesen und macht sich diese zu eigen (§ 69 Abs. 2 ArbGG).
Das Vorbringen in der Berufung veranlasst folgende zusätzliche Anmerkungen:
Die Beklagte beruft sich hinsichtlich der betriebsbedingten Kündigung darauf, dass Sie aus wirtschaftlichen Gründen die Arbeitsstelle des Klägers aufgelöst habe, indem sie seine Tätigkeiten auf andere Mitarbeiter*innen übertragen hätte. Der Sachvortrag hierzu ist in der Berufungsinstanz nicht ansatzweise gegenüber dem ersten Rechtszug ergänzt oder vertieft worden. Schon im ersten Rechtszug hat das Arbeitsgericht in den Entscheidungsgründen der angefochtenen Entscheidung darauf hingewiesen, dass hierzu im Einzelnen vorzugtragen gewesen wäre, welche Tätigkeiten genau des Klägers welche Arbeitnehmer*innen genau übernommen hättenund warum es diesen möglich gewesen sein soll, dies ohne überobligatorische Leistungen bewerkstelligen zu können. Hierzu gehört die Beschreibung aller Tätigkeiten des Klägers im Einzelnen mit den hierzu kalkulierten Zeitanteilen. Diesbezüglich ist die im ersten Rechtszug überreichte Anlage, die Stellenbewertung vom 19.01.2021 (Bl. 47 der Akte), sogar noch genauer als der Vortrag in der Berufungsbegründung. Aber auch dieser reicht nicht aus, weil hier nur schlagwortartig, ohne dass eine genaue Vorstellung zu bilden ist, die Tätigkeiten des Klägers umschrieben wurden und nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt. Ferner hätte dann dazu gehört, welche*r Arbeitnehmer*in genau welche Tätigkeit des Klägers nun übernimmt. Auch diesbezüglich ist weder der aus dem Schreiben vom 19.01.2021 sich ergebende Vortrag noch der Vortrag in der Berufungsbegründung in irgendeiner Form ergiebig. Um darzustellen, dass diese Arbeitnehmer*innen die zusätzlichen Tätigkeiten ohne Mehrbelastung hätten bewerkstelligen können hätte zunächst auch einmal beschrieben werden müssen, welche Tätigkeiten diese Arbeitnehmer*innen denn im Einzelnen überhaupt ausgeführt haben und welchen Arbeitszeitumfang dies benötigt hätte. Dann hätte dargestellt werden können, wie sich die behauptete wirtschaftliche Situation auf diesen Arbeitsumfang ausgewirkt hätte, sodass hätte überprüft und nachvollzogen können, wie viele freie Kapazitäten zur Erledigung anderweitiger Aufgaben entstanden sind.
Abgesehen davon, dass die Darlegungen der Berufungsbegründung zu den verdachtsbegründenden Tatsachen auch nicht über den erstinstanzlichen Vortrag hinausgehen und die Wertung der Beklagten durch die Kammer ebenso wenig nachvollzogen werden kann, wie durch das Arbeitsgericht, scheitert hier die Verdachtskündigung auch schon an einer nicht ordnungsgemäßen Anhörung des Klägers zum Verdacht. Auf die Notwendigkeit einer solchen Anhörung für die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung hat das Gericht schon mit Verfügung vom 04.01.2023 (Bl. 207 der Akte) hingewiesen. Zwar war in der mündlichen Verhandlung zu korrigieren, dass es tatsächlich eine solche Anhörung gegeben hat.Das war die vom 25.01.2021 (Bl. 50 und 51 der Akte). Diese Anhörung genügt aber nicht den inhaltlichen Anforderungen. Die Anhörung muss dergestalt seien, dass dem Kläger sämtliche Verdachtsmomente auch offengelegt werden, damit er Gelegenheit hat, hierzu Stellung zu nehmen und den Verdacht zu entkräften. Das gehört zu ordnungsgemäßen dem*der Arbeitnehmer*in geschuldeten vorherigen vollständigen Aufklärungsversuchen, bevor man die Kündigung auf den Verdacht eines Fehlverhaltens stützt. Hier hat ausweislich des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte den Verdacht auch darauf gestützt, dass ihr aus dem Betriebsumfeld mitgeteilt worden sei, der Kläger habe seine Fahrerlaubnis aufgrund von Drogenkonsum verloren (S. 4 des Entscheidungsabdrucks - Bl. 93 der Akte 4. Druckabschnitt). Diesen Verdacht hat die Beklagte dem Kläger nicht mitgeteilt.
Im Übrigen hätte als verhältnismäßig mildere, der Verdachtskündigung vorhergehende Maßnahme schlicht die Möglichkeit bestanden, einen Drogentest gegenüber dem Kläger durchzusetzen oder gegebenenfalls auch einen Betriebsarzt einzuschalten.
Als unterlegene Partei trägt die Beklagte die Kosten ihrer erfolglosen Berufung.
Anhaltspunkte für die Zulassung der Revision bestanden nicht.