Urteil vom 15.03.2023 · IWW-Abrufnummer 235211
Landesarbeitsgericht Saarland - Aktenzeichen 1 Sa 65/22
Zur Berechnung von tariflichem Mehrurlaub wenn der Arbeitnehmer infolge Arbeitsunfalles oder Krankheit ununterbrochen mehr als ein Jahr keine Arbeitsleistung erbracht hat (§ 17 Nr. 5 Abs. 2 Satz 2 MTV Metall und Elektro für das Saarland vom 9.2.2018 in der Fassung vom 31.3.2021)
Tenor:
1. Unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels wird auf die Berufung des Klägers unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Saarland vom 2. August 2022 - 7 Ca 2214/21 - festgestellt, dass dem Kläger für das Urlaubsjahr 2021 ein tarifvertraglicher Mehrurlaubsanspruch in Höhe von 3 Arbeitstagen zusteht.
2. Der Kläger trägt die Kosten des ersten Rechtszugs. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Im vorliegenden Rechtsstreit streiten die Parteien über die Berechnung des tariflichen Mehrurlaubs für das Urlaubsjahr 2021 nach längerfristig andauernder Erkrankung des klagenden Arbeitnehmers.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1.2.1989 beschäftigt und war in der Zeit vom 17.3.2020 bis zum 16.5.2021 arbeitsunfähig erkrankt. Ihm wurde im Urlaubsjahr 2021 der gesetzliche Mindesturlaub von 20 Urlaubstagen gewährt.
Der geltende Manteltarifvertrag Metall und Elektro für das Saarland vom 9.2.2018, in der Fassung vom 31.3.2021, regelt in § 17 die Berechnung der Urlaubsdauer wie folgt (Bl. 36 f. d.A.):
"§ 17
Berechnung der Urlaubsdauer
1. Der Urlaub beträgt bei zwölfmonatiger ununterbrochener Beschäftigung im gleichen Betrieb für Beschäftigte 30 Arbeitstage.
2. Schwerbehinderte Menschen haben einen gesetzlichen Anspruch auf einen zusätzlichen Urlaub von 5 Arbeitstagen.
Anspruchsberechtigte nach dem saarländischen Gesetz Nr. 186 haben einen gesetzlichen Anspruch auf einen zusätzlichen Urlaub von drei bzw. vier Arbeitstagen.
3. Der Urlaubsanspruch entsteht monatlich und beträgt je Kalendermonat der Beschäftigung ein Zwölftel des Jahresurlaubs.
4. Erfolgt der Eintritt eines Beschäftigten in den Betrieb nach dem 15. oder der Austritt vor dem 16. eines Kalendermonats, so besteht für diesen Monat kein Anspruch auf Urlaub.
5. Ebenso besteht kein Urlaubsanspruch bei einer Arbeitsleistung an weniger als ¾ der nach der jeweiligen betrieblichen Arbeitszeiteinteilung (Schichtplan) anfallenden Arbeitstage im Kalendermonat.
Dabei werden die Urlaubszeit, die Arbeitsruhe für Frauen im Zusammenhang mit der Niederkunft (...) sowie die Zeiten, in denen die Arbeitsleistung infolge Arbeitsunfalls oder Krankheit nicht erbracht werden konnte, wenn sie auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkt bleibt, wie wirklich geleistete Arbeitszeiten angesehen.
6. Ergeben sich beim Urlaubsanspruch im Urlaubsjahr Bruchteile von Tagen, so werden Bruchteile von weniger als einem halben Tag nicht berücksichtigt; Bruchteile von einem halben Tag und mehr werden auf einen vollen Tag aufgerundet.
7. Arbeitstage sind alle Kalendertage, an denen der Beschäftigte in individueller regelmäßiger Arbeitszeit zu arbeiten hat. Auch wenn die individuelle regelmäßige Arbeitszeit auf mehr oder weniger als fünf Tage in der Woche - ggf. auch im Durchschnitt mehrerer Wochen - verteilt ist, gelten fünf Tage je Woche als Arbeitstage.
Gesetzliche Feiertage, die in den Urlaub fallen, werden nicht als Urlaubstage gerechnet.
Beschäftigte in Betrieben, in denen in regelmäßiger Wechselschicht oder vollkontinuierlich gearbeitet wird, sowie Teilzeitbeschäftigte haben unter Beachtung der jeweiligen Schichtpläne einen Urlaubsanspruch, der dem Urlaub eines Beschäftigten entspricht, der im Einschichtbetrieb an 5 Tagen in der Woche regelmäßig beschäftigt wird.
Arbeitstage, die ohne nachgewiesenen gerechtfertigten Grund versäumt werden, können auf den über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehenden Urlaub angerechnet werden. Ob ein gerechtfertigter Grund vorliegt, wird im Einvernehmen mit dem Betriebsrat festgelegt.
...
§ 22 Erlöschen des Urlaubsanspruchs
Der Urlaubsanspruch erlischt nach Ablauf des Urlaubsjahres, es sei denn, dass er erfolglos geltend gemacht wurde, oder dass der Urlaub aus betrieblichen Gründen oder wegen Krankheit nicht genommen werden konnte. In diesem Falle ist der Urlaub bis spätestens 3 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres in Anspruch zu nehmen."
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe für das Urlaubsjahr 2021 ein Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub im Umfang von 10 Arbeitstagen zu:
Für das Jahr 2021 sei ein Urlaubsanspruch von insgesamt 30 Arbeitstagen entstanden.
Die Regelung des § 17 Abs. 5 MTV sei vorliegend nicht einschlägig. Das Bundesarbeitsgericht habe in seiner Entscheidung mit dem Az. 9 AZR 197/10 entschieden, dass der tariflich angeordnete Entfall des Urlaubsanspruchs für Arbeitsunfähigkeitszeiten von ununterbrochen mehr als einem Jahr rechtswidrig den Mindesturlaubsanspruch nach §§ 1, 3 BUrlG beeinträchtige. Die Regelung des § 17 Abs. 5 MTV, die den Urlaubsanspruch für die Arbeitsunfähigkeitszeiten entfallen lasse, mache den Urlaubsanspruch unzulässigerweise von einer Gegenleistung abhängig. Die Regelung knüpfe für die Reduktion des Urlaubsanspruchs nicht am Bestand des Arbeitsverhältnisses, sondern an der Erbringung der Arbeitsleistung an.
Der Kläger hat zunächst beantragt,
1. festzustellen, dass der Kläger einen Urlaubsanspruch für das Jahr 2020 in Höhe von 20 Tagen hat;
2. festzustellen, dass der Kläger für das Jahr 2021 einen Urlaubsanspruch in Höhe von 30 Tagen hat.
Im Kammertermin vom 30.6.2022 hat der Kläger beantragt, festzustellen, dass der Kläger für das Urlaubsjahr 2021 einen tarifvertraglichen Mehrurlaubsanspruch in Höhe von 10 Tagen hat, und die weitergehende Klage zurückgenommen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Die Beklagte rekurriert auf § 17 Abs. 5 MTV: Aufgrund der mehr als einjährigen Arbeitsunfähigkeit des Klägers sei für die Monate Januar bis Mai 2021 kein Urlaub nach dem Tarifvertrag entstanden. Da die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bis zum 16.5.2021 angedauert habe und der Kläger im Mai 2021 weniger als ¾ der anfallenden Arbeitstage gearbeitet habe, sei tarifvertraglicher Urlaub im Kalenderjahr 2021 lediglich für die Monate Juni bis einschließlich Dezember in Höhe von jeweils 2,5 Tagen zu gewähren. Der tarifliche Urlaub betrage 17,5 Tage und unterschreite den gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Urlaubstagen, der unstreitig gewährt worden sei.
Gegen die Wirksamkeit der tariflichen Regelung bestünden keine Bedenken, da es sich bei der tariflichen Urlaubsregelung um ein eigenes tarifvertragliches Urlaubsregime handele.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und hierzu ausgeführt: Die Regelung des § 17 Abs. 5 MTV sei nur im Hinblick auf den gesetzlichen Mindesturlaub unwirksam. Für den tariflichen Mehrurlaub bleibe die Regelung wirksam. Die Tarifvertragsparteien hätten den tariflichen Mehrurlaub in zulässiger Weise hinsichtlich seiner Entstehung, seiner Kürzung und seines Verfalls einem vom Bundesurlaubsgesetz abweichenden Regelungsregime unterstellt. Sie seien berechtigt gewesen, das Entstehen des übergesetzlichen Urlaubs von der Erbringung der Arbeitsleistung im Rahmen der individuellen Arbeitszeit abhängig zu machen. Die Rechtsprechung, wonach die Regelung des § 17 Nr. 5 MTV auf Arbeitnehmer, die sich in Elternzeit befänden, nicht anwendbar sei, sei auf den Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nicht zu übertragen.
Hiergegen wendet sich die Berufung des Klägers, der seinen erstinstanzlichen Rechtsstandpunkt vertieft:
Er vertritt die Auffassung, dass die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach die Regelung des § 17 Abs. 5 MTV keine Anwendung finde, wenn das Arbeitsverhältnis während der Elternzeit ruhe, auf den Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zu übertragen sei. In beiden Fällen sei der Arbeitnehmer nicht zur Arbeitsleistung verpflichtet. Gleichermaßen entfalle jedenfalls bei Langzeiterkrankungen der Anspruch auf die Gegenleistung.
Soweit die Regelung des § 17 Abs. 5 MTV den Mindesturlaub kürze, sei die tarifliche Norm zur Gänze unwirksam. Eine Teilunwirksamkeit komme nur dann in Betracht, wenn die tarifliche Regelung teilbar wäre. Dies sei die Regelung nicht.
Darüber hinaus verstoße die Regelung gegen § 7 Abs. 1, 2 AGG, da sie zumindest eine mittelbare Benachteiligung von Arbeitnehmern mit Behinderung darstelle. Arbeitnehmer mit Behinderungen trügen im Vergleich zu Arbeitnehmern ohne Behinderung ein zusätzliches Risiko, längere Zeit arbeitsunfähig zu erkranken. Auch könne sich der Kläger auf einen Verstoß gegen § 7 AGG berufen, da aufgrund der Langzeiterkrankung von einer Behinderung des Klägers im Sinne von § 1 AGG ausgegangen werden müsse. Seine Arbeitsunfähigkeit sei auf eine langfristige psychische Erkrankung zurückzuführen.
Selbst wenn § 17 Abs. 5 MTV wirksam sei, stünde dem Kläger ein Anspruch von zehn tariflichen Urlaubstagen zu. Der Wortlaut der Norm sei so zu verstehen, dass die Nichtentstehung des Urlaubs erst dann eintrete, wenn der Arbeitnehmer länger als ein Jahr arbeitsunfähig erkrankt sei. Erst nach einer ein Jahr übersteigenden Arbeitsunfähigkeit trete die Kürzung des Urlaubsanspruchs ein. Dies bedeute: Der Kläger sei erst mit Ablauf des 16.3.2021 ein Jahr dauerhaft erkrankt gewesen. Somit wirke sich die Kündigung lediglich auf die Monate März, April und Mai 2021 aus. Folglich habe der Kläger für das Jahr 2021 22,5 Tage Urlaub erworben, weshalb ihm für das Jahr 2021 noch 2,5 Urlaubstage zustünden.
Für das Jahr 2020 habe die Beklagte ihrer Mitwirkungspflicht nicht genügt und den Kläger nicht dazu aufgefordert, den Urlaub im Jahr 2020 zu nehmen. Daher seien die restlichen zehn Tage auf das Jahr 2021 übertragen worden.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Saarland vom 2. August 2022 - 7 Ca 2214/21 - festzustellen, dass dem Kläger noch ein tariflicher Urlaubsanspruch in Höhe von zehn Tagen aus dem Urlaubsjahr 2021 zusteht.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung. Sie vertritt die Auffassung, dass die tarifvertragliche Regelung des § 17 Abs. 5 MTV für den vom Mindesturlaub abtrennbaren Teil der einheitlich geregelten Gesamturlaubsdauer wirksam bleibe, selbst wenn die Regelung den Mindesturlaub betreffend unwirksam sei. Die Beklagte verweist auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14.2.2017 - 9 AZR 386/16. Auch sei die Regelung nicht gemäß § 7 Abs. 1, 2 AGG unwirksam, da der Kläger verkenne, dass eine Behinderung nicht zwingend Arbeitsunfähigkeit bedinge. Der allgemeine Schluss, dass behinderte Menschen überdurchschnittlich von der Anwendung des § 17 Abs. 5 MTV betroffen seien, liege fern.
Die Auslegung, wonach der Urlaubsanspruch erst ab einer ein Jahr übersteigenden Arbeitsunfähigkeit künftig nicht entstehe, erschließe sich nicht. Die Auslegung stehe mit dem Wortlaut der Norm nicht in Einklang.
Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens wird auf den Inhalt der Berufungsbegründung vom 21.10.2022 (Bl. 127 ff. d.A.), der Berufungserwiderung vom 8.12.2022 (Bl. 146 ff. d.A.) sowie auf den Schriftsatz des Klägervertreters vom 17.2.2023 verwiesen. Hinsichtlich des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift (Bl. 173 ff. d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A. Die gemäß § 64 Abs. 1, 2 lit. b) ArbGG statthafte, gemäß § 66 Abs. 1 ArbGG form- und fristgerecht eingelegt und begründete, mithin zulässige Berufung hat in der Sache anteiligen Erfolg, da die angefochtene Entscheidung nicht frei von Rechtsfehlern erscheint (§ 64 Abs. 6 ArbGG; § 513 Abs. 1 ZPO).
1. Allerdings war die angefochtene Entscheidung entgegen der Auffassung der Berufung nicht bereits deshalb aufzuheben, weil das Arbeitsgericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 547 Nr. 1 ZPO). Die Bedenken gegen die ordnungsgemäße Besetzung wurden durch die Urteilsberichtigung ausgeräumt.
2. Der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist ausschließlich auf das Bestehen von Mehrurlaubsansprüchen für das Urlaubsjahr 2021 gerichtet. Denn der Kläger hat sein erstinstanzliches Feststellungsbegehren, das zunächst explizit auf die Feststellung von Urlaubsansprüchen für das Jahr 2020 gerichtet war, hinsichtlich der Urlaubsansprüche des Jahres 2020 zurückgenommen. Eine Entscheidung über diesen Streitgegenstand ist mangels Rechtshängigkeit des prozessualen Anspruchs nicht möglich. Entgegen der Auffassung des Klägers können Urlaubsansprüche des Jahres 2020 nicht im Wege der Hilfsbegründung zugesprochen werden, da der Klageantrag explizit auf Feststellung tariflichen Mehrurlaubs aus dem Urlaubsjahr 2021 gerichtet ist. Folglich kann die Frage, ob auch der tarifvertragliche Mehrurlaubsanspruch aus dem Jahr 2020 mangels Einhaltung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nach dem Ende des Übertragungszeitraums nicht erloschen ist (siehe hierzu: BAG, Urt. v. 26.5.2020 - 9 AZR 259/19, NZA 2020, 1416), im vorliegenden Rechtsstreit unentschieden bleiben.
3. Frei von Rechtsfehlern ist das Arbeitsgericht zu der Erkenntnis gelangt, dass die Vertragsparteien im Manteltarifvertrag für den tariflichen Mehrurlaub eine eigene Regelung getroffen haben, die den gesetzlichen und unionsrechtlichen Einschränkungen nicht unterliegt:
a) Die Tarifvertragsparteien können die Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (im folgenden Arbeitszeitrichtlinie, ABl .EU L 299 vom 18.11. 2003 Seite 9) gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindesturlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln (EuGH, Urt. v. 3.5.2012 - C-337/10, NVwZ 2012, 688; BAG, Urt. v. 7.8.2012 - 9 AZR 760/10, BAGE 143, 1 Rn. 18). Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn im Tarifvertrag entweder bei Befristung oder Übertragung bzw. Verfall des Urlaubs sich vom gesetzlichen Fristenregime losgelöste, eigenständige Regelungen getroffen wurden. Anhaltspunkte für eine derartige Regelungsintention sind insbesondere dann gegeben, wenn der Tarifvertrag auf eine Übertragungsvoraussetzung verzichtet oder bei den Übertragungsvoraussetzungen vom Regelungsregime des § 7 Abs. 3 Satz 1 bis Satz 3 BUrlG abweicht (BAG, Urt. v. 14.2.2017 - 9 AZR 386/16, NZA 2017, 665 Rn. 15 m. weit. Nachw.).
b) Diese Voraussetzungen hat das Bundesarbeitsgericht mit Blick auf die im vorliegenden Tarifvertrag enthaltene Regelung des § 22 MTV für nachgewiesen erachtet, die von § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG abweicht, indem § 22 MTV auf das Vorliegen dringlicher Gründe verzichtet und die Übertragung des Urlaubs allein im Krankheitsfall ermöglicht. Die Kammer nimmt auf die Erwägungen des E.s Bezug (NZA 2017, 665 Rn. 18 ff.), von denen abzuweichen kein Anlass besteht.
4. Ohne Erfolg wendet die Berufung ein, dass der tariflichen Regelung, die explizit nicht hinsichtlich des Mindesturlaubs und des Mehrurlaubs unterscheide, insgesamt die Rechtswirksamkeit vorzuenthalten sei, weil - dies steht außer Streit - die Regelung hinsichtlich des Mindesturlaubs unwirksam ist. Auch diese Rechtsfrage hat das Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 14.2.2017 (NZA 2017, 655 [BAG 14.02.2017 - 9 AZR 386/16] Rn. 23) für den streitgegenständlichen Tarifvertrag entschieden und hierzu ausgeführt, dass die tarifliche Regelung hinsichtlich des tariflichen Mehrurlaubs wirksam sei. Dass die eigenständige tarifliche Regelung im Hinblick auf den gesetzlichen Mindesturlaub krankheitsbedingt arbeitsunfähiger Arbeitnehmer unwirksam sei, sei - so das Bundesarbeitsgericht - für die Wirksamkeit der Regelungen über den tariflichen Mehrurlaub unerheblich.
5. Auch der Auffassung, die Regelung des § 17 Nr. 5 MTV finde deshalb keine Anwendung, weil das Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 17.5.2011 - 9 AZR 197/10, BAGE 138, 58 entschieden habe, dass § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV keine Anwendung finde, wenn das Arbeitsverhältnis wegen Elternzeit ruhe, ist nicht zu folgen:
Im dort entschiedenen Fall stellte sich die Frage, ob ein Urlaubsanspruch während der Elternzeit entsteht. Dieser Frage war schon deshalb nachzugehen, weil die Tarifvertragsparteien in § 17 Nr. 5 MTV den Fall der Elternzeit nicht explizit geregelt haben. Das Bundesarbeitsgericht ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Elternzeit nicht von § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV erfasst sei, weil die Regelung nur Arbeitsunfähigkeit während eines nicht ruhenden Arbeitsverhältnisses erfasse. Das Bundesarbeitsgericht argumentiert explizit (Rn. 31) mit dem Wortlaut der Ausnahmeregelung in § 17 Nr. 5 Abs. 2 MTV, gegen deren Wirksamkeit keine Zweifel bestanden.
Die vom Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung vom 17.5.2011 zu beantwortende Rechtsfrage nach der richtigen Auslegung der tariflichen Norm stellt sich im vorliegenden Sachverhalt indessen nicht: Schon aus dem Wortlaut der Tarifnorm folgt bei unbefangener Lesart, dass § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV den Fall des krankheitsbedingten Ausfalls der Arbeitszeit regelt. Dies folgt mit Klarheit daraus, dass die Ausnahmevorschrift des § 17 Nr. 5 Abs. 2 die Berechnung des Urlaubsanspruchs im Fall krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit ausdrücklich anspricht.
6. Im Ergebnis hält die tarifliche Regelung auch einer Rechtskontrolle am Maßstab des § 7 Abs. 1, 2 AGG stand:
a) Es kann dahinstehen, inwieweit die Erkenntnis, dass ein Arbeitnehmer mit Behinderung einem höheren Risiko ausgesetzt ist, arbeitsunfähig zu erkranken und krankheitsbedingte Fehltage anzusammeln, als ein Arbeitnehmer ohne Behinderung (EuGH, Urt. v. 18.1.2018 - C-270/16, NZA 2018, 159 Rn. 39), auf einer validen empirischen Grundlage beruht. Zugleich entspricht es den Erfahrungen des Arbeitslebens, dass eine Behinderung nicht stets mit Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit verbunden ist. Nach der gesetzlichen Definition des § 2 Abs. 1 und Abs. 2 SBG IX sind Menschen mit Behinderung solche Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Diese Barrieren korrelieren nicht zwingend mit der Fähigkeit zur Arbeitsleistung und schaffen nicht zwingend Risiken, die sich in Zeiten von Arbeitsunfähigkeit manifestieren: So mag etwa ein Sehbehinderter an der gleichberechtigten Teilhabe beeinträchtigt sein. Das Risiko, arbeitsunfähig zu erkranken, beeinflusst die Sehbehinderung nicht.
Teilt man die Auffassung des EuGH, liegt es jedoch nicht fern, in einer Regelung, die Urlaubsansprüche infolge einer mehr als einjährigen ununterbrochenen Erkrankung entfallen ließe, eine mittelbare Benachteiligung wegen der Behinderung zu erblicken, da die Anknüpfung an das Kriterium der langfristigen Erkrankung zwar grundsätzlich auch nichtbehinderte Arbeitnehmer betrifft, die Gruppe der Arbeitnehmer mit Behinderung jedoch häufiger von der benachteiligenden Regel betroffen ist.
b) Hingegen wird diese Sichtweise der Regelungssystematik der vorliegend zu beurteilenden Tarifnorm nicht gerecht. Nach der tariflichen Regelung in § 17 MTV wird der tarifliche Mehrurlaubsanspruch mit der tatsächlichen Erbringung der Arbeitsleistung verknüpft: Der Mehrurlaub entsteht monatlich und setzt im Grundsatz voraus, dass der Arbeitnehmer mindestens drei Viertel der nach der jeweiligen betrieblichen Arbeitszeiteinteilung anfallenden Arbeitstage im Kalendermonat tatsächlich erbringt.
Von dieser Grundaussage formuliert § 17 Nr. 5 Abs. 2 Satz 2 des MTV im Fall der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit eine Ausnahme, indem die Regelung krankheitsbedingte Ausfallzeiten als geleistete Arbeitszeiten ansieht, sofern die Arbeitsunfähigkeit die zeitliche Grenze von einem Jahr nicht überschreitet. Nach diesem Regel-Ausnahme-Verständnis trägt die Regelung dem Interesse von Arbeitnehmern mit Behinderung in diese begünstigender Intention Rechnung, da die Arbeitnehmer mit Behinderung - teilt man den Erfahrungssatz - in der Lebenswirklichkeit häufiger als Arbeitnehmer ohne Behinderung von der Ausnahmeregel profitieren.
Die vom Kläger beanstandete Regelung des § 17 Nr. 5 Abs. 2 MTV hat bei Licht besehen im Regelungsgefüge des Tarifvertrages die Intention, Arbeitnehmer mit Behinderung zu begünstigen. Das Argument, die Jahresfrist werde von Menschen mit Behinderung häufiger überschritten, weshalb hierin eine mittelbare Benachteiligung liege, stünde mit der Regelungsintention in offenem Widerspruch und vermag bei einer kohärenten Auslegung der Tarifnorm nicht zu überzeugen.
c) Schließlich liegt die mittelbare Benachteiligung nicht darin, dass der Urlaubsanspruch bereits nach der Grundregel des § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV an der Erbringung der Arbeitsleistung anknüpft: Der Zweck des Urlaubs besteht insbesondere darin, es dem Arbeitsnehmer zu ermöglichen, sich von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen (EuGH, Urt. v. 25.6.2020 - C-762/18 u.a., NZA 2020, 1001 Rn. 57). Dies setzt voraus, dass der Arbeitnehmer zuvor eine Tätigkeit ausgeübt hat, weshalb er zur Erhaltung seiner Sicherheit und Gesundheit der Erholung bedarf. Dieser Zwecksetzung trägt die Grundregel Rechnung, indem sie die tariflichen Urlaubsansprüche auf der Grundlage der tatsächlichen geleisteten Arbeit berechnet (vgl. Schaub/Linck, Arbeitsrechtshandbuch, 19. Aufl., § 104 Rn. 6). Sofern in dieser Verknüpfung i.S. von § 3 Abs. 2 AGG eine mittelbare Benachteiligung behinderter Arbeitnehmer zu erblicken wäre, wäre eine solche Benachteilung, die auf einem anerkannten arbeitsrechtlichen Grundsatz zum Zweck des Erholungsurlaubs beruht, durch ein sachliches Ziel gerechtfertigt, welches seinerseits in der tariflichen Regelung durch angemessene und erforderliche Mittel erreicht wird (§ 3 Abs. 2 2. HS AGG). Denn das Interesse von Menschen mit Behinderung wird - teilt man den vom Kläger vertretenen Standpunkt - dadurch hinreichend gewahrt, dass der krankheitsbedingte Ausfall der Arbeitskraft dem Entstehen des tarifvertraglichen Mehrurlaubs erst nach Ablauf eines Jahres entgegensteht. Der Schwellenwert der einjährigen Arbeitsunfähigkeit bringt unter Berücksichtigung der Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien das anerkennenswerte Interesse auf Korrelation zwischen dem tarifvertraglichen Mehrurlaub und der tatsächlichen Arbeitsleistung und dem gesteigerten Risiko von Menschen mit Behinderung, arbeitsunfähig zu erkranken, auf sachgerechte Weise zum Ausgleich.
7. Durchgreifenden Bedenken begegnet die Berechnung des Urlaubsanspruchs, die auf dem Regelverständnis beruht, dass die im Kalenderjahr monatlich entstandenen Urlaubsansprüche rückwirkend erlöschen, wenn der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr länger als Jahr infolge Krankheit arbeitsunfähig war:
a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln vorzunehmen (vgl. etwa: BAG, Urt. v. 11.11.2020 - 4 AZR 210/20, NZA 2022, 68 [BAG 14.07.2021 - 10 AZR 190/20] Rn. 20; vgl. auch Schaub/Treber, Arbeitsrechtshandbuch, 19. Aufl., § 201 Rn. 1 ff.). Den Ausgangspunkt der Auslegung bildet der Wortlaut des Tarifvertrags. Hierbei ist der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm ist nur dann zu berücksichtigen, soweit der Wille in den tariflichen Normen einen Niederschlag gefunden hat. Für die Auslegung ist weiterhin die Systematik der Gesamtregelung zu berücksichtigen. Bleiben nach den vorgenannten Grundsätzen Zweifel an der richtigen Auslegung, ist derjenigen Auslegung der Vorrang einzuräumen, die nach den Grundsätzen der praktischen Vernunft zu einer vernünftigen, sachgerechten und interessengerechten Lösung führt.
b) In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze folgt daraus:
aa) Für das richtige Verständnis der tariflichen Regelung ist es zunächst maßgeblich, dass der tarifvertragliche Urlaubsanspruch gemäß § 17 Nr. 3 MTV monatlich entsteht. Im Zusammenspiel mit der Regelung des § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV, wonach der Urlaubsanspruch besteht, wenn im Kalendermonat weniger als drei Viertel der Arbeitstage im Kalendermonat keine Arbeitsleistung erbracht wurde, bedeutet dies, dass der monatliche Urlaubsanspruch zum Monatsende entsteht. Erst zu diesem Zeitpunkt steht fest, ob das Quorum des § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV im jeweiligen Monat überschritten worden ist. Dies bedeutet indessen, dass der Urlaubsanspruch, der zum Ende des jeweiligen Monats entsteht, durch die künftige Entwicklung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr beeinflusst werden kann.
bb) Aus der Regelung in § 17 Nr. 5 Abs. 2 folgt nichts anderes: Die Bestimmung formuliert eine Ausnahme von der in § 17 Nr. 5 Abs. 1 MTV aufgestellten Regelung: War der Arbeitnehmer im jeweiligen Monat arbeitsunfähig erkrankt, so sind diese Zeiten als geleistete Arbeitszeiten anzusehen, wenn sie auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkt bleiben. In der Berechnung der Zeiten der Arbeitsunfähigkeit ist auf das für die Entstehung des Urlaubsanspruchs maßgeblichen Zeitpunkt des Monatsendes abzustellen. Mithin steht eine Arbeitsunfähigkeit dem Entstehen des Urlaubsanspruchs nur dann entgegen, wenn der Arbeitnehmer zum maßgeblichen Monatsende bereits länger als ein Jahr arbeitsunfähig war.
Sehe man dies anders, würde die Regelung in § 17 Nr. 5 Satz 2 MTV dazu führen, dass der zunächst entstandene Urlaubsanspruch in der Folge mit Blick auf die Fortsetzung der Arbeitsunfähigkeit über das Ende des für die Entstehung des Urlaubsanspruchs maßgeblichen Zeitpunkts wieder erlischt. Diese Rechtsfolge ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen: Die Regelung in § 17 Nr. 5 Satz 2 MTV konkretisiert die Voraussetzungen, unter denen ein Urlaubsanspruch nach Maßgabe der in Abs. 1 aufgestellten Regelung entsteht und ordnet als Rechtsfolge nicht das Erlöschen eines bereits entstandenen Urlaubsanspruchs an.
Nur dieses Rechtsverständnis ist interessengerecht: In der Konsequenz der vom Arbeitsgericht geteilten Auffassung würde etwa ein Arbeitnehmer, der im Monat September eines Jahres nur ein Jahr arbeitsunfähig war, für die Monate Januar bis September den vollen tariflichen Mehrurlaub erwerben und behalten, während ein bis September 13 Monate arbeitsunfähig gewesener Arbeitnehmer den anteiligen Mehrurlaub für die Monate Januar bis September vollständig verlöre. Diese Differenzierung, in deren Konsequenz ein Arbeitnehmer nachträglich Urlaubsansprüche auch für solche Zeiträume verlieren kann, in denen das Quorum der einjährigen Arbeitsunfähigkeit noch nicht überschritten war, hielte einer Rechtskontrolle am Maßstab des Gleichheitsgrundrechts (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht stand. Die Unterscheidung wird nicht von sachgerechten Erwägungen getragen.
8. In der rechnerischen Umsetzung steht dem Kläger der tarifliche Anspruch auf Mehrurlaub lediglich für die Monate März, April und Mai 2021 nicht zu, weshalb dem Feststellungsantrag im zuerkannten Umfang von drei Urlaubstagen zu entsprechen war (30 Tage : 12 Monate = 2,5 * 9 = 22,5 abzüglich des gewährten Mindesturlaubs von 20 Tagen, ergibt 2,5 Tage, die gemäß § 17 Nr. 6 auf drei Tage aufzurunden waren).
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Revision war zuzulassen, da die Auslegung der tariflichen Norm Grundsatzbedeutung besitzt (§ 72 Abs. 2 ArbGG).