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Beschluss vom 05.09.2022 · IWW-Abrufnummer 235305

Hessisches Landesarbeitsgericht - Aktenzeichen 10 Ta 328/22

1. Im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren kann grundsätzlich nicht überprüft werden, ob die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers infolge einer nach Erlass des Urteils in der ersten Instanz ausgesprochenen zweiten Kündigung unmöglich geworden ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Unmöglichkeit unstreitig oder offenkundig ist.

2. Das Gleiche gilt, wenn sich der Arbeitgeber auf eine nachträgliche Organisationsentscheidung beruft, infolge deren Umsetzung der Arbeitnehmer angeblich nicht mehr beschäftigt werden kann, oder wenn der Arbeitgeber einen Auflösungsantrag gestellt hat.


Tenor:

Die sofortige Beschwerde der Schuldnerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Kassel vom 6. Juli 2022 - 2 Ca 302/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.



Gründe



I. Die Parteien streiten über die Frage, ob der Gläubiger im Wege der Zwangsvollstreckung seine Weiterbeschäftigung während der Dauer des Kündigungsschutzprozesses verlangen kann.



Zwischen den Parteien war ein Kündigungsrechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Kassel anhängig. Mit Urteil vom 12. April 2022 hat das Arbeitsgericht dem Kündigungsschutzantrag des Gläubigers stattgegeben und die Schuldnerin verurteilt, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als kaufmännischen Leiter weiter zu beschäftigen. Die vollstreckbare Ausfertigung ist am 22. April 2022 erteilt worden.



Dieses Urteil ist der Schuldnerin am 26. April 2022 zugestellt worden. Am gleichen Tag hat sie hiergegen Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren - 8 Sa 643/22 - ist vor dem Landesarbeitsgericht noch anhängig.



Mit Schreiben vom 9. Mai 2022 hat die Schuldnerin einen Auflösungsantrag nach § 9 KSchG gestellt.



Mit Schreiben vom 7. Juni 2022 hat der Gläubiger einen Antrag nach § 888 ZPO zur Durchsetzung der titulierten Pflicht zur Weiterbeschäftigung gestellt.



Die Schuldnerin hat gemeint, dass Arbeitsverhältnis sei erheblich gestört. Es sei eine Front innerhalb der Belegschaft aufgebaut worden, die eine Hälfte unterstütze den Geschäftsführer, die andere Hälfte den Gläubiger. Hinsichtlich der zur Akte gereichten eidesstattliche Versicherung des Arbeitnehmers A wird Bezug genommen auf Bl. 349 der Akte. Durch den Auflösungsantrag bestünde erneut eine Ungewissheit über die Pflicht zur Weiterbeschäftigung im Kündigungsrechtsstreit.



Das Arbeitsgericht Kassel hat mit Beschluss vom 6. Juli 2022 ein Zwangsgeld i.H.v. 7.073,48 Euro festgesetzt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die allgemeinen Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung lägen vor. Auch der Auflösungsantrag würde nicht zur Unmöglichkeit der Beschäftigung führen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten der Entscheidung der ersten Instanz wird Bezug genommen auf Bl. 350 - 353 der Akte. Diese Entscheidung ist der Schuldnerin am 7. Juli 2022 zugestellt worden. Gegen diese Entscheidung hat die Schuldnerin mit Schriftsatz vom 18. Juli 2022 sofortige Beschwerde eingelegt.



Im Berufungsverfahren hat die Schuldnerin den Antrag gestellt, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Kassel einstweilen einzustellen. Zur Begründung hat sie vorgetragen, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Gläubiger und der Schuldnerin, insbesondere dem Geschäftsführer, zerstört sei. Der Gläubiger habe mit einem Großteil der Minderheitsgesellschafter gegen den Geschäftsführer intrigiert und versucht, diesen „loszuwerden“. Streit herrsche zwischen dem Gläubiger und dem Geschäftsführer insbesondere in der Frage, ob die Schuldnerin die Fa. B bzw. deren Geschäftsanteile kaufen soll. Bezüglich der zur Akte gereichten eidesstattliche Versicherung des Herrn C wird verwiesen auf Bl. 241 der Akte.



Das Landesarbeitsgericht hat in dem Berufungsverfahren durch Beschluss vom 8. August 2022 - 8 Sa 643/22 - den Antrag auf vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung zurückgewiesen.



In der Beschwerdeinstanz meint die Schuldnerin, dass ihr die Weiterbeschäftigung des Gläubigers unmöglich geworden sei, weil dessen Arbeitsplatz als kaufmännischer Leiter weggefallen sei. Der Arbeitsplatz sei infolge einer Organisationsentscheidung entfallen. Die Aufgabenverteilung werde zukünftig neu erfolgen, die Personalverantwortung werde ausschließlich durch den Geschäftsführer ausgeübt, gleichermaßen gelte dies für Organisation und Betreuung des Controllings sowie die Auswertung der Arbeitszeitüberwachung und die Urlaubsplanung. Organisation und Betreuung der logistischen Abläufe seien bereits seit 1. April 2021 auf den Leiter Auftragsplanung und Logistik übertragen worden. Die Organisationsentscheidung werde auch belegt durch das Protokoll der Gesellschafterversammlung vom 18. Juli 2022 (Bl. 379 ff. der Akte) und das neue Organigramm.



Der Gläubiger bestreitet, dass seine Beschäftigung infolge einer unternehmerischen Entscheidung unmöglich geworden sei. Er sei mit einer Vielzahl von Einzeltätigkeiten beschäftigt gewesen, nämlich mit Controllingaufgaben, insbesondere Aufbereitung der Geschäftszahlen, Erstellen von Monatsberichten, 40 - 50 % seiner Arbeitszeit habe er mit Verwaltungstätigkeiten in Form von Kundenservice (Rückfragen etc.) und insbesondere auch mit der Auftragseröffnung bei Neuaufträgen in dem PC-System der Schuldnerin verbracht. Weitere ca. 5 % seiner Tätigkeit sei darauf entfallen, mit dem technischen Leiter eine Wochenplanung abzustimmen. Schließlich sei er von der Schuldnerin im Internet für Personalneueinstellungen als sog. Anlaufstation benannt worden. Er bestreitet, dass diese Aufgaben neu im Betrieb verteilt werden könnten. Der Vortrag der Arbeitgeberin sei teilweise schon nicht einlassungsfähig, so sei unklar, was sie mit Organisation und Betreuung der logistischen Abläufe meine. Andere Mitarbeiter müssten bei Übernahme von Teiltätigkeiten überobligatorisch arbeiten.



Das Arbeitsgericht hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 20. August 2022 nicht abgeholfen und sie zur Entscheidung dem Landesarbeitsrecht vorgelegt.



II. Die sofortige Beschwerde ist zwar zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.



Die statthafte sofortige Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt worden und insgesamt zulässig (§§ 62 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, 78 ArbGG i.V.m. §§ 793 ZPO, 569 Abs. 1 ZPO).



In der Sache selbst hat die Beschwerde keinen Erfolg; denn der Zwangsgeldbeschluss des Arbeitsgerichts ist nicht zu beanstanden.



1. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Zwangsvollstreckung (Titel, Klausel, Zustellung) liegen vor, §§ 724, 750 Abs. 1 ZPO. Bei der Verurteilung zur Weiterbeschäftigung handelt es sich nach einhelliger Auffassung um die Verurteilung zur Vornahme einer unvertretbaren Handlung gemäß § 888 ZPO. Der arbeitsgerichtliche Titel ist auch hinreichend bestimmt und zur Vollstreckung auch geeignet.



2. Dem Antrag nach § 888 ZPO kann die Schuldnerin nicht mit dem Einwand der Unmöglichkeit begegnen.



a) Obwohl es sich um einen materiell-rechtlichen Einwand handelt, kann der Schuldner auch im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens den materiell-rechtlichen Einwand der Unmöglichkeit erheben (vgl. BAG 5. Februar 2020 - 10 AZB 31/19 - Rn. 17, NZA 2020, 542; BAG 18. Dezember 2012 - 3 AZB 73/12 - Rn. 25, n.v.; Hess. LAG 2. November 2018 - 10 Ta 329/18 - Juris). Für die Unmöglichkeit trägt er nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast (Hess. LAG 14. Januar 2021 - 10 Ta 357/20 - Rn. 24, Juris; LAG Köln 8. Mai 2014 - 11 Ta 211/13, BeckRS 2014, 69768; LAG Schleswig-Holstein 11. Dezember 2003 - 2 Ta 257/93 - NZA-RR 2004, 408 [OVG Sachsen 25.08.2003 - 5 BS 107/03]; Müko-ZPO/Gruber 6. Aufl. § 888 Rn. 13).



b) Nach überwiegender Auffassung kann jedenfalls im Zwangsvollstreckungsverfahren nach § 888 ZPO nicht die Wirksamkeit und Umsetzung einer betriebsbedingten Kündigung infolge einer unternehmerischen Entscheidung, die zum Wegfall des Beschäftigungsbedarfs des Arbeitnehmers führt, geltend gemacht werden. Im formalisierten Vollstreckungsverfahren kann schlechterdings nicht überprüft werden, ob der Ausspruch einer Kündigung inklusive Betriebsratsanhörung, eventueller Zustimmungserfordernisse nach §§ 168 SGB IX bzw. 17 MuSchG etc., materiell-rechtlich wirksam ist (vgl. Hess. LAG 3. August 2021 - 10 Ta 56/21 - Rn. 25, Juris; Hess. LAG 21. März 2019 - 8 Ta 22/19 - Rn. 17, Juris; Hess. LAG 6. Juli 2016 - 10 Ta 266/16 - Rn. 25, Juris; Hess. LAG 30. Dezember 2020 - 8 Ta 342/20 - Rn. 41 ff., Juris; LAG Köln 26. Juni 2017 - 4 Ta 131/17 - Rn. 13, Juris; LAG Baden-Württemberg 9. November 2015 - 17 Ta 23/15 - Rn. 40 ff., Juris; Hess. LAG 5. Oktober 2015 - 12 Ta 114/15 - Rn. 16, Juris; LAG Rheinland-Pfalz - 27. November 2007 - 10 Ta 263/07 -Rn. 13, Juris). Es drohte ansonsten auch das Risiko einer Divergenz, wenn eine Kündigung im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens anders beurteilt würde als in einem - ggf. nachfolgenden - Erkenntnisverfahren. Der Arbeitgeber kann dann entweder Berufung einlegen und die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung über § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG i.V.m. §§ 707, 719 Abs. 1 ZPO geltend machen oder Vollstreckungsgegenklage nach § 769 ZPO einreichen.



Es ist auch nicht Aufgabe des Zwangsvollstreckungsverfahrens, die im Rahmen des Erkenntnisverfahrens getroffene Entscheidung auf Richtigkeit zu überprüfen. Diejenigen Umstände, die bereits Gegenstand des Erkenntnisverfahrens gewesen sind, sind deshalb grundsätzlich nicht geeignet, eine Unmöglichkeit im Zwangsvollstreckungsverfahren zu begründen (vgl. BAG 15. April 2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 25, NZA 2009, 917). Etwas anderes könnte nur dann geltend, wenn der Wegfall der alten Position unstreitig wäre (vgl. BAG 5. Februar 2020 - 10 AZB 31/19 - Rn. 18, NZA 2020, 542).



Spricht der Arbeitgeber nach der ersten Kündigung zwar keine zweite Kündigung aus, trifft er aber eine neue unternehmerische Entscheidung, die nach seiner Ansicht zum Wegfall der Beschäftigungsverpflichtung nach den titulierten Bedingungen führen soll, so gilt im Grundsatz nichts anderes. Das Bundesarbeitsgericht betont, dass Streitigkeiten, ob im Einzelfall das Weisungsrecht nach § 106 GewO ordnungsgemäß ausgeübt worden ist, nicht in das Zwangsvollstreckungsverfahren gehörten (vgl. BAG 15. April 2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 21, NZA 2009, 917). Im formalisierten Zwangsvollstreckungsverfahren kann nicht kontrolliert werden, ob die Einzelheiten der Billigkeit nach § 106 Abs. 1 GewO eingehalten sind, die zuständigen Gremien beteiligt worden sind etc. Diese materiell-rechtlichen Fragen sind vielmehr im Erkenntnisverfahren zu klären (vgl. BAG 25. August 2010 - 10 AZR 275/09 - Rn. 16, NZA 2010, 1355; Hess. LAG 4. Oktober 2021 - 10 Ta 320/21 - n.v.; GMP/Schleusener 10. Aufl. § 62 Rn. 62). Dies gilt jedenfalls für wesentliche Änderungen der Arbeitsbedingungen durch Ausübung des Direktionsrechts, z.B. wenn der Ort der Arbeitsleistung oder wesentliche Inhalte der geschuldeten Arbeit betroffen sind oder wenn - wie hier durch eine Organisationsmaßnahme - Stellen in Wegfall geraten sollen.



c) Nach diesen Grundsätzen ergibt sich, dass sich die Schuldnerin nicht auf Unmöglichkeit der Erfüllung des Titels berufen kann. Soweit sie davon ausgeht, dass die ehemalige Position des Gläubigers aufgrund einer im Sommer 2022 getroffenen unternehmerischen Entscheidung in Wegfall geraten sei, kann dem nicht gefolgt werden. Denn der Wegfall der alten Position infolge einer neuen unternehmerischen Entscheidung ist keinesfalls unstreitig oder offenkundig.



Zwar spricht für eine Plausibilität einer entsprechenden unternehmerischen Entscheidung das zur Akte gereichte Protokoll der Gesellschafterversammlung vom 18 Juli 2022. Für den Wegfall der Position des kaufmännischen Leiters ist ein formaler Organisationsbeschluss indes nicht ausreichend. Vielmehr kommt es darauf an, ob dieser auch umgesetzt wurde und auch umsetzbar war. Letzteres ist durch den Kläger bestritten worden. Er hat insbesondere vorgebracht, dass er eine Vielzahl von Tätigkeiten verrichtet habe, die gleichwohl noch im Betrieb anfielen. Andere Arbeitnehmer könnten dies nicht ohne überobligatorische Tätigkeiten mit erledigen. Damit ist der Wegfall der alten Position nicht unstreitig und wäre in einem neuen Erkenntnisverfahren zu klären.



Die Schuldnerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass infolge des vom Arbeitgeber gestellten Auflösungsantrags nach § 9 KSchG eine erneute Ungewissheit über den Bestand des Arbeitsverhältnisses eingetreten sei, die einer Weiterbeschäftigung entgegensteht. Dabei handelt es sich um eine neue materiell-rechtliche Einwendung, diese wäre, wie eine zweite Kündigung, in einem Verfahren nach § 767 ZPO oder im Rahmen des Berufungsverfahrens nach § 62 Abs. 1 Satz 2, 3 ArbGG vorzubringen (LAG Thüringen 5. Januar 2005 - 1 Ta 148/04 - Juris; GMP/Schleusener 10. Aufl. § 62 Rn. 62). Der Umstand, dass die für das Berufungsverfahren zuständige Kammer des Landesarbeitsgerichts den Antrag abschlägig beschieden hat, kann nicht dazu führen, dass im Rahmen des parallellaufenden Zwangsvollstreckungsverfahrens nach § 888 ZPO eine erweiterte Prüfungskompetenz anzunehmen ist.



III. Die Schuldnerin hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§§ 891 Satz 3, 97 Abs. 1 ZPO).



Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen. Es ist höchstrichterlich nicht eindeutig geklärt, inwieweit die materiell-rechtlichen Einwendungen eines neuen Auflösungsantrags und einer neuen Organisationsentscheidung im Rahmen des Verfahrens nach § 888 ZPO zu berücksichtigen sind (vgl. auch Hess. LAG 3. August 2021 - 10 Ta 56/21 - Juris).

Vorschriften§ 9 KSchG, § 888 ZPO, §§ 724, 750 Abs. 1 ZPO, §§ 168 SGB IX, 17 MuSchG, § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG, §§ 707, 719 Abs. 1 ZPO, § 769 ZPO, § 106 GewO, § 106 Abs. 1 GewO, § 767 ZPO, § 62 Abs. 1 Satz 2, 3 ArbGG