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Urteil vom 10.01.2023 · IWW-Abrufnummer 235309

Hessisches Landesarbeitsgericht - Aktenzeichen 12 Sa 767/22 SK

Ein baugewerblicher Betrieb, der seit 2017 keine gewerblichen Arbeitnehmer, Angestellten oder Auszubildenden ( § 1 Abs. 3 VTV ) mehr beschäftigt, unterfällt nicht dem VTV vom 18. September 2018, mit der Folge, dass es hinsichtlich der Verjährung von Beitrags- und Zinsansprüchen bei den vierjährigen Verfall- und Verjährungensfristen des VTV vom 20. Dezember 1999, vom 18. Dezember 2009 bzw. vom 03. Mai 2013 jeweils i.V.m. § 7 SokaSiG bzw. einer wirksamen AVE verbleibt.


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 07. April 2022 ‒ 9 Ca 23/22 SK ‒ teilweise abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 9.285,- Euro zu zahlen.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Beklagte 64% und der Kläger 36% zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand



Die Parteien streiten um die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Verzugszinsen aus titulierten Beiträgen an die Sozialkassen des Baugewerbes für Zinszeiträume in den Kalenderjahren 2015 bis 2018 in Höhe von 14.570,94 EUR. Hinsichtlich der Forderungsaufstellung wird auf Blatt 19 ff. der Akte verwiesen.



Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes berechtigt und verpflichtet.



Der Beklagte unterhält einen baugewerblichen Betrieb und beschäftigte bis 2017 gewerbliche Arbeitnehmer.



Hinsichtlich des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Niederschriften der mündlichen Verhandlungen und auf den Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils verwiesen.



Das Arbeitsgericht Wiesbaden hat mit Urteil vom 07. April 2022 die Klage insgesamt abgewiesen und ‒ soweit für die Berufungsinstanz von Bedeutung ‒ ausgeführt, dass der Kläger seine Zinsansprüche schlüssig begründet habe. Eine Verrechnung habe erst im Herbst 2019 stattgefunden, Zinsen würdigen lediglich für den Zeitraum bis Ende 2018 verlangt.



Das Arbeitsgericht hat angenommen, die streitgegenständlichen Verzugszinsen seien durch Anschreiben des Klägers vom 09. Juli 2018 und vom 07. Januar 2019 unter Bezugnahme auf beigefügte Verzugszinsrechnungen vom 04. Juli 2018 und vom 04. Januar 2019 rechtzeitig vor ihrem Verfall gemäß § 21 Abs. 1 des Tarifvertrags über Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) geltend gemacht worden. Allerdings seien die streitgegenständlichen Zinsen verjährt. Gemäß § 21 Abs. 4 des VTV vom 28. September 2018 betrage die regelmäßige Verjährungsfrist für Ansprüche der Kassen gegen den Arbeitgeber drei Jahre. Abweichend hiervon betrage die Verjährungsfrist für Ansprüche der Kasse gegen den Arbeitgeber, die bis zum Ablauf des Jahres 2014 fällig geworden sind, vier Jahre. Zwar hätten die bis zum 31. Dezember 2018 geltenden tarifvertraglichen Bestimmungen noch eine vierjährige Verjährungsfrist vorgesehen, diese sei jedoch durch den VTV vom 28. September 2018 für Ansprüche, die nach Ablauf des Jahres 2014 fällig geworden sind, wirksam abgekürzt worden. Diese verkürzte Verjährungsfrist habe der Kläger nicht gewahrt.



Ausgehend hiervon seien die verlangten Zinsen für die Zeit vom 21. Oktober 2015 bis zum 21. Dezember 2015 am 31. Dezember 2018 in Anwendung von § 199 Abs. 1 BGB verjährt. Der Ablauf der Verjährungsfrist für die Zinsen des Kalenderjahres 2017 sei am 31. Dezember 2020 und der Ablauf der Verjährungsfrist für die Zinsen des Kalenderjahres 2018 mit Ablauf des 31. Dezember 2021 eingetreten.



Das Arbeitsgericht hat weiter zugrunde gelegt, dass der Ablauf der Verjährung auch nicht durch die Einleitung des vorliegenden Verfahrens gehemmt worden sei. Durch den noch im Dezember 2021 eingereichten Mahnantrag hätte zwar die Verjährung der Zinsforderungen des Kalenderjahres 2018 gehemmt werden können, dies sei jedoch vorliegend nicht erfolgt, da der Mahnantrag nicht den Anforderungen von § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO entsprochen habe. Eine hinreichende Individualisierung habe gefehlt. In dem Mahnbescheid seien Verzugszinsrechnungen vom 05. Juli 2018 und vom 31. Dezember 2018 angegeben. Von diesen Daten gäbe es aber unstreitig keine Verzugszinsrechnungen. Durch die mit Schriftsatz vom 31. Januar 2022 zur Akte gereichten Zinsrechnungen seien zwar die Klageansprüche ab diesem Zeitpunkt hinreichend individualisiert, die zwischenzeitlich eingetretene Verjährung hätte hierdurch aber nicht rückwirkend abgewendet werden können.



Bezüglich der Einzelheiten der Argumentation des Arbeitsgerichts werden die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils in Bezug genommen.



Das Urteil des Arbeitsgerichts ist dem Kläger am 17. Mai 2022 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2022, eingegangen beim Hessischen Landesarbeitsgericht am 31. Mai 2022, hat der Kläger Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 15. Juli 2022 am 15. Juli 2022 begründet.



Der Kläger ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe die Klage zu Unrecht abgewiesen. Er vertritt die Auffassung, aufgrund der Regelungen des Gesetzes zur Sicherung der Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (SokaSiG) sei von der vierjährigen Verjährungsfrist auszugehen. Der VTV vom 28. September 2018 habe die gesetzlichen Regelungen nicht abändern können.



Weiterhin vertritt der Kläger die Auffassung, die Verjährung sei durch die Zustellung des Mahnbescheides, welche auf den Eingang des Mahnbescheids bei Gericht zurückwirke, § 167 ZPO, gehemmt. Eine hinreichende Individualisierung habe vorgelegen. Es sei zwischen den Parteien unstreitig, dass die streitgegenständlichen Forderungen geltend gemacht worden seien. Der Umstand, dass in dem Mahnbescheid unzutreffende Daten angegeben worden seien, sei unschädlich.



Hinsichtlich der genauen Begründung wird auf die Berufungsbegründungsschrift vom 15. Juli 2022, auf den Schriftsatz des Klägers vom 28. November 2022 und auf die Sitzungsniederschrift vom 10. Januar 2023 verwiesen.



Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 07. April 2022 ‒ 9 Ca 23/22 SK ‒ abzuändern und den Beklagte zu verurteilen, an ihn 14.570,94 EUR zu zahlen.



Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.



Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrags. Hinsichtlich der Einzelheiten seines Vorbringens im Berufungsrechtszug wird auf die Berufungserwiderungsschrift vom 16. August 2022 und auf die Sitzungsniederschrift vom 10. Januar 2023 verwiesen.



Entscheidungsgründe



I. Die gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wiesbaden vom 07. April 2022 ‒ 9 Ca 23/22 SK ‒ eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Das Rechtsmittel ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 b) ArbGG statthaft, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 600,- EUR übersteigt, es ist auch fristgerecht eingelegt und ordnungsgemäß begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 4 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.



II. Die Berufung ist teilweise begründet. Dem Kläger stehen Zinsansprüche i.H.v. 9.285,- EUR zu. Im Übrigen ist die verfolgte Zinsforderung verjährt.



1. Die Verjährungsfristen bezüglich der Zinsansprüche für die Kalenderjahre 2015 bis 2017 wurden mit Ablauf der Kalenderjahre 2015, 2016 und 2017 in Lauf gesetzt. Auch unter Berücksichtigung der längeren vierjährigen Verjährungsfrist trat mithin die Verjährung dieser Zinsansprüche mit Ablauf der Kalenderjahre 2019, 2020 und 2021 ein. Der Mahnbescheid vom 11. Januar 2022, der auch diese Ansprüche zum Inhalt hat, ist zwar ausweislich des Tatbestands des arbeitsgerichtlichen Urteils am 29. Dezember 2021 bei dem Arbeitsgericht Wiesbaden eingegangen und am 13. Januar 2022 dem Beklagten zugestellt worden, eine Hemmung der Verjährung im Sinne von § 204 Abs. 1 BGB Ist jedoch nicht eingetreten, da die mit dem Mahnbescheid geltend gemachten Forderungen nicht hinreichend individualisiert sind. Zwar wäre die Bezugnahme auf Rechnungen, die der Beklagte zuvor zur Kenntnis bekommen hat, u.U. für eine hinreichende Individualisierung ausreichend, allerdings gibt es keine Rechnungen von den, in dem Mahnbescheid bezeichneten konkreten Daten. Dies ist zwischen den Parteien unstreitig. Auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts wird insoweit verwiesen. Infolgedessen sind die in den Kalenderjahren 2015 bis 2017 entstandenen Zinsansprüche in einer Gesamthöhe von 5.285,94 EUR infolge von Verjährung erloschen. Hinsichtlich der Zusammensetzung dieses Betrags wird auf Blatt 19 bis 55 der Akte verwiesen.



2. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts sind jedoch die Zinsansprüche für das Kalenderjahr 2018 i.H.v. 9.285,- EUR nicht infolge von Verjährung erloschen, da weiterhin die vierjährige Verjährungsfrist von § 21 Abs. 4 des VTV vom 03. Mai 2013 i.V.m. seiner Allgemeinverbindlichkeitserklärung bzw. von § 7 Abs. 1 SokaSiG i.V.m. § 21 Abs. 4 des VTV vom 03. Mai 2013 zur Anwendung kommt und nicht die dreijährige Verjährungsfrist gemäß § 21 Abs. 4 des VTV vom 28. September 2018, der zum 01. Januar 2019 Kraft getreten ist.



Es bedarf an dieser Stelle keiner Entscheidung, ob die Vorschrift des § 7 SokaSiG, welche die Rechtsnormen des VTV für die Kalenderjahre 2006 bis 2018 mit Gesetzesrang versieht, verdeckt tarifdispositiv ist (so im Ergebnis Hessisches Landesarbeitsgericht 27. Mai 2022, 10 Sa 1272/21 SK) und den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit einräumt, rückwirkend in Ansprüche aus dem SokaSiG für die Kalenderjahre 2006 bis 2018 einzugreifen.



Entscheidend ist vorliegend vielmehr, dass der Betrieb des Beklagten zu keinem Zeitpunkt dem VTV vom 18. September 2018 unterfallen ist und dieser deshalb nicht zur Anwendung kommt.



Aus § 1 Abs. 3 des VTV in allen hier gegenständlichen Fassungen folgt, dass nur Betriebe dem Geltungsbereich des VTV unterfallen, die entweder gewerbliche Arbeitnehmer (Nr. 1) und/oder Angestellte (Nr. 2) und/oder dienstpflichtige Arbeitnehmer (Nr. 3) und/oder Auszubildende (Nr. 4) beschäftigen.



Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Beklagte seit dem Kalenderjahr 2017 keine gewerblichen Arbeitnehmer mehr beschäftigt. Anhaltspunkte, dass Personen im Sinne von § 1 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 VTV bei dem Beklagten nach diesem Zeitpunkt tätig geworden sind, sind nicht dargelegt.



Hieraus folgt, dass der Betrieb des Beklagten ab dem Kalenderjahr 2018 nicht mehr dem Geltungsbereich des VTV unterfallen ist. Unterfällt der Betrieb jedoch nicht dem Geltungsbereich eines nachfolgenden VTV, können Änderungen in dem nachfolgenden VTV bestehende Ansprüche, die im Geltungsbereich eines vorangehenden VTV erworben worden sind, nicht abändern. Für die Fragen von Verfall und Verjährung gilt nichts anderes (Hessisches Landesarbeitsgericht 23. August 2022 ‒ 12 Sa 244/22 SK).



III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 zweite Alt. ZPO.



IV. Die Zulassung der Revision ist nach § 72 Abs. 2 ArbGG nicht veranlasst.

Vorschriften§ 21 Abs. 4 des VTV, § 199 Abs. 1 BGB, § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, § 167 ZPO, §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 b) ArbGG, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 4 ArbGG, §§ 519, 520 Abs. 1, 3, 5 ZPO, § 204 Abs. 1 BGB, § 7 Abs. 1 SokaSiG, § 7 SokaSiG, § 1 Abs. 3 des VTV, § 1 Abs. 3 Nr. 2 bis 4 VTV, § 92 Abs. 1 Satz 1 zweite Alt. ZPO, § 72 Abs. 2 ArbGG