Urteil vom 28.02.2023 · IWW-Abrufnummer 235484
Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern - Aktenzeichen 5 Sa 142/22
Eine Arbeitnehmerin hat in der Regel keine Kenntnis von der drohenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Arbeitgeberin, wenn sie zum Zeitpunkt der Gehaltszahlung aufgrund ihrer Tätigkeit und ihrer Stellung im Unternehmen keinerlei Übersicht zur Liquiditätslage und zum Zahlungsverhalten des Schuldners hat und auch aus sonstigen Umständen nicht auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit schließen muss.
Tenor:
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 19.07.2022 - 6 Ca 1272/21 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit von Gehaltszahlungen.
Die Beklagte war langjährig bei der späteren Insolvenzschuldnerin als technische Zeichnerin in der Zweigstelle S-Stadt beschäftigt. In dem S. Büro waren regelmäßig fünf bis sechs Mitarbeiter tätig. Der Standortleiter Z. verfügte über Prokura. Die Beklagte firmierte zunächst unter "XXXXX E.". Gegenstand des Unternehmens waren Ingenieur- und Projektierungsleistungen sowie die Projektsteuerung auf den Gebieten der Wasserwirtschaft, des Bauwesens und des Maschinenbaus. Der Sitz des Unternehmens befand sich in H-Stadt (Saale).
Seit dem Jahr 2012 erhielt die Beklagte ihre Gehaltszahlungen, die zum 5. des Folgemonats fällig waren, teilweise stockend.
Am 26.04.2016 beschloss die Gesellschafterversammlung eine Änderung der Firma, die fortan "XXXXXX" lautete.
Mit Schreiben vom 02.03.2017 wandte sich die spätere Insolvenzschuldnerin wie folgt an die Beklagte:
"...
Gehaltszahlung
Sehr geehrte Frau ...,
Zum Stichtag 28.02.2017 bestehen bei Ihnen Gehaltsrückstände in Höhe von 1.499,74 EUR. Diesen Rückstand werden wir - beginnend ab 15.04.2017 - in 5 Monatsraten à 299,94 EUR ausgleichen.
Wir bitten um Ihr Verständnis und verbleiben
..."
Die Gehälter für die Monate Dezember 2015 bis April 2018 erhielt die Beklagte wie folgt:
Mit E-Mail vom 28.06.2016 wandte sich der Geschäftsführer der Insolvenzschuldnerin an sechs Mitarbeiter/innen der Zweigstelle S-Stadt mit der Bitte um Verständnis für die Verschiebung der für diesen Tag zugesagten Ratenzahlung auf den 01.07.2016. Zugleich informierte er darüber, wegen weiterer Gehaltszahlungen einen Kredit aufgenommen zu haben. Die Mail vom 28.06.2016 war zwar nicht an die Beklagte adressiert; dennoch erhielt sie Kenntnis hiervon.
Mit Schreiben vom 20.06.2018 stellte die XXXXX beim Amtsgericht Halle (Saale) Insolvenzantrag. Mit Beschluss vom 01.08.2018 eröffnete das Amtsgericht das Insolvenzverfahren und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter.
Zum 01.08.2018 wurden die Beklagte und weitere Mitarbeiter der Zweigstelle S-Stadt von der URAG Umwelt-, Recycling- und Abwassertechnologie GmbH übernommen, dessen Geschäftsführer ebenso wie bei der PROWA Herr M. H. war. Auf den Briefbögen der PROWA befand sich ein Hinweis auf die URAG, die dort als kooperierendes Unternehmen angegeben war. Über das Vermögen der URAG wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Halle (Saale) vom 01.03.2019, Az. 59 IN 18/19, das Insolvenzverfahren eröffnet. Seit dem 01.03.2019 ist die Beklagte bei der IPROconsult GmbH, Niederlassung S-Stadt, beschäftigt.
Mit Schreiben vom 19.03.2019 erklärte der Kläger gegenüber der Beklagten gemäß § 133 InsO die Anfechtung der Gehaltszahlungen für Januar 2017 und forderte die Rückzahlung von € 1.429,75 zur Insolvenzmasse. Unter dem 08.12.2021 erklärte der Kläger darüber hinaus die Insolvenzanfechtung eines Teils der Zahlung auf das Junigehalt 2016, und zwar in Höhe von € 847,34. Mit Vereinbarung vom 09.12.2021 trat der Insolvenzverwalter der URAG evtl. Anfechtungsansprüche wegen der hier streitgegenständlichen Gehaltszahlungen an den Kläger ab.
Der Kläger hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die Gehaltszahlungen im Umfang der Anfechtung zur Insolvenzmasse zurückzugewähren seien. Die Zahlungen seien von der URAG geleistet worden, und zwar in Form einer sogenannten Anweisung auf Schuld, wodurch das Vermögen der anweisenden Insolvenzschuldnerin geschmälert worden sei. Zwar seien im Januar 2016, März 2017 und September 2017 gestellte Insolvenzanträge letztlich wieder zurückgenommen worden. Die Insolvenzschuldnerin sei dennoch spätestens seit Beginn des Jahres 2016 nicht mehr in der Lage gewesen, die bestehenden Zahlungsverpflichtungen zum Zeitpunkt der Fälligkeit zu erfüllen. Sie habe die Forderungen der Sozialversicherungen und Finanzbehörden nicht mehr bedienen können. Den Zahlungslauf habe sie nicht mehr über eigene Konten, sondern über ein Konto der URAG abgewickelt. Es handele sich um inkongruente Leistungen. Die Beklagte habe den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Schuldnerin zum Zeitpunkt der Zahlungen gekannt. Das ergebe sich schon aus dem Zahlungsverhalten ihr gegenüber. Die Beklagte habe aufgrund der unternehmerischen Tätigkeit ihrer Arbeitgeberin davon ausgehen müssen, dass es noch weitere, nicht bediente Forderungen gebe. Allein im Jahr 2017 habe die Schuldnerin Gehälter in Höhe von insgesamt mindestens € 229.583,94 verspätet gezahlt, im 1. Halbjahr 2018 € 63.787,93. Es habe diverse Rechtsstreite wegen der Lohnrückstände gegeben. Die Insolvenzschuldnerin habe nicht einmal die Ratenvereinbarungen einhalten können. Es seien rund € 5.000.000 zur Insolvenztabelle angemeldet worden. Die Zahlungen von der URAG seien jedenfalls als Schenkung gegenüber der Beklagten anfechtbar, da es zum damaligen Zeitpunkt kein Rechtsverhältnis mit dieser Gesellschaft gegeben habe.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger € 2.227,09 netto nebst Zinsen i. H. v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB aus € 1.429,75 seit dem 09.04.2019 und aus weiteren € 847,34 seit dem 22.12.2021 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie habe keinerlei Kenntnis von den wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Arbeitgeberin gehabt. Ebenso wenig habe sie um die Benachteiligung von Gläubigern durch die Gehaltszahlungen gewusst. Erst recht nicht sei für die Beklagte erkennbar gewesen, dass die Insolvenzschuldnerin auch künftig nicht in der Lage sein werde, die Schulden zu begleichen. Üblicherweise seien Gehaltszahlungen gelegentlich von kooperierenden Unternehmen überwiesen worden. Die Beklagte habe nicht billigend in Kauf genommen, dass aufgrund der an sie geleisteten Gehaltszahlungen weitere Gläubiger leer ausgehen würden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass sich eine Kenntnis der Beklagten von einem etwaigen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Insolvenzschuldnerin nicht feststellen lasse. Es gebe keine Umstände, die eine solche Kenntnis vermuten lassen könnten. Der Beklagten seien zum Zeitpunkt der angefochtenen Zahlungen keine Tatsachen bekannt gewesen, aufgrund derer sie auf eine eingetretene oder drohende Zahlungsunfähigkeit habe schließen müssen. Kenntnisse von Zahlungsschwierigkeiten oder Zahlungsstockungen seien nicht ausreichend. Über Insiderkenntnisse zu den finanziellen Verhältnissen der Schuldnerin habe die Beklagte aufgrund ihrer Position als technische Zeichnerin nicht verfügt. Zudem habe sie nicht in der Zentrale in H-Stadt, sondern in der untergeordneten Außenstelle in S-Stadt gearbeitet.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Das Arbeitsgericht habe die vorgetragenen Umstände nicht umfassend und nicht widerspruchsfrei gewürdigt. Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners bestehe beim Gläubiger bereits dann, wenn dieser wisse, dass der Schuldner seine Zahlungen eingestellt habe. Bei unternehmerisch tätigen Schuldnern müsse der Gläubiger mit weiteren, ebenfalls nicht befriedigten Gläubigern rechnen. Die Insolvenzschuldnerin habe nicht einmal betriebsnotwendige Verbindlichkeiten, wie Löhne, Sozialversicherungsbeiträge, Steuerverbindlichkeiten, bei Fälligkeit bedient. Entgegen der Einschätzung des Arbeitsgerichts habe es sich gerade nicht nur um einen Liquiditätsengpass gehandelt. Zudem habe die Beklagte von den Lohnrückständen der anderen Mitarbeiter/innen in der Niederlassung S-Stadt gewusst. Das sei im Betrieb allgemein bekannt gewesen. Des Weiteren habe die Beklagte schon geraume Zeit die Löhne nicht mehr von ihrer Arbeitgeberin, sondern von Dritten erhalten. Ob es sich dabei um kooperierende Unternehmen gehandelt habe, sei unerheblich.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichtes Schwerin vom 19.07.2022 - 6 Ca 1272/21 - abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger € 2.227,09 netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB aus € 1.429,75 seit dem 09.04.2019 und aus weiteren € 847,34 seit dem 22.12.2021 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Nach wie vor habe der Kläger seine Behauptung, dass zum Zeitpunkt der Gehaltszahlungen keine Liquidität mehr vorhanden gewesen sei, nicht belegt. Eine Liquiditätsbilanz habe er ebenso wenig vorgelegt. Die Auftragslage in der Zweigstelle S-Stadt sei gut gewesen. Die wirtschaftliche Situation des Hauptbetriebs in H-Stadt habe die Beklagte nicht gekannt. Soweit der Kläger sich auf Außenstände bei betriebsnotwendigen Verpflichtungen, wie Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern, berufe, habe die Beklagte hiervon keine Kenntnis gehabt, sofern es solche zum Zeitpunkt der Gehaltszahlungen überhaupt gegeben habe. Weder die Geschäftsführung noch der Niederlassungsleiter in S-Stadt habe eine Zahlungsunfähigkeit der Schuldnerin angesprochen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle und das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht und mit der zutreffenden Begründung abgewiesen. Das Berufungsgericht macht sich die Ausführungen des Arbeitsgerichts zu eigen.
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus § 143 Abs. 1 Satz 1, § 133 Abs. 1 InsO auf Rückgewähr der anteiligen Gehaltszahlung für Juni 2016 und der Gehaltszahlungen für Januar 2017.
Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Insolvenzgläubiger benachteiligen, kann der Insolvenzverwalter unter bestimmten, gesetzlich näher beschriebenen Voraussetzungen anfechten (§ 129 Abs. 1 InsO). Nach § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO muss das, was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist, zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden.
Anfechtbar ist u. a. eine Rechtshandlung, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO). Diese Kenntnis wird vermutet, wenn der andere Teil wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO). Die Vorschrift schützt das Interesse der Gläubiger, dass der Schuldner ihre prinzipiell gleichen Befriedigungschancen nicht beeinträchtigt (BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 - IX ZR 178/16 - Rn. 17, juris = ZInsO 2017, 1881).
1.
Eine Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) liegt vor, wenn entweder die Schuldenmasse vermehrt oder die Aktivmasse verkürzt und dadurch der Gläubigerzugriff auf das Schuldnervermögen vereitelt, erschwert, gefährdet oder verzögert wird. Dies setzt voraus, dass die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die angefochtene Rechtshandlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gewesen wären (BGH, Urteil vom 12. Oktober 2017 - IX ZR 288/14 - Rn. 22, juris = ZInsO 2017, 2539; OLG Zweibrücken, Urteil vom 2. November 2022 - 7 U 78/21 - Rn. 53, juris = ZInsO 2022, 2584).
Wenn eine Zahlung von dem Konto eines Dritten an den Anfechtungsgegner erfolgt, äußert sich die Gläubigerbenachteiligung in der Weggabe der Zahlungsmittel an den Anfechtungsgegner, durch die entweder das auf dem Konto des Dritten befindliche Treugut des Schuldners vermindert und zugleich das für seine Verbindlichkeiten haftende Vermögen verkürzt wird oder der Dritte seine Verbindlichkeit gegenüber dem Schuldner tilgt und dieser dadurch unter Verkürzung des haftenden Vermögens seine Forderung gegen den Dritten verliert (Anweisung auf Schuld). Die Gesamtheit der Insolvenzgläubiger wird hingegen nicht benachteiligt, wenn ein Dritter eine Verbindlichkeit des späteren Insolvenzschuldners mit Mitteln begleicht, die nicht in dessen haftendes Vermögen gelangt sind. Bei einer Anweisung auf Kredit nimmt der Angewiesene die Zahlung an den Empfänger ohne eine Verpflichtung gegenüber dem Anweisenden vor, so dass er in Folge der Zahlung zum Gläubiger des Anweisenden wird. In diesem Fall scheidet eine Gläubigerbenachteiligung grundsätzlich aus, weil es durch die Zahlung lediglich zu einem Gläubigerwechsel in der Person des Angewiesenen kommt. Die Belastung der Masse mit dem Rückgriffsanspruch des Angewiesenen wird hier durch die Befreiung von der Schuld des Zahlungsempfängers ausgeglichen (BGH, Urteil vom 21. Juni 2012 - IX ZR 59/11 - Rn. 12, juris = NZI 2012, 805; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. November 2022 - 12 U 48/22 - Rn. 5, juris).
Zugunsten des Klägers kann zunächst davon ausgegangen werden, dass die angefochtenen Gehaltszahlungen am 19.09.2016, 24.04.2017, 09.06.2017 und 17.08.2017 allesamt von der URAG als so genannte Anweisung auf Schuld geleistet wurden und infolge des Vermögensabflusses zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO geführt haben.
2.
Zweifelhaft ist bereits, ob die Insolvenzschuldnerin bei Anweisung der Zahlungen den Vorsatz hatte, andere Gläubiger zu benachteiligen.
Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz ist gegeben, wenn der Schuldner die Benachteiligung der Gläubiger im Allgemeinen als Erfolg seiner Rechtshandlung gewollt oder als mutmaßliche Folge - sei es auch als unvermeidliche Nebenfolge eines an sich erstrebten anderen Vorteils - erkannt und gebilligt hat (BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 - IX ZR 130/21 - Rn. 9, juris = NJW 2023, 214; OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. November 2022 - 9 U 56/22 - Rn. 41, juris = ZInsO 2023, 427).
Bei den subjektiven Tatbestandsmerkmalen der Vorsatzanfechtung handelt es sich um innere, dem Beweis nur eingeschränkt zugängliche Tatsachen. Die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung können daher in aller Regel nur mittelbar aus objektiven (Hilfs-)Tatsachen hergeleitet werden. Maßgeblich sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls. Einzelne Beweisanzeichen dürfen dabei nicht schematisch angewandt werden (BGH, Urteil vom 23. Juni 2022 - IX ZR 75/21 - Rn. 18, juris = NJW-RR 2022, 1211; OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. November 2022 - 9 U 56/22 - Rn. 41, juris = ZInsO 2023, 427).
Die in Betracht kommenden Beweisanzeichen betreffen zum einen die wirtschaftliche Lage des Schuldners im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung. Erkennt ein Schuldner, dass er aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage nicht mehr alle seine Gläubiger wird befriedigen können, kann die Erfüllung einzelner Gläubigerforderungen mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz vorgenommen sein. Es ist aber nicht nur die wirtschaftliche Lage des Schuldners in den Blick zu nehmen. Auch Art und Weise der angefochtenen Rechtshandlung können für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz im Sinne des § 133 Abs. 1 InsO sprechen. So kann es insbesondere bereits im Vorfeld einer wirtschaftlichen Krise zu Vermögensverschiebungen - ggf. an nahestehende Dritte - kommen, die zur Benachteiligung der Gläubigergesamtheit vorgenommen werden (BGH, Urteil vom 3. März 2022 - IX ZR 53/19 - Rn. 12, juris = NJW 2022, 1457). Weitere Beweisanzeichen, die für eine Annahme der subjektiven Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO streiten, sind die Übertragung des letzten werthaltigen Gegenstands auf einen Dritten oder die Gewährung eines Sondervorteils für den Fall der Insolvenz (BGH, Urteil vom 3. März 2022 - IX ZR 53/19 - Rn. 11, juris = NJW 2022, 1457).
Zahlungsunfähig ist der Schuldner, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen; Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat (§ 17 Abs. 2 InsO). Zahlungseinstellung ist dasjenige nach außen hervortretende Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise ausdrückt, dass er nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Die tatsächliche Nichtzahlung eines erheblichen Teils der fälligen Verbindlichkeiten reicht für eine Zahlungseinstellung aus. Das gilt selbst dann, wenn tatsächlich noch geleistete Zahlungen beträchtlich sind, aber im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen. Die Nichtzahlung einer einzigen Verbindlichkeit kann eine Zahlungseinstellung begründen, wenn die Forderung von insgesamt nicht unbeträchtlicher Höhe ist (BGH, Urteil vom 28. April 2022 - IX ZR 48/21 - Rn. 27, juris = NJW 2022, 2411).
Kennt der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit, kann daraus auf einen Benachteiligungsvorsatz geschlossen werden. In diesem Fall handelt der Schuldner dann nicht mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er aufgrund konkreter Umstände - etwa der sicheren Aussicht, demnächst Kredit zu erhalten oder eine Forderung realisieren zu können - mit einer baldigen Überwindung der Krise rechnen kann (BGH, Urteil vom 13. Oktober 2022 - IX ZR 130/21 - Rn. 29, juris = NJW 2023, 214).
Für die Darlegung der Zahlungsunfähigkeit bedarf es einer geordneten Gegenüberstellung der zu berücksichtigenden fälligen Verbindlichkeiten und liquiden Mittel des Schuldners, etwa in Form einer Liquiditätsbilanz. Von einer Zahlungsunfähigkeit ist danach regelmäßig auszugehen, wenn die Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zuzumuten ist (BGH, Urteil vom 28. April 2022 - IX ZR 48/21 - Rn. 24, juris = NJW 2022, 2411).
Zahlungsverzögerungen allein, auch wenn sie wiederholt auftreten, reichen für eine Zahlungseinstellung häufig nicht. Es müssen dann Umstände hinzutreten, die mit hinreichender Gewissheit dafürsprechen, dass die Zahlungsverzögerung auf fehlender Liquidität des Schuldners beruht. Solche Umstände können darin zu sehen sein, dass der Schuldner Forderungen solcher Gläubiger nicht begleicht, auf deren (weitere) Leistungserbringung er zur weiteren Aufrechterhaltung seines Geschäftsbetriebs angewiesen ist. Ferner kann der Mahn- und/oder Vollstreckungsdruck des Gläubigers der Zahlungsverzögerung ein größeres Gewicht verleihen. Ein schematisches Vorgehen verbietet sich. Maßgebend ist, dass die zusätzlichen Umstände im konkreten Einzelfall ein Gewicht erreichen, das der Erklärung des Schuldners entspricht, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können (BGH, Urteil vom 28. April 2022 - IX ZR 48/21 - Rn. 29, juris = NJW 2022, 2411).
Ob die Insolvenzschuldnerin nach diesen Maßstäben bereits zu den Zeitpunkten der Gehaltszahlungen an die Beklagte am 19.09.2016, 24.04.2017, 09.06.2017 und 17.08.2017 zahlungsunfähig war und darum wusste, vermag das Gericht nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit festzustellen. Die spätere Insolvenzschuldnerin war zu diesem Zeitpunkt jedenfalls noch bestrebt, die Krise abzuwenden, und ging davon aus, (weiteren) Kredit aufnehmen zu können und zu erhalten (vgl. E-Mail vom 28.06.2016). Jedenfalls gelang es ihr, ihre wirtschaftliche Lage zumindest soweit zu stabilisieren, um die in diesem Zeitraum gestellten Insolvenzanträge wieder aus der Welt schaffen zu können. Letztlich ist eine Sanierung des Unternehmens zwar nicht gelungen. Ob das von vornherein absehbar war, ist allerdings nicht ersichtlich.
3.
Selbst wenn die Insolvenzschuldnerin schon in der Zeit von September 2016 bis August 2017 zahlungsunfähig gewesen sein und sie dies gewusst haben sollte, fehlt es jedenfalls an einer Kenntnis der Beklagten bezogen auf den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz der Insolvenzschuldnerin.
Die Kenntnis des anderen Teils vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners wird vermutet, wenn er wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte. Für die Vermutung der Kenntnis des Anfechtungsgegners nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO genügt, dass der Anfechtungsgegner die tatsächlichen Umstände kennt, aus denen bei zutreffender rechtlicher Bewertung die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zum Zeitpunkt der angefochtenen Zahlungen (§ 140 InsO) zweifelsfrei folgt (BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 - IX ZR 178/16 - Rn. 12, juris = ZInsO 2017, 1881; OLG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30. November 2022 - 9 U 56/22 - Rn. 65, juris = ZInsO 2023, 427).
Ein Gläubiger eines gewerblich tätigen Schuldners muss grundsätzlich damit rechnen, dass es weitere Gläubiger mit offenen Rechnungen gibt. Das konkrete Zahlungsverhalten gegenüber anderen Gläubigern kennt er jedoch regelmäßig nicht noch hat er einen Überblick über die Liquiditätslage des Schuldners und dessen Zahlungsverhalten bzw. Einblick in dessen Geschäftsunterlagen (BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 - IX ZR 178/16 - Rn. 19, juris = ZInsO 2017, 1881). Arbeitnehmer haben grundsätzlich keine Beobachtungs- und Erkundigungsobliegenheiten, die bei institutionellen Gläubigern (z. B. Fiskus, Sozialversicherung) zu berücksichtigen sein können (BGH, Urteil vom 3. März 2022 - IX ZR 53/19 - Rn. 31, juris = NJW 2022, 1457).
Die Beklagte wusste bei Entgegennahme der Gehaltszahlungen für Juni 2016 und Januar 2017 nicht, dass bereits zu diesem Zeitpunkt die Zahlungsunfähigkeit ihrer Arbeitgeberin drohte. Sie wusste zwar, dass sie Gehaltszahlungen nicht nur von ihrer Arbeitgeberin, sondern auch von Dritten bekam (Überweisungsbetreff: "Verauslagung für PROWA GmbH"). Soweit im Überweisungsbetreff allerdings "Gehalt ... PROWA" vermerkt war, durfte sie diese Zahlung ihrer eigenen Arbeitgeberin zuordnen. Die Beklagte musste nicht überprüfen und ggf. nachforschen, ob diese Zahlungen tatsächlich von einem Konto kamen, dessen Inhaberin die Insolvenzschuldnerin war. Der Blick auf den Verwendungszweck genügte. Abgesehen davon ist Arbeitnehmern üblicherweise gar nicht bekannt, über welche Konten ihre Arbeitgeberin verfügt und für welche Zahlungen sie welche Konten verwendet.
Trotz der teilweise stockenden und verspäteten Gehaltszahlungen musste die Beklagte nicht von einer drohenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Arbeitgeberin ausgehen. Die Beklagte hatte bereits über mehrere Jahre hinweg, d. h. ab dem Jahr 2012, ihr Gehalt zum Teil unpünktlich erhalten. Zu einer Einstellung der Betriebstätigkeit hatten diese Liquiditätsengpässe bislang nicht geführt. Die Beklagte hatte sich mit den langjährigen Zahlungsverzögerungen abgefunden, zumal sie ihr Gehalt, wenn auch verzögert, letztlich erhielt. Dennoch gab es auch im Zeitraum 2016/2017 durchaus pünktliche Gehaltszahlungen (z. B. 07/2016, 06/2017, 07/2017) bzw. nur geringfügig, d. h. um nicht mehr als zwei Wochen, verspätete Gehaltszahlungen (z. B. 02/2016, 05/2016, 03/2017, 04/2017, 05/2017, 08/2017). Ab Frühjahr 2017 erfolgten die Gehaltszahlungen sogar deutlich pünktlicher als noch im Jahr zuvor. Aus Sicht der Beklagten sprach dieser Umstand eher für eine positive wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens. Auch waren Ratenzahlungen in diesem Zeitraum eine Ausnahme.
Soweit der Beklagten die stockenden Gehaltszahlungen bei den anderen Mitarbeitern der Niederlassung S-Stadt bekannt waren, ergibt sich daraus in der Gesamtschau ebenfalls kein zweifelsfreier Rückschluss auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit. Die Beklagte hatte als technische Zeichnerin keinerlei Einblick in die finanziellen Verhältnisse der Niederlassung S-Stadt und erst recht nicht in diejenigen des Unternehmens. Einschätzen konnte sie allenfalls die Auftragslage in der Niederlassung S-Stadt. Anhaltspunkte für eine defizitäre Lage dieser Niederlassung hatte sie nicht. Zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des in H-Stadt (Saale) ansässigen Unternehmens hatte sie keinerlei Erkenntnisse. Ebenso wenig waren ihr Insolvenzanträge aus den Jahren 2016/2017 bekannt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.