Urteil vom 12.01.2023 · IWW-Abrufnummer 235674
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 5 Sa 903/22
1. § 46 c ArbGG und § 4 ERVV schreiben nicht vor, dass mehrere elektronische Dokumente auf dem sicheren Übermittlungsweg in getrennten Sendungen übermittelt werden müssen, selbst dann nicht, wenn sie verschiedene Verfahren betreffen.
2. Die Frist des § 234 ZPO beginnt mit dem Tage, an dem das Hindernis behoben ist ( § 234 Absatz 2 ZPO ). Das ist der Fall, wenn die Partei oder ihr Vertreter ( § 85 Absatz 2 ZPO ) erkannt hat oder bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können, dass ein Wiedereinsetzungsantrag erforderlich ist.
3. Stellt der Prozessbevollmächtigte nach Ablauf der Einspruchsfrist fest, an das Arbeitsgericht während der Einspruchsfrist mittels des beA an Stelle des Einspruchsschriftsatzes versehentlich einen ein anderes Verfahren betreffenden Schriftsatz übersendet zu haben, beginnt hiermit die Frist nach § 234 ZPO zu laufen. Auf die nachgeholte Übersendung des Einspruchsschriftsatzes ist § 46 c Absatz 6 ArbGG nicht anzuwenden. Allein hierin ist auch kein Wiedereinsetzungsantrag zu sehen.
in Sachen
hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, 5. Kammer,
auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2023
durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht ... als Vorsitzenden
sowie den ehrenamtlichen Richter ... und die ehrenamtliche Richterin ...
für Recht erkannt:
Tenor:
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 11. Juli 2022 - 65 Ca 80649/21 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
II. Die Revision der Beklagten wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Zahlung von Verzugszinsen für Sozialkassenbeiträge für gewerbliche Arbeitnehmer.
Der Kläger ist als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach näherer tariflicher Maßgabe die Einzugsstelle für die Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes. Die Beklagte unterhält einen Betrieb, durch den unter anderem Rollläden in Alt- und Neubauten eingebaut, erneuert und ertüchtigt werden.
Mit Versäumnisurteil vom 31. März 2022 verurteilte das Arbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung nach Auffassung des Klägers ihm gemäß § 20 des allgemeinverbindlichen Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) zustehender Verzugszinsen betreffend nicht oder verspätet gezahlter Sozialkassenbeiträge für die Monate Dezember 2013 bis November 2018 in der Gesamthöhe von ... Euro. Das Versäumnisurteil wurde der Beklagten am 6. April 2022 zugestellt. Der Prozessbevollmächtigte verfasste einen Einspruchsschriftsatz mit Datum vom 13. April 2022, den er um 23.37 Uhr einscannte und sodann mittels des besonderen elektronischen Anwaltspostfaches (beA) an das Arbeitsgericht senden wollte. Versehentlich fügte er jedoch der um 23.59 Uhr abgesendeten beA-Nachricht einen Schriftsatz zu einem in anderer Sache geführten Verfahren an. Dies fiel ihm kurz danach auf und er sendete am 14. April 2022 um 00.17 Uhr den Einspruchsschriftsatz vom 13. April 2022 an das Arbeitsgericht.
Mit dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 25. Juni 2022 zugegangenem Schreiben wies ihn das Arbeitsgericht darauf hin, dass es den Einspruch als verspätet ansehe. Am 4. Juli 2022 beantragte der Prozessbevollmächtigte daraufhin beim Arbeitsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Mit Urteil vom 11. Juli 2022 hat das Arbeitsgericht den Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 31. März 2022 unter Zurückweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der gegen das am 6. April 2022 zugestellte Versäumnisurteil gerichtete Einspruchsschriftsatz sei am 14. April 2022 und damit verspätet eingegangen. Dass der Prozessbevollmächtigte innerhalb der Einspruchsfrist versehentlich ein Dokument zu einem anderen Verfahren übersendet habe, sei nicht als unverschuldet anzusehen, weshalb der Wiedereinsetzungsantrag zurückzuweisen sei.
Gegen dieses ihr am 20. Juli 2022 zugestellte Urteil richtet sich die am Montag, dem 22. August 2022 als elektronisches Dokument gemeinsam mit der Berufungsschrift zu einem anderen Verfahren in einer beA-Sendung eingegangene und am 19. September 2022 begründete Berufung der Beklagten. Sie trägt vor, das Arbeitsgericht habe nicht von einer Verspätung des Einspruchs ausgehen dürfen, weil der der versehentlichen Übersendung eines anderen Schriftsatzes sogleich nachfolgenden, selbst allerdings nicht mehr fristgerechten Einspruchsschrift die Bedeutung der Korrektur der bei der Übersendung vom 13. April 2022 um 23.59 Uhr ersichtlich verfehlten Anlage zukomme. Jedenfalls habe das Arbeitsgericht die Anforderungen an die anwaltliche Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Bearbeitungsdauer bei Versendung eines elektronischen Dokuments mittels des beA überspannt und habe deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligen müssen. Bereits in der Übersendung des Einspruchsschriftsatzes am 14. April 2022 sei auch ein Wiedereinsetzungsantrag zu sehen. Das Arbeitsgericht habe deshalb auf den Einspruch in die Sachprüfung einsteigen und die Klage abweisen müssen, weil der Rollladenbau keine baugewerbliche Tätigkeit im Sinne des VTV darstelle. Davon sei in Anwendung der Baubetriebeverordnung auch die zuständige Arbeitsagentur ausgegangen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 11. Juli 2022, 65 Ca 80649/21, abzuändern und die Klage unter Aufhebung des Versäumnisurteils vom 31. März 2022 abzuweisen
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, der Prozessbevollmächtigte habe bei der beabsichtigten Versendung des Einspruchsschriftsatzes kurz vor Ablauf der Einspruchsfrist die dabei erforderliche besonders hohe Sorgfalt nicht walten lassen. Er habe insbesondere den zur Absendung vorgesehenen Schriftsatz nicht noch einmal überprüft. Zudem habe er den gefertigten Schriftsätzen keine zur eindeutigen Identifizierung geeigneten Dateibezeichnungen gegeben. Im Übrigen falle der Betrieb der Beklagten unter § 1 Absatz 2 Abschnitt II VTV und sei deshalb zur Zahlung der den streitigen Verzugszinsen zugrundeliegenden Sozialkassenbeiträge verpflichtet.
Wegen des weiteren Vortrages der Parteien in der zweiten Instanz wird auf die Schriftsätze und Anlagen der Beklagten vom 19. September 2022 (Blatt 162 bis 172 der Akte) und vom 23 November 2022 (Blatt 200 bis 206 der Akte), des Klägers vom 26. Oktober 2022 (Blatt 190 bis 198 der Akte) sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12. Januar 2023 (Blatt 208 bis 209 der Akte) verwiesen.
Entscheidungsgründe
I. Die Berufung ist gemäß §§ 8 Absatz 2, 64 Absatz 2 Buchstabe b) und Absatz 6, 66 Absatz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), 519 Zivilprozessordnung (ZPO) statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt worden. Dass sie dem Landesarbeitsgericht mit einer beA-Nachricht zusammen mit der Berufungsschrift zu einem anderen Verfahren zugeleitet wurde, ist unschädlich. § 46 c Absatz 1 ArbGG schreibt vor, dass vorbereitende Schriftsätze und schriftlich einzureichende Anträge als elektronisches Dokument einzureichen sind. Ist es - wie hier - nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen, ist es gemäß § 46 c Absatz 3 Satz 1 Alternative 2 ArbGG - wie geschehen - auf einem sicheren Übermittlungsweg einzureichen. Nicht vorgeschrieben ist, dass jedes elektronische Dokument auf dem sicheren Übermittlungsweg in getrennten Sendungen übermittelt wird, selbst dann nicht, wenn verschiedene Verfahren betroffen sind. Auch § 4 Elektronischer Rechtsverkehr Verordnung (ERVV) schließt das nicht aus. Gemäß § 4 Absatz 2 ERVV ist es lediglich unzulässig, mehrere elektronische Dokumente mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu übermitteln. Die gemeinschaftliche Übersendung mittels eines sicheren Übermittlungsweges ist nicht ausgeschlossen.
Die Berufung wurde auch gemäß §§ 64 Absatz 6 ArbGG, 520 Absatz 3 ZPO ausreichend begründet.
II. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Jedenfalls im Ergebnis zu Recht hat das Arbeitsgericht den Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 31. März 2022 als verspätet angesehen und unter Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrages vom 4. Juli 2022 als unzulässig verworfen.
1. Der Einspruchsschriftsatz vom 13. April 2022 ist beim Arbeitsgericht verspätet eingegangen. Gemäß § 338 ZPO, § 59 Satz 1 ArbGG ist der Einspruch gegen ein Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts binnen einer Notfrist von einer Woche nach seiner Zustellung einzulegen. Die Zustellung des Versäumnisurteils vom 31. März 2022 bei der Beklagten erfolgte gegen Empfangsbekenntnis ihres Prozessbevollmächtigten am 6. April 2022 (§ 172 ZPO). Die Einspruchsfrist lief daher mit dem 13. April 2022 ab. Bis zu ihrem Ablauf ist bei dem Arbeitsgericht kein gegen das Versäumnisurteil vom 31. März 2022 gerichteter Einspruchsschriftsatz der Beklagten eingegangen. Vielmehr ging nach unstreitigem Vortrag der Beklagten am 13. April 2022 bei dem Arbeitsgericht ein von dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten verfasster Berufungsschriftsatz zu einem anderen Verfahren ein. Erst am 14. April 2022 um 00.17 Uhr und damit außerhalb der Einspruchsfrist ging ausweislich des aktenkundigen Prüfvermerks vom 14. April 2022 der Einspruchsschriftsatz der Beklagten vom 13. April 2022 ein. Daran ändert entgegen der Auffassung der Beklagten der Umstand nichts, dass vom Prozessbevollmächtigten der Beklagten bei der Versendung des am 13. April 2022 eingegangenen Berufungsschriftsatzes über das beA das Geschäftszeichen des arbeitsgerichtlichen Verfahrens angegeben wurde. Denn für den Eingang kommt es auf den Inhalt des elektronischen Dokumentes selbst und nicht auf das bei Versand angegebene Geschäftszeichen an. Nach § 46 c Absatz 5 Satz 1 ArbGG ist ein elektronisches Dokument eingegangen, sobald es auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung des Gerichts gespeichert ist. Dies erfolgte hinsichtlich des Einspruchsschriftsatzes vom 13. April 2022 erst am 14. April 2022. Eine Rückwirkung des Eingangszeitpunktes sieht § 46 c Absatz 5 ArbGG nicht vor, auch nicht für den Fall der aus Gründen eines vorangehenden Übersendungsfehlschlages erneut vorgenommenen Übersendung. Lediglich für den Fall, dass ein elektronisches Dokument für das Gericht zur Bearbeitung nicht geeignet ist, ist nach § 46 c Absatz 6 ArbGG eine Rückwirkung des Eingangs später in bearbeitbarer Form versendeter elektronischer Dokumente unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen hier nicht vor.
2. Ob die Fristversäumung auf einem der Beklagten gemäß § 85 Absatz 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruhte, kann letztlich dahinstehen. Die Beklagte hat den Wiedereinsetzungsantrag vom 4. Juli 2022 nicht innerhalb der Frist des § 234 Absatz 1 ZPO gestellt, weshalb er ohnehin nicht zur Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist führen konnte.
a) Die Frist des § 234 ZPO beginnt mit dem Tage, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Absatz 2 ZPO). Das ist der Fall, wenn die Partei oder ihr Vertreter (§ 85 Absatz 2 ZPO) erkannt hat oder bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können, dass ein Wiedereinsetzungsantrag erforderlich ist (BAG, Beschluss vom 23. Mai 1989 - 2 AZB 1/89 -, Randnummer 10; BGH, Beschluss vom 25. Mai 1994 - XII ZB 31/94 -, Randnummer 11). Vorliegend erkannte der Prozessbevollmächtigte am 14. April 2022, dass die Übersendung des Einspruchsschriftsatzes vom 13. April 2022 an das Arbeitsgericht am 13. April 2022 um 23.59 Uhr nicht erfolgt war. Es gab auch keinen Anlass für den Prozessbevollmächtigten der Beklagten, bei der am 14. April 2022 erfolgten Absendung des Einspruchsschriftsatzes anzunehmen, dessen Eingang bei Gericht könne auf den 13. April 2022 zurückwirken. Wie bereits ausgeführt gibt es keine prozessualen Vorschriften, die das für die vorliegende Fallgestaltung vorsehen. Die Beklagte führt in der Berufungsbegründung auch nicht an, welche rechtlichen Erwägungen ihren Prozessbevollmächtigten zu dieser Annahme veranlassten. Bei Anwendung der unter den gegebenen Umständen von ihm zu erwartenden anwaltlichen Sorgfalt hätte er die eingetretene Säumnis bereits am 14. April 2022 erkennen können und den Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 234 ZPO bis zum 28. April 2022 stellen müssen. Dass ihn das Arbeitsgericht erst mit ihm am 25. Juni 2022 zugegangenem Schreiben auf die Verspätung hinwies, ändert daran nichts.
b) Entgegen der in der Berufungsverhandlung von der Beklagten geäußerten Auffassung kann nicht in der Übersendung des Einspruchsschriftsatzes am 14. April 2022 zugleich ein konkludent gestellter Wiedereinsetzungsantrag gesehen werden. Innerhalb der Wiedereinsetzungsantragsfrist des § 234 ZPO sind gemäß § 236 Absatz 2 ZPO einerseits der Wiedereinsetzungsantrag nebst Glaubhaftmachung zu stellen und andererseits die versäumte Prozesshandlung nachzuholen. Daraus folgt, dass in der Vornahme der versäumten Prozesshandlung nicht zugleich der Wiedereinsetzungsantrag gesehen werden kann. Selbst wenn wie im vorliegenden Fall aufgrund der innerhalb der Einspruchsfrist fehlgegangenen Sendung objektiv erkennbar war, dass die Übersendung vom 14. April 2022 wiederholt vorgenommen wurde, deutete nichts darauf hin, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten, der nach Vortrag der Beklagten selbst nicht von einer Versäumung der Einspruchsfrist ausging, mit der Einspruchsschrift auch einen Wiedereinsetzungsantrag stellen wollte.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Absatz 1 ZPO.
IV. Gründe im Sinne von § 72 Absatz 2 ArbGG dafür, die Revision der Beklagten zuzulassen, liegen nicht vor.
Verkündet am 12. Januar 2023