Beschluss vom 05.05.2023 · IWW-Abrufnummer 235677
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 26 Ta (Kost) 6221/21
1. Zur Berechnung des Gegenstandswerts sind zunächst die einzelnen Anträge zu bewerten. Sodann ist ein Gesamtgegenstandswert zu bilden. Bei der Bildung des Gesamtgegenstandswerts ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Werte für die einzelnen Anträge zusammenzurechnen sind.
2. Bei der Frage, ob und in welchem Umfang Kündigungsschutzanträge zusammenzurechnen sind, kommt es darauf an, ob und inwieweit über sie entschieden worden ist oder sie Gegenstand eines Vergleichs geworden sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, inwieweit wirtschaftlich derselbe Streitgegenstand betroffen ist.
3. Auch wenn die Parteien sich nicht auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem mit einer vorsorglichen Kündigung vorgesehenen Beendigungstermin einigen, kann oft davon ausgegangen werden, dass in einem Auflösungsvergleich sämtliche in das Verfahren eingeführte Beendigungstatbestände mitgeregelt worden sind. Gegenstand der Vergleichsverhandlungen sind meist alle Beendigungstatbestände. Der gewählte Beendigungszeitpunkt wirkt sich im Rahmen des "Gesamtpakets" aus, in das meist sämtliche Beendigungstatbestände als wertbildende Faktoren einfließen und damit jedenfalls materiell im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 2 iVm. Abs. 4 GKG mit geregelt werden
4. Regelmäßig anders sind die Fälle zu bewerten, in denen sich die Parteien - wie hier - auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem früheren Kündigungstermin einigen, ohne dass nennenswerte sonstige Leistungen seitens des Arbeitgebers in dem Vergleich (Gesamtpaket) enthalten sind.
Tenor:
Auf die Beschwerde der Landeskasse wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 14. September 2021 - 29 Ca 12308/20 - abgeändert und der Gegenstandswert für das Verfahren und den Vergleich auf 13.860,15 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
Die Parteien haben ua über die Wirksamkeit von zwei Kündigungen gestritten, die zum 30. November 2020 und zum 30. April 2021 ausgesprochen worden waren. Die Parteien haben einen Vergleich geschlossen, in dem sie sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. November 2020 geeinigt und eine Abfindung vereinbart haben, die die Klägerin als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anmelden dürfe. Außerdem haben sie Feststellungen zu Annahmeverzugsansprüchen als Masseverbindlichkeiten getroffen.
Das Arbeitsgericht hat bei der Berechnung des Gegenstandswerts für jede Kündigung ein Vierteljahreseinkommen angesetzt.
Die Landeskasse begehrt im Rahmen der Beschwerde die Herabsetzung des Gegenstandswerts auf ein Vierteljahreseinkommen, da die Folgekündigung mit einem Hilfsantrag angegriffen worden sei, über den nicht entschieden worden und die auch nicht zum Gegenstand des Vergleichs gemacht worden sei.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Werte für die Kündigungsschutzanträge sind nicht zusammenzurechnen.
1) Zur Berechnung des Gegenstandswerts sind zunächst die einzelnen Anträge zu bewerten. Sodann ist ein Gesamtgegenstandswert zu bilden. Bei der Bildung des Gesamtgegenstandswerts ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Werte für die einzelnen Anträge zusammenzurechnen sind.
In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist, § 39 Abs. 1 GKG. Die Werte von Haupt- und Hilfsanträgen sind zusammenzurechnen, soweit auch über den Hilfsantrag eine Entscheidung ergeht, § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG, oder der Rechtsstreit auch insoweit durch Vergleich erledigt wird, § 45 Abs. 4 GKG. Dies gilt allerdings wiederum dann nicht, wenn die Anträge denselben Gegenstand betreffen; dann ist nur der höhere Wert maßgebend, § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Unter dem Begriff "Gegenstand" in § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG ist nicht der Streitgegenstand iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu verstehen. Der "Gegenstand" iSd. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG ist nicht mit dem Streitgegenstand in § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO identisch. Ob unterschiedliche (prozessuale) Streitgegenstände vorliegen, ist danach für die Frage des Additionsverbots nach § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG unerheblich (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 14. Dezember 2018 - 26 Ta (Kost) 6136/18, Rn. 6). Bei dem Begriff des Gegenstands in § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG handelt es sich vielmehr um einen selbstständigen kostenrechtlichen Begriff, der eine wirtschaftliche Betrachtung erfordert. Eine Zusammenrechnung hat dort zu erfolgen, wo eine wirtschaftliche Werthäufung entsteht (vgl. BGH 24. Januar 2019 - IX ZR 110/17, Rn. 3; 12. September 2013 - I ZR 61/11, Rn. 6). Der Grundsatz, wonach der Begriff des kostenrechtlichen "Gegenstands" nicht mit dem des (prozessualen) Streitgegenstands übereinstimmt, gilt nicht nur für § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG, sondern auch bereits für § 39 Abs. 1 GKG (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 5. August 2022 - 26 Ta (Kost) 6047/22, Rn. 6).
2) Hier geht es um zwei Kündigungsschutzanträge. Kündigungsschutzanträge werden maximal mit einem Vierteljahreseinkommen bewertet, § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG.
3) Bei der Frage, ob und in welchem Umfang Kündigungsschutzanträge zusammenzurechnen sind, kommt es nach den unter 1) dargelegten Grundsätzen darauf an, ob und inwieweit über sie entschieden worden ist oder sie Gegenstand eines Vergleichs geworden sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, inwieweit wirtschaftlich derselbe Streitgegenstand betroffen ist.
a) Das Arbeitsgericht hat über die Anträge nicht entschieden. Die Parteien haben einen Vergleich geschlossen, in dem sie sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30. November 2020 geeinigt haben, also auf den Zeitpunkt, zu dem die erste Kündigung vom 27. August 2020 ausgesprochen worden war. Der Vergleich enthält weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Regelung über die zum 30. April 2021 ausgesprochene Folgekündigung.
aa) Auch wenn die Parteien sich nicht auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem mit einer vorsorglichen Kündigung vorgesehenen Beendigungstermin einigen, kann allerdings oft davon ausgegangen werden, dass in einem Auflösungsvergleich sämtliche in das Verfahren eingeführte Beendigungstatbestände mitgeregelt worden sind. Gegenstand der Vergleichsverhandlungen sind meist alle Beendigungstatbestände. Der gewählte Beendigungszeitpunkt wirkt sich im Rahmen des "Gesamtpakets" aus, in das meist sämtliche Beendigungstatbestände als wertbildende Faktoren einfließen und damit jedenfalls materiell im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 2 iVm. Abs. 4 GKG mit geregelt werden (vgl. LAG Baden-Württemberg 2. September 2016 - 5 Ta 101/16, Rn. 20; LAG Berlin-Brandenburg 19. Mai 2021 - 17 Ta (Kost) 6041/21). Recht eindeutig ist das zB der Fall, wenn die für die Unwirksamkeit einer ersten Kündigung sprechenden Gesichtspunkte bereits in Parallelverfahren festgestellt worden sind oder die Unwirksamkeit der Kündigung sich offensichtlich aus formellen Gründen ergibt, die Parteien sich aber dennoch auf den mit dieser Kündigung beabsichtigten - früheren - Auflösungstermin einigen (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 24. Januar 2022 - 26 Ta (Kost) 6108/21, Rn. 20) und die Parteien eine Abfindung und/oder eine andere für die klägerische Partei vorteilhafte Regelung im Rahmen des "Gesamtpakets" treffen.
bb) Regelmäßig anders sind die Fälle zu bewerten, in denen sich die Parteien auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem früheren Kündigungstermin einigen, ohne dass nennenswerte sonstige Leistungen seitens des Arbeitgebers in dem Vergleich (Gesamtpaket) enthalten sind. Das spricht dann dafür, dass die weitere Kündigung auch aus Sicht der Parteien im Rahmen des Vergleichsabschlusses ohne relevante Bedeutung war, weil sie von der Wirksamkeit der ersten Kündigung ausgegangen sind oder ein Erfolg mit dem die erste Kündigung betreffenden Kündigungsschutzantrag keine nennenswerten wirtschaftlichen Auswirkungen für die klagende Partei gehabt hätte.
cc) So liegt der Sachverhalt hier. Die Parteien haben den ersten Kündigungstermin als Beendigungstermin vereinbart. Die sonstigen Regelungen in dem Vergleich waren für die Klägerin wirtschaftlich ohne nennenswerten Wert.
Die Parteien haben im Rahmen der Regelung unter Nr. 2 des Vergleichs eine reine Abwicklungsregelung getroffen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Vergleichs insoweit etwas geregelt worden wäre, was ein Streitpotential in sich getragen hat. Es gibt keine Hinweise darauf, dass unter den Parteien Streit oder Unsicherheit darüber bestanden hat, ob für die Zeit des Annahmeverzugs eine Masseverbindlichkeit begründet worden ist. Das kann auch nicht ernsthaft bezweifelt werden (vgl. dazu zB BAG 4. Juni 2003 - 10 AZR 586/02, Rn. 30). Zu einer Quote ist nichts geregelt. Unabhängig davon handelte es sich hier um einen Fall, bei dem auch eine nur geringe Realisierbarkeit der Vergütungsforderung zweifelhaft erscheint und daher auch eine wirtschaftliche Bewertung anzustellen wäre (vgl. dazu ausführlich LAG Berlin-Brandenburg 5. Juni 2019 26 Ta (Kost) 6036/19, Rn. 9 ff., mwN).
Auch die unter Nr. 3 des Vergleichs getroffene Abfindungsvereinbarung ist für die Klägerin ohne nennenswerten Vorteil. Nach den im Verfahren 6 AZR 441/21 (Urteil vom 25. August 2022) durch die Vorinstanzen getroffenen Feststellungen zur Neumasseunzulänglichkeit konnte und kann es nur noch um eine geordnete Abwicklung durch den Beklagten gehen. Selbst Neumasseverbindlichkeiten werden danach kaum noch mit einer bedeutenden Quote befriedigt werden können, da das Bundesarbeitsgericht in der zitierten Entscheidung das durch den Beklagten praktizierte Vorgehen im Zusammenhang mit der Bildung zusätzlicher im Gesetz nicht vorgesehener Ränge nicht akzeptiert hat (vgl. BAG 25. August 2022 - 6 AZR 441/21, Rn. 51; vgl. dazu auch LAG Berlin-Brandenburg 23. November 2022 - 26 Ta (Kost) 6064/22, Rn. 17). Jedenfalls gibt es für die als Insolvenzforderung vereinbarte Abfindung vor diesem Hintergrund keine für die Klägerin wirtschaftlich relevante Realisierungschance.
b) Da es bereits insoweit an den Voraussetzungen für eine Zusammenrechnung fehlte, kommt es nicht mehr darauf an, ob wirtschaftliche Identität einer Zusammenrechnung entgegengestanden hätte.
III.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, § 33 Abs. 9 RVG. Eine Gebühr ist nicht angefallen.
IV.
Die Entscheidung ist unanfechtbar.