Beschluss vom 08.05.2023 · IWW-Abrufnummer 235897
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 5 Sa 143/23
1. Für den nach § 233 ZPO maßgeblichen Verschuldensmaßstab ist zwar nicht von der äußersten und größtmöglichen Sorgfalt auszugehen, sondern von der von einer ordentlichen Rechtsanwältin oder einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernden üblichen Sorgfalt ( BGH, Beschluss vom 16. September 2015 - V ZB 54/15 ). Zu letztgenannter gehört allerdings die Kenntnis des § 46 g ArbGG und der Möglichkeit, Schriftsätze bei vorübergehender Unmöglichkeit der Übermittlung eines elektronischen Dokuments fristwahrend nach allgemeinen Vorschriften zu übermitteln.
2. Das gilt auch dann, wenn die vorübergehende Unmöglichkeit der elektronischen Übermittlung auf einer erpresserischen Verschlüsselung der Daten auf allen Kanzleirechnern beruht.
Tenor:
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 3. Januar 2023, Aktenzeichen 17 Ca 8528/22, wird unter Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.
II. Die Revisionsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 3. Januar 2023 die Klage der Klägerin teilweise abgewiesen. Gegen dieses ihr am 12. Januar 2023 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem beim Landesarbeitsgericht am 8. Februar 2023 eingegangenem Schriftsatz Berufung eingelegt. Auf Antrag der Klägerin wurde die Berufungsbegründungsfrist mit Beschluss vom 7. März 2023 bis zum 27. März 2023 verlängert. Am 28. März 2023 ging beim Landesarbeitsgericht die Berufungsbegründung als Telefax ein mit dem handschriftlichen Vermerk "Vorab per Fax! Bea funktioniert nicht". Nach Hinweis des Gerichts, dass die Berufungsbegründung verspätet sowie nicht in der nach § 46 g Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) vorgeschriebenen Form eingegangen sei und die Berufung deshalb als unzulässig verworfen werden könnte, beantragte die Klägerin mit am 11. April 2023 im Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach des Arbeitsgerichts Berlin eingegangenem Schriftsatz die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Die Klägerin trägt vor, ihre Prozessbevollmächtigte habe den Berufungsbegründungsschriftsatz am Abend des 27. März 2023 über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) versenden wollen, dieses habe jedoch die Übermittlung blockiert und angezeigt, dass der "Versand offen" sei, was die Prozessbevollmächtigte um 19.51 Uhr zur Kenntnis genommen habe. Diese sei zunächst nicht von einer dauerhaften Störung ausgegangen, habe jedoch vorsorglich versucht, den Schriftsatz per Fax zu versenden. Nach längerer Wartezeit habe sich die Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach Hause begeben, wo sie über einen Remoterechner verfüge und eine elektronische Übermittlung ebenfalls möglich sei. Die Prozessbevollmächtigte habe von dort aus nochmals versucht, die Übermittlung anzustoßen. Um circa 22.20 Uhr habe sich der Bildschirm ihres Rechners verändert, sämtliche Programme seien als "Blocksatz" mit veränderten Farben zu erkennen gewesen. Ein Zugriff auf Daten sei nicht möglich gewesen. Die Prozessbevollmächtigte sei daraufhin in ihr Büro zurückgekehrt, um von dort aus erneut eine Übermittlung zu versuchen. Im Büro habe sie jedoch keinen Zugriff auf den Rechner ihrer Kanzlei mehr gehabt und sei in diesem Moment panisch geworden. Inzwischen sei es auch zu spät gewesen, um den Schriftsatz beim Gericht einzuwerfen. Nach Ablauf der Frist habe die Prozessbevollmächtigte zudem festgestellt, dass das Fax ebenfalls nicht übermittelt worden sei. Am nächsten Morgen habe die Prozessbevollmächtigte die Nachricht eines Erpressers erhalten, in der mitgeteilt worden sei, dass sämtliche Daten auf ihrem Rechner verschlüsselt seien. Die Prozessbevollmächtigte habe sodann ein Unternehmen mit der Datenrettung beauftragt.
Die Beklagte trägt vor, eine Störung des beA habe am 27. März 2023 nicht vorgelegen. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin habe an diesem Tag auch über ein Online-Portal auf ihr beA zugreifen können. Es sei zudem nicht zu erklären, warum die Prozessbevollmächtigte nach Absendung des Schriftsatzes per Fax nicht das Ergebnis des Faxberichts abgewartet habe, sondern nach Hause gefahren sei und den Schriftsatz nicht zum Nachtbriefkasten des Landesarbeitsgerichts gebracht habe. Es sei auch nicht nachvollziehbar, warum sie dies nicht spätestens nach Rückkehr in ihr Büro getan habe.
II.
Die Berufung der Klägerin ist gemäß § 66 Absatz 1, Absatz 2 Satz 2 ArbGG, § 522 Absatz 1 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) durch Beschluss als unzulässig zu verwerfen, da sie nicht innerhalb der bis zum 27. März 2023 verlängerten Berufungsbegründungsfrist des § 66 Absatz 1 Satz 1 und 2 ArbGG begründet worden ist. Der Wiedereinsetzungsantrag hat keinen Erfolg. Hierüber entscheidet gemäß § 66 Absatz 2 Satz 2 ArbGG der Vorsitzende der Berufungskammer.
1. Der Berufungsbegründungsschriftsatz ging erst am 28. März 2023 per Telefax beim Landesarbeitsgericht ein, wobei zugunsten der Klägerin unterstellt werden kann, dass am 28. März 2023 die elektronische Übermittlung noch nicht wieder möglich und deshalb eine Ersatzeinreichung nach allgemeinen Vorschriften gemäß § 46 g Satz 3 ArbGG zulässig war, so dass die Übermittlung per Fax der Zulässigkeit der Berufung nicht entgegensteht. Da jedoch die Berufungsbegründungsfrist am 28. März 2023 abgelaufen war, konnte auch durch das Fax vom 28. März 2023 diese Frist nicht gewahrt werden.
2. Der Wiedereinsetzungsantrag bleibt erfolglos.
a) Die Klägerin hat den Wiedereinsetzungsantrag vom 11. April 2023 nicht innerhalb der Frist des § 234 Absatz 1 ZPO gestellt, weshalb er nicht zur Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist führen konnte. Die zweiwöchige Frist des § 234 ZPO beginnt mit dem Tage, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Absatz 2 ZPO). Das ist der Fall, wenn die Partei oder ihr Vertreter (§ 85 Absatz 2 ZPO) erkannt hat oder bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können, dass ein Wiedereinsetzungsantrag erforderlich ist (BAG, Beschluss vom 23. Mai 1989 - 2 AZB 1/89 -, Randnummer 10; BGH, Beschluss vom 25. Mai 1994 - XII ZB 31/94 -, Randnummer 11). Dies war vorliegend der 28. März 2023. An diesem Tag war die Berufungsbegründungsfrist abgelaufen, der Prozessbevollmächtigten war bekannt, dass der Versuch vom Vorabend, die Berufungsbegründungsschrift an das Landesarbeitsgericht zu faxen, fehlgeschlagen war und dass allein durch das Fax an das Landesarbeitsgericht vom 28. März 2023 die Frist nicht gewahrt werden konnte. Sie hatte daher den Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 234 ZPO bis zum 11. April 2023 bei dem nach § 237 ZPO für die Entscheidung über die Wiedereinsetzung zuständigen Landesarbeitsgericht zu stellen. Dies hat sie jedoch nicht getan, den Wiedereinsetzungsschriftsatz vom 11. April 2023 hat sie ausweislich der im Schriftsatz angegebenen Adresse sowie des aktenkundigen Prüfvermerks vom 11. April 2023 an das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach des Arbeitsgerichts Berlin gesendet.
b) Unabhängig davon hat die Klägerin auch nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Prozessbevollmächtigte, deren Verschulden sie sich gemäß § 85 Absatz 2 ZPO zuzurechnen lassen hat, ohne ihr Verschulden daran gehindert war, den Berufungsbegründungsschriftsatz vom 27. März 2023 noch am gleichen Tag dem Landesarbeitsgericht zuzuleiten. Nach dem Vortrag der Klägerin war es der Prozessbevollmächtigten am Abend des 27. März 2023 vorübergehend technisch unmöglich, sowohl von ihrem Büro als auch von ihrer Wohnung aus eine Übermittlung des Schriftsatzes an das Landesarbeitsgericht nach § 46 g Satz 1 ArbGG vorzunehmen. Diese Erkenntnis hatte sie nach dem Vortrag der Klägerin spätestens am 27. März 2023 um circa 22.20 Uhr. Es entsprach somit der anwaltlichen Sorgfaltspflicht der Prozessbevollmächtigten, gemäß § 46 g Satz 2 ArbGG spätestens zu diesem Zeitpunkt eine Einreichung nach den allgemeinen Vorschriften vorzunehmen. Dass sie nach 22.20 Uhr in ihr Büro zurückkehrte, um von dort aus erneut eine Übermittlung nach allgemeinen Vorschriften per Fax zu versuchen, trägt die Klägerin nicht vor. Es ist auch nicht vorgetragen worden, dass die Prozessbevollmächtigte nach Rückkehr in ihr Büro eine erneute Übermittlung per Fax versuchte. Dass eine erneute Übermittlung per Telefax zu diesem Zeitpunkt weiterhin erfolglos hätte bleiben müssen, ist ebenfalls weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden, zumal die Übermittlung per Fax am nächsten Morgen um 09.39 Uhr durchgeführt werden konnte. Dass die Prozessbevollmächtigte bis zum Fristablauf möglicherweise annahm, der Berufungsbegründungsschriftsatz sei bereits um 20.40 Uhr per Fax an das Landesarbeitsgericht übermittelt worden war, entspräche nicht der üblichen anwaltlichen Sorgfaltspflicht, weil es dieser entsprach, die Übermittlung des Faxes noch vor Fristablauf zu überprüfen, um bei Übermittlungsfehlschlag noch vor Fristablauf eine erneute Übermittlung per Fax vornehmen zu können. Die Prozessbevollmächtigte hat die Faxübermittlung nach dem Vortrag der Klägerin jedoch erst nach Fristablauf überprüft. Außerdem macht die Klägerin auch nicht glaubhaft, dass es der Prozessbevollmächtigten um circa 22.20 Uhr oder nach Rückkehr in ihr Büro nicht mehr möglich war, den Berufungsbegründungsschriftsatz vor 0.00 Uhr in den Nachtbriefkasten des Landesarbeitsgerichts zu verbringen.
Für den nach § 233 ZPO maßgeblichen Verschuldensmaßstab ist zwar nicht von der äußersten und größtmöglichen Sorgfalt auszugehen, sondern von der von einer ordentlichen Rechtsanwältin oder einem ordentlichen Rechtsanwalt zu fordernden üblichen Sorgfalt (BGH, Beschluss vom 16. September 2015 - V ZB 54/15). Zu letztgenannter gehört allerdings die Kenntnis des § 46 g ArbGG und der Möglichkeit, Schriftsätze bei vorübergehender Unmöglichkeit der Übermittlung eines elektronischen Dokuments fristwahrend nach allgemeinen Vorschriften zu übermitteln. Auch dann, wenn es wie vorliegend von der Klägerin behauptet, zu einer Verschlüsselung aller Daten der Kanzleirechner kommt und die von der Klägerin behauptete panische Reaktion der Prozessbevollmächtigten durchaus glaubhaft erscheint, gehört es zu der üblichen anwaltlichen Sorgfalt, am betroffenen Tag ablaufende Notfristen gleichwohl im Blick zu behalten sowie die Möglichkeit der fristwahrenden Ersatzeinreichung zu kennen und wahrzunehmen. Der Prozessbevollmächtigten der Klägerin war diese Möglichkeit, wie der Faxversuch vom 27. März 2023 zeigt, offensichtlich auch bekannt. Es verstößt dann aber gegen die übliche anwaltliche Sorgfaltspflicht, den Faxbericht vom 27. März 2023, 20.46 Uhr, erst nach Fristablauf zur Kenntnis zu nehmen und trotz Kenntnis der Unmöglichkeit, eine elektronische Übermittlung zu bewerkstelligen, nicht noch am 27. März 2023 eine - von der Verschlüsselung der Daten auf den Kanzleirechnern unabhängige - erneute Übermittlung per Fax zu versuchen und es auch zu unterlassen, den Schriftsatz vor Fristablauf in den Gerichtsbriefkasten einzuwerfen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Absatz 1 ZPO.
IV.
Die Zulassung der Revisionsbeschwerde gemäß § 77 Satz 1, Satz 2 ArbGG kommt mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 72 Absatz 2 ArbGG nicht in Betracht.