Beschluss vom 09.02.2023 · IWW-Abrufnummer 235909
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 10 TaBV 950/22
Der Betriebsrat hat kein Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung einer Anrückzeit innerhalb der Rufbereitschaft.
Tenor:1. Die Beschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. Juli 2022 - 14 BV 9564/21 wird zurückgewiesen.2. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über Unterlassungsansprüche des Betriebsrats bezüglich einer Arbeitsanweisung der Arbeitgeberin im Zusammenhang mit Rufbereitschaftsdiensten.
Um gegenüber Krankenkassen abrechnen zu können, müssen Krankenhäuser für bestimmte Leistungen jeweils das Vorliegen näher definierter Mindestvoraussetzungen, die Einhaltung sogenannter "Strukturmerkmale" aufgrund eines "Operationen- und Prozedurenschlüssels (OPS-Codes)" gegenüber dem MDS (im Folgenden: MDS) nachweisen. Beispielsweise wird für den OPS-Code 8-98f "Aufwendige intensivmedizinische Komplexbehandlung (Basisprozedur)" vorausgesetzt, dass ein Facharzt mit der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar sein muss. Ausweislich des Begutachtungsleitfadens des MDS ist, wenn die Verfügbarkeit nicht durch Schichtdienst oder Bereitschaftsdienst mit Anwesenheit im Krankenhaus sichergestellt wird, ein gesonderter Nachweis in Form einer schriftlichen Dienstanweisung, Betriebsvereinbarung oder ergänzenden arbeitsvertraglichen Regelung zu erbringen.
Mit Schreiben vom 13. Juli 2021 erließ die Arbeitgeberin - ohne den Betriebsrat zu beteiligen - eine schriftliche Arbeitsanweisung für eine der von ihr betriebenen Kliniken, die auch für die übrigen Kliniken verbindlich war.
Diese lautete:
"Auf der Grundlage diversen Strukturvorgaben (u.a. Komplexcodes, OPS-Codes) wird gefordert, dass Ärzte/Ärztinnen, Mitarbeiter*innen im Funktionsdienst und im Medizinisch-Technischen Dienst, die an der Leistungserbringung von OPS-Codes beteiligt sind, im Zusammenhang mit Rufbereitschaftsdiensten innerhalb von 30 Minuten im Krankenhaus verfügbar sein müssen. Für alle oben genannten Mitarbeiter*innen, die an Rufbereitschaftsdiensten teilnehmen, gilt deshalb Folgendes:
Mitarbeiter*innen, die Rufbereitschaftsdienste übernehmen, sind verpflichtet, sich nach Kontaktaufnahme innerhalb von 30 Minuten dienstbereit am Arbeitsplatz einzufinden."
Der Betriebsrat meint, durch die vorgegebene Zeitspanne von Abruf bis zur Arbeitsaufnahme (im Folgenden: Anrückzeit) von maximal 30 Minuten ordne die Arbeitgeberin mittelbar tatsächlich Bereitschaftsdienst und keine Rufbereitschaft an, da durch die kurze Anrückzeit die Wahl des Aufenthaltsorts faktisch stark beschränkt werde, zumal noch Wegezeiten im Krankenhaus selbst zu berücksichtigen seien. Durch ihre Arbeitsanweisung weiche die Arbeitgeberin mithin von der Vereinbarung zu den - im Rahmen der Dienstplangestaltung mitbestimmten - Rufbereitschaften ab. Der Betriebsrat habe folglich aus § 77 Abs. 1 BetrVG einen Anspruch auf Unterlassung sowie einen Anspruch auf Durchführung der getroffenen Vereinbarungen. Zudem folge ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auch aus § 87 Abs. 1 Nr. 2 (Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit einschließlich der Pausen sowie Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage) und Nr. 3 (vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung der betriebsüblichen Arbeitszeit) BetrVG. Dies folge aus dem Zweck der Mitbestimmungsrechte, die Interessen der Beschäftigten bezüglich der Lage ihrer Arbeitszeit zu wahren. Insoweit sei es gerade auch Ziel der Mitbestimmung, die Einhaltung tariflicher Maßgaben zu überwachen, zumal die Tarifvertragsparteien eine konkrete Regelung zur Anrückzeit nicht getroffen hätten. Die konkrete Ausgestaltung der Rufbereitschaft berühre die Interessen der Beschäftigten in erheblicher Weise.
Die Arbeitgeberin meint, ein zwingendes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats sei durch die Arbeitsanweisung nicht betroffen. Die Anrückzeit unterfalle bereits nach dem Gesetzeswortlaut nicht dem Geltungsbereich von § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG. Die Anrückzeit zu bestimmen, sei Teil der zulässigen Konkretisierung der Arbeitspflicht im Rahmen des Direktionsrechts der Arbeitgeberin. Auf die Frage, ob die Anweisung tarifwidrig sei, komme es in diesem Verfahren nicht an, da dies für die Frage der Mitbestimmung des Betriebsrats keine Rolle spiele. Zudem liege bei einer Zeitvorgabe von 30 Minuten bereits keine unzulässige Beschränkung des Aufenthaltsorts vor, so dass sich die Anweisung im Rahmen der tarifvertraglichen Regelungen zur Rufbereitschaft bewege. Ein Mitbestimmungstatbestand im Hinblick auf eventuell individualrechtlich unbeachtliche Weisungen der Arbeitgeberin existiere auch nicht, wobei die Auffassung des Betriebsrats insoweit auch unzutreffend sei.
In Anlehnung an § 69 Abs. 2 ArbGG wird hinsichtlich des weiteren Sachverhaltes auf I. der Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Mit Beschluss vom 27. Juli 2022 hat das Arbeitsgericht, soweit für die Beschwerde relevant, das Begehren des Betriebsrates zurückgewiesen. Es bestünden bereits Bedenken hinsichtlich der Frage, ob in Bezug auf die Anrückzeit der Anwendungsbereich eines Mitbestimmungsrechts überhaupt eröffnet sei. Auch wenn man annehme, dass die Arbeitgeberin mit ihrer Arbeitsanweisung vom 13. Juli 2021 die Grenzen ihrer Anordnungsbefugnis überschritten habe und damit im Ergebnis auch gegen die tarifvertraglichen Vorschriften zur Rufbereitschaft verstoße, führe dies nicht zum Wiederaufleben eines etwaigen Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats. Der Betriebsrat sei darauf beschränkt, die Nichtbeachtung oder fehlerhafte Durchführung des Tarifvertrags beim Arbeitgeber zu beanstanden und auf Abhilfe zu drängen. Zwar sei ein Durchführungsanspruch des Betriebsrats auch in Bezug auf mitbestimmte Dienstpläne durchaus möglich, sofern der Arbeitgeber von diesen unberechtigt abweiche. Wenn in einem mitbestimmten Dienstplan Rufbereitschaft vorgesehen sei und die Arbeitgeberin den für die Rufbereitschaft eingeteilten Arbeitnehmern zeitliche Vorgaben machen würde, die dazu führen würden, dass rechtlich von Bereitschaftsdienst auszugehen wäre, wäre Inhalt eines Durchführungsanspruchs des Betriebsrats allenfalls die tatsächliche Durchführung des mitbestimmten Dienstplans und die Unterlassung von Abweichungen. Ein Durchführungsanspruch könne aber nicht zur Entstehung eines Mitbestimmungsrechts führen, das über die dem Dienstplan zugrundeliegende Mitbestimmung hinausgehe. Ein Mitbestimmungsrecht in Bezug auf die Anrückzeiten habe der Betriebsrat aber gerade nicht.
Gegen diesen dem Vertreter des Betriebsrates am 5. August 2022 zugestellten Beschluss hat dieser rechtzeitig Beschwerde eingelegt und diese auch rechtzeitig begründet. Zeiten einer Rufbereitschaft unterfielen zwar nicht dem arbeitszeitrechtlichen Begriff der Arbeitszeit. Die Festlegung der Zeiten von Rufbereitschaft berühre aber die Interessen der Beschäftigten in hinreichend vergleichbarer Weise wie die Festlegung der Arbeitszeiten im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Das gelte nicht nur für die Rufbereitschaften an sich, sondern auch für die Anrückzeit im Rahmen der Rufbereitschaft. Denn diese beschränke das Freizeitverhalten der Arbeitnehmer zusätzlich. Deshalb unterfalle die Anrückzeit nach dem Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechts auch dem Anwendungsbereich des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG. Soweit der Arbeitgeberin im Rahmen der Festlegung der Rufbereitschaftszeiten auch hinsichtlich der Anrückzeit ein Regelungsspielraum eingeräumt sei, sei der Betriebsrat zwingend bei der Ausgestaltung dieses Regelungsspielraums zu beteiligen. Die Mitbestimmung des Betriebsrats auf Grundlage von § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG scheitere auch nicht am Vorliegen einer abschließenden tariflichen Regelung. Eine angemessene Anrückzeit innerhalb der Rufbereitschaft sei gerade nicht abschließend von den Tarifvertragsparteien geregelt, sondern der Arbeitgeberin verbleibe ein Regelungsspielraum, so dass dem Betriebsrat das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG eröffnet sei und er entsprechend bei der Regelung etwaiger Anrückzeiten zu beteiligen sei.
Unabhängig davon folge der begehrte Unterlassungsantrag aber auf jeden Fall aus dem vom Betriebsrat geltend gemachten Durchführungsanspruch gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG. Die Arbeitsanweisung der Arbeitgeberin beziehe sich samt und sonders auf sogenannte Rufbereitschafts-Ikonen, die vom Betriebsrat jeweils in einzelnen Beteiligungen mitbestimmt worden seien, so dass die vom Betriebsrat mitbestimmten Rufbereitschaften von der Arbeitgeberin durch ihre 30-Minuten-Arbeitsanweisung nachträglich einseitig in ihrem Charakter geändert würden, ohne dass der Betriebsrat diesen Änderungen zugestimmt hätte oder seine Zustimmung durch die Einigungsstelle ersetzt worden wäre. Die Rufbereitschaften seien vom Betriebsrat jeweils unter der Voraussetzung mitbestimmt worden, dass der/die Ärztin und die übrigen Beschäftigten lediglich verpflichtet seien, entsprechend den tariflichen Regelungen "sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten oder seine Erreichbarkeit durch Mobiltelefon oder eine vergleichbare Einrichtung sicherzustellen, um die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft)". Die verpflichtend vorgeschriebene Zeitspanne sei so kurz bemessen, dass sie einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkomme, in dem die Arbeitgeberin die örtlichen Beschränkungen lediglich durch den Faktor Zeit ersetze und dadurch konkludent Bereitschaftsdienst anordne. Damit führe die Arbeitgeberin nicht mehr die mitbestimmte Rufbereitschaft, sondern einen insoweit nicht mitbestimmten Bereitschaftsdienst durch.
Der Betriebsrat und Beteiligte zu 1) beantragt in der Beschwerdeinstanz,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 27. Juli 2022 - 14 BV 9564/21 - teilweise abzuändern und
1.)
der Beteiligten zu 2.) aufzugeben, es zu unterlassen, Ärztinnen und Ärzte sowie Mitarbeiter/innen im Funktionsdienst und im Medizinisch-Technischen Dienst, die an der Leistungserbringung von OPS-Codes beteiligt und keine leitenden Angestellten im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG sind, im Fall der Anordnung von Rufbereitschaftsdiensten anzuweisen, sich nach Kontaktaufnahme innerhalb von 30 Minuten dienstbereit am Arbeitsplatz einzufinden, ohne dass der Betriebsrat einer solchen Regelung zugestimmt hat oder die fehlende Zustimmung des Betriebsrats durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt worden ist.
2.)
Der Beteiligten zu 2.) wird für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtung aus der Ziff. zu 1.) ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils bis zu 10.000,00 € angedroht;
3.)
der Beteiligten zu 2.) aufzugeben, es zu unterlassen, Mitarbeiter/innen die keine leitenden Angestellten im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG sind und im Rahmen der Leistungserbringung von OPS-Codes Rufbereitschaftsdienste übernehmen, zu verpflichten, sich nach Kontaktaufnahme innerhalb von 30 Minuten dienstbereit am Arbeitsplatz einzufinden.
4.)
Der Beteiligten zu 2.) wird für jeden einzelnen Fall der Zuwiderhandlung gegen die Verpflichtung aus der Ziff. zu 2) ein Ordnungsgeld in Höhe von jeweils bis zu 10.000,00 € angedroht.
Die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 2) beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Arbeitgeberin verteidigt die angefochtene Entscheidung. Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG sei seinem Sinn und Zweck nach dadurch erschöpft, dass der Betriebsrat bei Beginn und Ende der Rufbereitschaft und bei der Verteilung der Rufbereitschaftszeiten auf die einzelnen Wochentage mitbestimme. Die Rufbereitschaft als solche mit ihren Auswirkungen auf die Wahl des Aufenthaltsortes stelle den Eingriff in die Gestaltung der Freizeit der Beschäftigten dar, es werde aber durch die Anweisung zur zeitlichen Aufnahme der Arbeit innerhalb der Rufbereitschaft nicht ein "Eingriff im Eingriff" bzw. eine "Mitbestimmungsrecht im Mitbestimmungsrecht" ausgelöst. Der Eingriff in die Gestaltung der Freizeit als solcher sei bereits durch die Festlegung der Rufbereitschaft erfolgt. Wenn der Betriebsrat in diesem Zusammenhang ausführe, dass die Festlegung einer 30-minütigen Anrückzeit in die Gestaltung der Freizeit in erheblicherer Weise eingreife als eine Anrückzeit von z.B. 40, 45 oder 50 Minuten, sei dies ebenso richtig wie banal. Gleichzeitig folge daraus aber gerade, dass nicht die Dauer der Anrückzeit zu einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats führen könne. Denn ob ein Mitbestimmungsrecht bestehe, könne nicht davon abhängen, ob eine Anrückzeit mehr oder weniger in die Freizeitgestaltung eingreifen könne oder nicht. Zumal dies für jeden Beschäftigten je nach Wohn- oder Aufenthaltsort unterschiedlich sei. So sei naturgemäß nicht ausgeschlossen, dass für Beschäftigte auch eine Anrückzeit von 40, 45 oder 50 Minuten dazu führen könne, dass sie sich während eines Rufdienstes nicht zu Hause aufhalten könnten und bei Rufdiensten einen gesonderten Aufenthaltsort in der Nähe des Arbeitsplatzes benötigten. Entweder es bestehe hinsichtlich der Anrückzeit in der Rufbereitschaft ein Mitbestimmungsrecht oder nicht. Ein Mitbestimmungsrecht könne aus gutem Grund immer nur kollektiv ausgeübt werden und nicht individuell je nach der Schwere der Betroffenheit des einzelnen Beschäftigten. Soweit der Beschwerdeführer meine, dass das Arbeitsgericht fehlerhaft von einer abschließenden tarifvertraglichen Regelung im Sinne des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG ausgegangen sei, sei das falsch. Vielmehr habe das Arbeitsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BAG und des LAG Berlin-Brandenburg darauf verwiesen, dass die betroffenen Beschäftigten durch tarifvertragliche Regelungen, die keine Öffnungsklauseln enthielten, zu der Ableistung von Rufdiensten verpflichtet seien. Und ebenfalls in Übereinstimmung mit dieser Rechtsprechung spiele es keine Rolle, ob die Arbeitgeberin bei der Festlegung einer Anrückzeit von 30 Minuten gegen die tarifvertraglichen Regelungen verstoßen habe oder nicht. Der Verstoß eines Arbeitgebers gegen tarifvertragliche Regelungen, die ein Mitbestimmungsrecht ausschlössen, führe nicht zu einem Wiederaufleben eines Mitbestimmungsrechts. Die Anordnung einer Anrückzeit von 30 Minuten führe nicht zu einer mitbestimmungspflichtigen Umwandlung von Rufbereitschaften in Bereitschaftsdienste. Es läge somit auch dann kein Verstoß gegen einen Durchführungsanspruch des Betriebsrats aus § 77 Abs. 1 Satz 1 BetrVG vor, wenn es hier überhaupt einen solchen Durchführungsanspruch gäbe. Es bestehe kein Mitbestimmungsrecht eines Betriebsrats im Hinblick auf Arbeitsanweisungen, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Weisung wirksam oder unwirksam sei. Insbesondere fielen Anordnungen des Arbeitgebers zum Arbeitsverhalten nicht unter § 87 BetrVG. Der Betriebsrat versuche hier, über den Umweg der mitbestimmungspflichtigen Festlegung von Beginn und Ende einer Rufbereitschaft Zugriff auf eine Weisung zum Arbeitsverhalten innerhalb der Rufbereitschaft zu erlangen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten in der Beschwerdeinstanz wird auf den vorgetragenen Inhalt der Beschwerdebegründung des Betriebsrats vom 7. November 2022, seines Schriftsatzes vom 7. Februar 2023, der Beschwerdeerwiderung der Arbeitgeberin vom 12. Dezember 2022 und ihres Schriftsatzes vom 3. Februar 2023 sowie das Sitzungsprotokoll vom 9. Februar 2023 Bezug genommen.
II.
Die gemäß §§ 8 Abs. 4 und 87 Abs. 1 ArbGG statthafte Beschwerde des Betriebsrates ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht im Sinne von §§ 87 Abs. 2, 89 Abs. 1 und 2 ArbGG eingelegt und begründet worden.
Die Beschwerde ist aber nicht begründet.
1.
Ebenso wie die Kammer 12 des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg in der Entscheidung 12 TaBVGa 1513/21 vom 7. Januar 2022 geht auch die hier erkennende Kammer 10 davon aus, dass aus dem Tarifvorrang folgt, dass bei einer zwingenden Tarifvorschrift ohne ausdrückliche Öffnungsklausel, die die Anrückzeit im Rahmen von Rufbereitschaft offen gestaltet, diese Anrückzeit nicht gegen den Willen einer Betriebspartei durch Betriebsvereinbarung geregelt werden kann.
1.1
Ebenso wie das Bundesarbeitsgericht (vgl. etwa BAG vom 25. März 2021 - 6 AZR 264/20) geht auch die Kammer 10 des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg davon aus, dass eine Rufbereitschaft voraussetzt, dass der Arbeitnehmer die Möglichkeit haben muss, sich in dieser Zeit auch um persönliche und familiäre Angelegenheiten zu kümmern, an sportlichen oder kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen oder sich mit Freunden zu treffen. Zutreffend weist der Betriebsrat darauf hin, dass Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst sich dadurch unterscheiden, dass der Arbeitgeber beim Bereitschaftsdienst den Aufenthaltsort des Arbeitnehmers bestimmt, wohingegen dieser vom Arbeitnehmer bei der Rufbereitschaft grundsätzlich selbst gewählt werden kann.
Allerdings ist der Arbeitnehmer, wie das BAG zutreffend in ständiger Rechtsprechung ausführt, auch während der Rufbereitschaft in der Wahl seines Aufenthaltsortes nicht völlig frei. Der Zweck der Rufbereitschaft besteht gerade darin, dass der Arbeitnehmer in der Lage sein muss, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können. Kennzeichnend für Rufbereitschaft ist daher, dass zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme nur eine solche Zeitspanne liegen darf, deren Dauer den Einsatz nicht gefährdet und die Arbeitsaufnahme im Bedarfsfall gewährleistet. Der Arbeitnehmer darf sich nicht in einer Entfernung vom Arbeitsort aufhalten, die dem Zweck der Rufbereitschaft zuwiderläuft. Mithin stehen mittelbare Einschränkungen des Aufenthaltsortes dem Vorliegen von Rufbereitschaft nicht zwangsläufig entgegen. Vielmehr ist die Eingrenzung der freien Wahl des Aufenthaltsortes und damit einhergehend der Möglichkeiten zur Gestaltung der Zeit der Rufbereitschaft gerade ein Wesensmerkmal dieses Dienstes.
Entscheidend für die Frage, ob (vergütungsrechtlich) Bereitschaftsdienst oder Rufbereitschaft vorliegt, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BAG allein der Umfang der vom Arbeitgeber angeordneten Aufenthaltsbeschränkungen. Diese können auch konkludent etwa dadurch erfolgen, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dadurch in der freien Wahl des Aufenthaltsortes beschränkt, dass er die Zeit zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme genau vorgibt und die Zeitspanne dabei so kurz bemisst, dass sie einer Aufenthaltsbeschränkung gleichkommt. In einem solchen Fall ersetzt der Arbeitgeber die örtlichen Beschränkungen lediglich durch den Faktor Zeit und ordnet dadurch konkludent Bereitschaftsdienst an. Wann die (mittelbaren) Einschränkungen hinsichtlich der freien Wahl des Aufenthaltsortes so stark sind, dass sie faktisch einer Bestimmung des Aufenthaltsortes durch den Arbeitgeber gleichkommen und damit eine Anordnung von Bereitschaftsdienst darstellen, ist nach der Rechtsprechung des BAG jeweils eine Frage des Einzelfalls.
1.2
Wie das Bundesarbeitsgericht ebenfalls in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa BAG vom 30. Juni 2015 - 1 ABR 71/13) ausführt, besteht der Sinn und Zweck der Mitbestimmung des Betriebsrates im Zusammenhang mit der Arbeitszeit darin, dass die Lage der Grenze zwischen Arbeitszeit und Freizeit eindeutig bestimmt wird. Nach der Rechtsprechung des BAG zählt die Rufbereitschaft mitbestimmungsrechtlich zur Arbeitszeit (vgl. etwa BAG vom 21. Dezember 1982 - 1 ABR 14/81). Zwar erbringt der Arbeitnehmer auch während der Rufbereitschaft als solcher keine Arbeitsleistung. Er muss aber jederzeit mit dem Erfordernis der Arbeitsaufnahme rechnen und sich dafür bereithalten. Dies rechtfertigt nach der Rechtsprechung des BAG die Einräumung eines Mitbestimmungsrechts schon bei der Anordnung von Rufbereitschaft.
Mit der Anordnung einer Rufbereitschaft ist die Freizeit des Arbeitnehmers eingeschränkt. Damit übt der Betriebsrat sein diesbezüglich bestehendes Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung der entsprechenden Ikone bzw. der sich dahinter verbergenden Zeiten der Rufbereitschaft und der späteren Verwendung der Ikone im Dienstplan aus. Wenn aber die Freizeit des Arbeitnehmers so im Rahmen der Mitbestimmung eingeschränkt wird, findet sich im Betriebsverfassungsgesetz kein Anknüpfungspunkt für ein weitergehendes Mitbestimmungsrecht, in welcher Art und Weise die Freizeit eingeschränkt wird.
Auch wenn man unterstellt, dass die diesem Verfahren zugrundeliegende Weisung einer Rufbereitschaft entgegenstehen würde, ergibt sich daraus kein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates. Denn dann würde der Betriebsrat quasi als Prozessstandschafter für die von der ggf. rechtswidrigen Weisung betroffenen Arbeitnehmer tätig. Eine solche Rolle sieht das BetrVG für den Betriebsrat nicht vor. Vielmehr darf die Arbeitgeberin im Rahmen des § 106 GewO ihr Direktionsrecht nur nach billigem Ermessen ausüben. Dazu gehört auch, dass keine überobligatorischen Anforderungen an die Arbeitnehmer gestellt werden. Derartige rechtswidrige Weisungen muss ein Arbeitnehmer nicht befolgen (BAG vom 18. Oktober 2017 - 10 AZR 330/16).
2.
Auch die Argumentation des Betriebsrates, dass die mitbestimmten Rufbereitschaftszeiten durch die diesem Verfahren zugrundeliegende Anweisung einseitig abgeändert würden, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Betriebsrat hat zwar ein Mitbestimmungsrecht, wenn die Arbeitgeberin einseitig die Rufbereitschaftszeiten abändert oder die Dienstart Rufbereitschaft einseitig ändert, aber das ist hier nicht der Fall. Die Arbeitgeberin geht vielmehr davon aus, dass sie sich im Rahmen einer zulässigen Beschränkung innerhalb der Rufbereitschaft bewegt.
2.1
Sollte die die diesem Verfahren zugrundeliegende Weisung der Annahme einer Rufbereitschaft entgegenstehen, wären die von ihr betroffenen Arbeitnehmer nicht verpflichtet, dieser Weisung Folge zu leisten. Denn nach dem durch Mitbestimmung des Betriebsrates zustande gekommenem Dienstplan wären sie nur zur Ableistung einer Rufbereitschaft verpflichtet, also wie oben ausgeführt in der Lage sein, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können.
Nach der Rechtsprechung des BAG (vgl. etwa BAG 25. Februar 2015 - 1 AZR 642/13) ergibt sich aus der Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung, dass die Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats im Verhältnis vom Arbeitgeber zum Arbeitnehmer jedenfalls zur Unwirksamkeit von Maßnahmen oder Rechtsgeschäften führt, die den Arbeitnehmer belasten. Das soll verhindern, dass der Arbeitgeber dem Einigungszwang mit dem Betriebsrat durch Rückgriff auf arbeitsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten ausweicht. Dem Arbeitgeber darf aus einer betriebsverfassungsrechtlichen Pflichtwidrigkeit auch im Rahmen des Arbeitsverhältnisses kein Vorteil erwachsen.
2.2
Nach der Mitbestimmung des Betriebsrats sind Arbeitnehmer in den Dienstplänen verpflichtet, Rufbereitschaftsdienste abzuleisten. Im Falle eines Rufs während der dienstplanmäßigen Rufbereitschaft sind sie verpflichtet, sich nach einem Ruf unverzüglich an dem Arbeitsplatz zu begeben. Nichts anderes verlangt die Arbeitgeberin hier. Gegenstand des Streits zwischen Betriebsrat und Arbeitgeberin ist allein, ob die Weisung einer bestimmten Zeitvorgabe billigem Ermessen entspricht. Denn wenn die Weisung billigem Ermessen entsprechen würde, läge eindeutig Rufbereitschaft vor und die Arbeitgeberin würde die mitbestimmten Dienstpläne durchführen. Auch wenn sich Arbeitnehmer überobligatorisch selbst in der Wahl ihres Aufenthaltsortes beschränken, bleibt es ein Rufbereitschaftsdienst (BAG vom 25. März 2021 - 6 AZR 264/20 m.w.N.). Demgemäß könnten die von der Arbeitgeberin mit Schriftsatz vom 3. Februar 2023 übersandten Erklärungen von Beschäftigten, unter normalen Umständen die 30-Minuten-Vorgabe erfüllen zu können, auch bei Annahme einer grundsätzlich unbilligen Weisung dazu führen, dass weiter von einer Rufbereitschaft auszugehen wäre.
2.3
Letztlich kann diese Frage aber dahinstehen. Denn die Frage, ob eine bestimmte Anrückzeit noch billigem Ermessen entspricht, kann nicht generell beantwortet werden, sondern ist immer eine Frage des Einzelfalls (BAG vom 25. März 2021 - 6 AZR 264/20 m.w.N.). Wie die Erörterung im Anhörungstermin ergeben hat, gibt es Fälle, in denen beim Wohnort als üblichem Aufenthaltsort mit der Verpflichtung, innerhalb von 30 Minuten am Arbeitsplatz zu sein, eine übermäßige Aufenthaltsbeschränkung vorliegen könnte. Gleichzeitig gibt es aber auch Fälle, in denen das nicht der Fall ist. Insofern konnten die auf jeden Fall gerichteten Anträge des Betriebsrates ebenfalls keinen Erfolg haben. Denn die diesem Verfahren zugrundeliegende Weisung führt auch bei Annahme ihrer Unbilligkeit in einzelnen Fällen nicht in jedem Fall zu einer Unbilligkeit.
III.
Die Entscheidung ergeht nach § 2 Abs. 2 GKG in Verbindung mit § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG gerichtskostenfrei.
IV.
Gegen die Entscheidung ist kein Rechtsmittel gegeben. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde kam gemäß § 92 Abs.1 Satz 2 ArbGG in Verbindung mit § 72 Abs.2 ArbGG nicht in Betracht.
Der Betriebsrat wird auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde hingewiesen.