Beschluss vom 23.06.2023 · IWW-Abrufnummer 236248
Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 12 TaBV 638/22
1. Weist das Arbeitsgericht den Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruchs rechtskräftig zurück, steht damit endgültig fest, dass der Spruch wirksam ist.
2. Die Verbindlichkeit der formell rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung zur Wirksamkeit des Einigungsstellenspruchs ist unabhängig davon, ob in dem Wirksamkeitsprüfungsverfahren alle Unwirksamkeitsgründe thematisiert worden sind.
3. Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn in dem Einigungsstellenspruch wegen Fehlen eines Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats und einer beidseitigen Unterwerfung oder nachträglichen Annahme des Einigungsstellenspruchs seitens Betriebsrat und Arbeitgeber eine Regelung nicht hätte ergehen dürfen.
Tenor:
I. Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 27. April 2022 - 4 BV 34/21 - abgeändert und der Arbeitgeberin unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000,00 EUR aufgegeben, es zu unterlassen, bei Rufbereitschaftsdienst für alle Fachärztinnen/Fachärzte des Städtischen Klinikums in den Fachabteilungen Anästhesie und Intensivmedizin, Innere Medizin, Allgemein- und Visceralchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Radiologie sowie Gynäkologie und Urologie anzuweisen, dass diese innerhalb von maximal 30 Minuten "am Patienten verfügbar" zu sein haben, solange hierzu keine Zustimmung des Beteiligten zu 1. vorliegt oder dessen fehlende Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde.
II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Betriebsrat und Arbeitgeberin streiten darum, ob es die Arbeitgeberin zu unterlassen hat, für bestimmte Rufbereitschaftsdienste von Fachärzten eine Höchstzeit zwischen Abruf und Verfügbarkeit am Patienten von 30 Minuten vorzugeben.
Die Beteiligte zu 2 und Arbeitgeberin betreibt ein städtisches Krankenhaus. Der Beteiligte zu 1 ist der dort gebildete Betriebsrat.
Die Arbeitgeberin ist als Mitglied des Kommunalen Arbeitgeberverbands Brandenburg gebunden an den "Tarifvertrag für Ärztinnen und Ärzte an kommunalen Krankenhäusern im Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (TV-Ärzte/VKA)". Der TV-Ärzte/VKA vom 17. August 2006 in der Fassung des Änderungstarifvertrag Nr. 8 vom 4. Mai 2022 bestimmt zur Rufbereitschaft wie folgt:
"§ 7 Regelmäßige Arbeitszeit
... (6) Ärztinnen und Ärzte sind im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zu ... Rufbereitschaft ...verpflichtet.
... § 10 ... Rufbereitschaft
... (8) Die Ärztin/Der Arzt hat sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Ärztin/der Arzt vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel zur Gewährleistung der Erreichbarkeit ausgestattet wird. Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt. 4Im Kalendermonat sind nicht mehr als 13 Rufbereitschaften zu leisten. Darüber hinausgehende Rufbereitschaften sind nur zu leisten, wenn andernfalls eine Gefährdung der Patientensicherheit droht. Bei teilzeitbeschäftigten Ärztinnen und Ärzten ist die Höchstgrenze nach Satz 4 entsprechend dem Verhältnis ihrer individuell vereinbarten durchschnittlichen regelmäßigen Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit vergleichbarer vollzeitbeschäftigter Ärztinnen und Ärzte zu kürzen. Verbleibt bei der Berechnung nach Satz 6 ein Bruchteil, der mindestens einen halben Dienst ergibt, wird er auf einen vollen Dienst aufgerundet; Bruchteile von weniger als einem halben Dienst bleiben unberücksichtigt. Durch tatsächliche Arbeitsleistung innerhalb der Rufbereitschaft kann die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden (§ 3 ArbZG) überschritten werden (§ 7 ArbZG)."
Die zwischen den Beteiligten durch Spruch der Einigungsstelle zustande gekommene "Betriebsvereinbarung Dienstplangestaltung und Arbeitszeit Ärzte (BV Arbeitszeit Ärzte)" vom 27. Februar 2014 sieht unter "§ 10 Rufbereitschaft" vor:
"10.2 Während der Rufbereitschaft müssen die Beschäftigten telefonisch erreichbar und in der Lage sein, ihre Arbeitszeit innerhalb einer für die notwendige Patientenversorgung angemessenen Zeit aufzunehmen."
Die Beteiligten führten ein arbeitsgerichtliches Beschlussverfahren zur Frage nach der Wirksamkeit des Einigungsstellenbeschlusses über die Betriebsvereinbarung. In diesem Verfahren wies das Arbeitsgericht Brandenburg an der Havel mit formell rechtskräftigem Beschluss vom 22. Juli 2014 den Antrag des Betriebsrats zurück festzustellen, dass der Spruch der Einigungsstelle vom 27. Februar 2014 (BV Arbeitszeit Ärzte) unwirksam sei. Ausweislich der Entscheidungsgründe hatte der Betriebsrat geltend gemacht, die Betriebsvereinbarung verstoße gegen die tarifvertragliche Regelung zur Rufbereitschaft, weil nicht aufgenommen sei, dass sie nur angeordnet werden könne, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfalle. Im Übrigen sind in den Entscheidungsgründen keine Rügen im Hinblick auf Tarifvorschriften zur Rufbereitschaft oder das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts wegen der Regelung von Rufbereitschaft wiedergegeben.
Mit Dienstanweisung Nr. 4/2021 vom 14. Oktober 2021, in Kraft seit dem 1. November 2021, wies die Arbeitgeberin alle Fachärztinnen und Fachärzte in bestimmten Fachabteilungen wie folgt an:
"Sie sind während der Rufbereitschaft insbesondere dazu verpflichtet, in Zeiten außerhalb der Anwesenheitszeit im Klinikum innerhalb von 30 Minuten am Patienten verfügbar zu sein. Kann der Facharzt / die Fachärztin diese Vorgabe nicht erfüllen, so ist dies unverzüglich der Geschäftsführung und dem Leitenden Arzt (Chefarzt / Chefärztin) schriftlich anzuzeigen. Darüber hinaus ist der Leitende Arzt (Chefarzt / Chefärztin) unverzüglich mündlich oder telefonisch zu informieren. Ist die Nichterfüllung der zuvor genannten Vorgabe durch den Facharzt / die Fachärztin vorhersehbar, hat dieser / diese rechtzeitig auf eine Dienstplanänderung hinzuwirken. Der Facharzt / die Fachärztin, der / die die Anzeige gemacht hat, ist in diesem Fall von der Rufbereitschaft zu befreien. Der Leitende Arzt (Chefarzt / Chefärztin) hat dann die Rufbereitschaft ... sicherzustellen und erforderlichenfalls diese Rufbereitschaft persönlich zu leisten. ... Diese Dienstanweisung behält ihre Gültigkeit, bis sie durch den Arbeitgeber widerrufen oder durch eine andere Dienstanweisung des Arbeitgebers ersetzt wird."
Am 2. November 2021 hat der Betriebsrat die Unterlassung dieser Anweisung gerichtlich geltend gemacht. Der Unterlassungsanspruch ergebe sich im Hinblick auf den in der Anweisung liegenden Verstoß gegen die BV Arbeitszeit Ärzte aus dem betriebsverfassungsrechtlichen Durchführungsanspruch. Er hat mit der Antragsschrift beantragt,
die Beteiligte zu 2. hat es unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000,00 EUR zu unterlassen, bei Rufbereitschaftsdienst für alle Fachärztinnen/Fachärzte des Städtischen Klinikums in den Fachabteilungen Anästhesie und Intensivmedizin, Innere Medizin, Allgemein- und Visceralchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Radiologie sowie Gynäkologie und Urologie anzuweisen, dass diese innerhalb von maximal 30 Minuten "am Patienten verfügbar" zu sein haben, solange hierzu keine Zustimmung des Beteiligten zu 1. vorliegt oder dessen fehlerhafte Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde.
Die Arbeitgeberin hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Betriebsrat habe hinsichtlich des Abrufs aus der Rufbereitschaft kein Mitbestimmungsrecht. Außerdem sei die Pflicht, innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf den Abruf hin die Arbeit aufzunehmen, durch sie bindende Tarifvorschriften zur Rufbereitschaft für Ärzte geregelt und infolgedessen einer Regelung durch Betriebsvereinbarung entzogen. Für die diesbezügliche Regelung in der BV Arbeitszeit Ärzte habe den Betriebsparteien die Regelungsmacht gefehlt. Die Dienstanweisung sei ihr durch ihren Arbeitgeberverband anempfohlen worden, um die Einhaltung von Strukturvorgaben bezüglich der Notfallversorgung nachweisen zu können. Ein grober Verstoß, wie er Voraussetzung eines Unterlassungsanspruchs aus § 23 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz sein würde, liege nicht vor.
Mit Beschluss vom 27. April 2022 hat das Arbeitsgericht Brandenburg den Antrag zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Das einschlägige Mitbestimmungsrecht wegen der Arbeitszeit umfasse zwar die Aufstellung von Rufbereitschaftsplänen, nicht aber die inhaltliche Ausgestaltung der Rufbereitschaft. Außerdem sei die Rufbereitschaft durch Tarifvorschrift abschließend geregelt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sei eine dreißigminütige Anrückzeit nicht zu beanstanden.
Gegen den am 24. Mai 2022 zugestellten Beschluss hat der Betriebsrat am 17. Juni 2022 Beschwerde eingelegt, die er - nach Fristverlängerung auf den 24. August 2022 - an diesem Tag begründet hat. Er verfolgt den erstinstanzlich gestellten Antrag weiter und macht geltend: Rechtsirrig nehme das Arbeitsgericht an, dass die Tarifvorschrift dahingehend regele, dass die Tarifsperre greife. Die hierzu herangezogene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts spreche in ihrem Leitsatz davon, dass die Tarifvorschrift den Begriff der Rufbereitschaft vergütungsrechtlich abschließend regele. Eine abschließende Regelung im Sinne der Mitbestimmung sei nicht festgestellt. Durch die Anordnung einer bestimmten Anrückzeit beeinflusse die Arbeitgeberin die Länge der ausgelösten Arbeitszeit, konkretisiere sie und dehne sie aus. Dies sei mitbestimmungspflichtig. Außerdem wandele sich die Rufbereitschaft im Hinblick auf das festgelegte Erscheinen am Patienten in einen Bereitschaftsdienst. Insoweit habe das Arbeitsgericht nicht geprüft, ob ein solcher Dienst einseitig eingeführt worden sei. Durch den Beschluss des Arbeitsgerichts vom 22. Juli 2014 sei rechtkräftig festgestellt, dass die BV Arbeitszeit Ärzte wirksam sei. Im Hinblick auf die aus der Anrückzeit folgenden Beschränkungen bei der Wahl des Aufenthaltsortes könnten die Rufbereitschaft laut Dienstplan und Betriebsvereinbarung sowie die Arbeitsanweisung nicht in Übereinstimmung gebracht werden.
Der Betriebsrat beantragt,
den Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 27. April 2022 - 4 BV 34/21 - abzuändern und der Arbeitgeberin unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 10.000,00 EUR aufzugeben, es zu unterlassen, bei Rufbereitschaftsdienst für alle Fachärztinnen/Fachärzte des Städtischen Klinikums in den Fachabteilungen Anästhesie und Intensivmedizin, Innere Medizin, Allgemein- und Visceralchirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie, Neurochirurgie und Radiologie sowie Gynäkologie und Urologie anzuweisen, dass diese innerhalb von maximal 30 Minuten "am Patienten verfügbar" zu sein haben, solange hierzu keine Zustimmung des Beteiligten zu 1. vorliegt oder dessen fehlende Zustimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt wurde.
Die Arbeitgeberin beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Sie hat die Beschwerde beantwortet. Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts und vertieft ihre Argumentation dazu, weshalb die Vorgabe einer Anrückzeit im Rahmen der Rufbereitschaft nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats unterliege. Sie weist darauf hin, dass die Überwachungsaufgabe des Betriebsrats nicht dessen eigenen Anspruch auf die Einhaltung tarifrechtlicher Vorgaben zur Anrückzeit begründe. Sie ist der Auffassung, die BV Arbeitszeit Ärzte sei für die Beteiligten nicht verbindlich. Eine Verbindlichkeit sei insbesondere nicht durch den Beschluss des Arbeitsgerichts vom 22. Juli 2014 rechtkräftig entschieden. Bei den Fragen nach der Mitbestimmungspflicht und der Wirksamkeit des Einigungsstellenspruches handele es sich um verschiedene Streitgegenstände. Die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen über die Wirksamkeit von Betriebsvereinbarungen sei für das freiwillige Einigungsstellenverfahren abweichend von den allgemeinen Grundsätzen zu beurteilen. Für solche Verfahren ersetze die gerichtliche Feststellung der Rechtswirksamkeit des Einigungsstellenspruchs nicht die rechtsgestaltende Unterwerfung der Betriebsparteien unter den Spruch. Außerdem stehe die Regelung der Dienstanweisung einem Durchführungsanspruch der Betriebsvereinbarung nicht entgegen. Aufgrund der Regelung zur Mitteilung von Hinderungsgründen sei es ausgeschlossen, dass die Dienstanweisung zu einer Pflicht führen könne, die Arbeit innerhalb einer nicht angemessenen Zeit im Sinne von Ziffer 10.2 BV Arbeitszeit Ärzte aufnehmen zu müssen.
Die Beteiligten haben zuvor ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren in der Angelegenheit geführt. Dort ist der Antrag des Betriebsrats auf die Anordnung einer einstweiligen Unterlassungspflicht durch Beschluss der Kammer vom 7. Januar 2022 - 12 TaBVGa 1513/21 (veröffentlicht in ZTR 2022, 264) - zurückgewiesen worden. In diesem Verfahren war allerdings das Beschlussverfahren über die Wirksamkeit der BV Arbeitszeit Ärzte in 2014 von den Beteiligten nicht angesprochen worden und dem Gericht demzufolge nicht bekannt.
II.
Die Beschwerde hat Erfolg und führt zur Antragsstattgabe. Die Arbeitgeberin ist verpflichtet, die Anweisung zu unterlassen, weil sie mit der darin enthaltenen einseitigen Vorgabe einer Anrückzeit, die nicht für alle Anwendungsfälle gesichert angemessen ist, den Anspruch des Betriebsrates auf Durchführung der Betriebsvereinbarung verletzt.
1. Die Beschwerde ist zulässig.
Ihre Statthaftigkeit als Beschwerde gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts, der das erstinstanzliche Beschlussverfahren beendet hat, folgt aus § 87 Absatz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG). Die Monatsfrist für die Einlegung und die durch Gerichtsbeschluss verlängerte Frist zur Begründung der Beschwerde aus §§ 87 Absatz 2 Satz 1, 66 Absatz 1 Satz 1 ArbGG hat der Arbeitgeber gewahrt. Die Begründung der Beschwerde genügt den inhaltlichen Anforderungen aus § 89 Absatz 2 Satz 2 ArbGG.
2. Die Beschwerde ist begründet. Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch besteht als Durchführungsanspruch aus der rechtskräftig als wirksam festgestellten Regelung zur angemessenen Anrückzeit aus der BV Arbeitszeit Ärzte, wie sie von der Anweisung nicht in allen Anwendungsfällen sicher beachtet wird.
a. Nach § 77 Absatz 1 Satz 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) hat der Arbeitgeber Betriebsvereinbarungen im Betrieb durchzuführen. Hierauf hat der Betriebsrat einen eigenständigen Anspruch (BAG, 29. April 2004 - 1 ABR 30/02, juris Rn 99). Aus dem Durchführungsanspruch kann ein Unterlassungsanspruch folgen (vgl. BAG, 5. Oktober 2010 - 1 ABR 71/09, juris Rn 7)
b. Voraussetzung des Durchführungsanspruchs ist, dass die Betriebsvereinbarung wirksam ist (BAG, 29. April 2004 - 1 ABR 30/02, juris Rn 100). Vorliegend ist die Wirksamkeit der Betriebsvereinbarung einschließlich der Regelung zur Rufbereitschaft bei Ziffer 10.2 durch den rechtskräftigen Beschluss des Arbeitsgerichts Brandenburg an der Havel vom 27. Februar 2014 festgestellt. Infolgedessen ist vorliegend den Fragen nach einer Überschreitung der Mitbestimmungspflicht bei der Bestimmung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit nach § 87 Absatz 1 Nr. 2 BetrVG und einer Verletzung des Tarifvorrangs im Hinblick auf die im Tatbestand wiedergegebene Tarifvorschrift nicht nachzugehen.
aa. Einschlägig ist für das Beschlussverfahren in betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten die allgemeine Regelung zur materiellen Rechtskraft aus § 322 Zivilprozessordnung. Beschlüsse im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der formellen und materiellen Rechtskraft fähig (BAG, 6. Juni 2000 - 1 ABR 21/99, juris Rn 23).
bb. Danach sind die hiesigen Beteiligten, die als Arbeitgeberin und damals amtierender Betriebsrat Beteiligte des Verfahren über die Wirksamkeit der BV Arbeitszeit Ärzte waren, an das rechtskräftige Ergebnis des Beschlussverfahrens aus 2014 gebunden. Dort ist der Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit der BV Arbeitszeit Ärzte formell rechtskräftig zurückgewiesen worden. Damit ist die Wirksamkeit der BV festgestellt. Identität des Streitgegenstandes ist auch insoweit anzunehmen, als das "kontradiktorische Gegenteil" der im ersten Prozess ausgesprochenen Rechtsfolge in Rede steht (Musielak/Voit/Musielak, 20. Aufl. 2023, ZPO § 322 Rn 21). Weist das Arbeitsgericht den Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Einigungsstellenspruchs rechtskräftig zurück, steht damit endgültig fest, dass der Spruch wirksam ist (Ehrich/Fröhlich, Einigungsstelle, 2. Aufl. 2010, F 46; Jacobs, in: GK-BetrVG - Kommentar, 12. Auflage 2022, § 76 BetrVG, Rn 176; Wenning-Morgenthaler, Einigungsstelle, 9. Aufl. 2023, Rn 459).
cc. Unschädlich ist, dass in dem Vorverfahren die vorliegen thematisierten Unwirksamkeitsgründe -soweit aus den Entscheidungsgründen ersichtlich - nicht geprüft wurden. Die Verbindlichkeit der formell rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung zur Wirksamkeit des Einigungsstellenspruchs ist unabhängig davon, ob in dem Verfahren alle Unwirksamkeitsgründe thematisiert worden sind. Grundsätzlich hat in dem Beschlussverfahren über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Einigungsstellenspruches eine Prüfung nach allen in Betracht kommenden Unwirksamkeitsgründen zu erfolgen. Der Spruch der Einigungsstelle unterliegt der arbeitsgerichtlichen Rechtskontrolle, die sich auf Zuständigkeit, das zu beachtende Verfahren und die inhaltliche Rechtsmäßigkeit des Spruchs erstreckt, allerdings mit Einschränkungen hinsichtlich des der Einigungsstelle zustehenden Ermessensspielraums (Fitting, BetrVG, 31. Auflage 2022, § 76 Rn 138). Ob ein Antrag auf Feststellung der Unwirksamkeit des Spruchs der Einigungsstelle begründet ist, ist unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Der Antragsteller kann dem Gericht den Inhalt der rechtlichen Prüfung nicht vorschreiben und diese nicht auf bestimmte Unwirksamkeitsgründe beschränken (vgl. BAG, 11. März 1986 - 1 ABR 12/84, juris Rn 17). Dementsprechend waren in dem Verfahren in 2014 auch die hier thematisierten Unwirksamkeitsgründe Fehlen eines erzwingbaren Mitbestimmungsrechts über die Anrückzeiten und Vorrang der die Arbeitgeberin bindenden Tarifvorschriften zu prüfen. Hinsichtlich der Verbindlichkeit der formell rechtskräftigen Feststellung zur Wirksamkeit oder Unwirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs ist es daher ohne Belang, welchen Mangel der Antragsteller geltend gemacht hat und ob er alle in Betracht kommenden Mängel gerügt hat: Das Arbeitsgericht entscheidet über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Spruchs der Einigungsstelle, nicht aber über die Begründetheit der Rüge bestimmter Rechtsverletzungen. Es hat sonstige Unwirksamkeitsgründe von Amts wegen zu beachten (§ 83 Abs. 1 ArbGG), weil die Wirksamkeit des Spruchs unter allen rechtlichen Gesichtspunkten zu überprüfen ist (Jacobs, in: GK-BetrVG - Kommentar, 12. Auflage 2022, § 76 BetrVG, Rn 176).
cc. Diese Grundsätze gelten entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin auch für den möglichen Unwirksamkeitsgrund Fehlen eines Mitbestimmungsrechts. Die Verbindlichkeit der formell rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung zur Wirksamkeit des Einigungsstellenspruchs ist insbesondere unabhängig davon, ob in dem Verfahren das Fehlen eines Mitbestimmungsrechts oder der Voraussetzungen für die Verbindlichkeit eines Einigungsstellenspruchs im freiwilligen Einigungsstellenverfahren explizit Gegenstand der gerichtlichen Prüfung waren. Zwar ist der Hinweis der Arbeitgeberin zutreffend, dass das Bestehen einer Mitbestimmungspflicht hinsichtlich der Anrückzeit als eigener Streitgegenstand zum Gegenstand eines Beschlussverfahrens gemacht werden könnte, ohne dass die (implizite) Beantwortung dieser Rechtsfrage als Vorfrage in einem Wirksamkeitsprüfungsverfahren wegen des Einigungsstellenspruchs dem entgegenstände (vgl. BAG, 20. April 1982 - 1 ABR 22/80, juris Rn 20). Dies schmälert aber nicht die Reichweite der materiellen Rechtskraft des Beschlusses aus 2014, wie er gerade die Wirksamkeit des Einigungsstellenspruchs zum Gegenstand hat.
dd. Ebenso wenig können aus der Vorschrift zum freiwilligen Einigungsstellenverfahren in § 76 Absatz 6 BetrVG Gründe gegen die Annahme einer rechtskräftigen Klärung der Wirksamkeit der BV Arbeitszeit Ärzte hergeleitet werden. Zwar würde das Fehlen eines Mitbestimmungsrechts zur Folge haben, dass die Einigungsstelle insoweit nur hätte tätig werden dürfen auf Antrag oder im Einverständnis beider Betriebsparteien. Der Spruch der Einigungsstelle könnte die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat nur dann ersetzen, wenn beide Seiten sich dem Spruch im Voraus unterworfen oder ihn nachträglich angenommen haben, vgl. § 76 Absatz 6 Satz 2 BetrVG. Dies bedeutet aber nicht, dass die Frage nach der Regelungsbefugnis der Einigungsstelle nicht Gegenstand des Anfechtungsverfahrens gewesen ist. Dort hätte die Reichweite des einschlägigen Mitbestimmungsrechts geprüft werden und ggf. die Voraussetzungen einer Verbindlichkeit des Einigungsstellenspruches als Ergebnis eines freiwilligen Einigungsstellenverfahrens geprüft werden müssen. Insoweit wäre das Fehlen von Unterwerfung oder nachträglicher Annahme ein ebenfalls zu prüfender Unwirksamkeitsgrund gewesen. Tatsächlich haben nach den Entscheidungsgründen zu dem Verfahren aus 2014 die Betriebsparteien damals die Betriebsvereinbarung nicht als (teilweise) freiwillig angesehen und abgeschlossen. Vielmehr beruhte der Spruch der Einigungsstelle auf der Prämisse, es bestehe eine Mitbestimmungspflichtigkeit der durch die BV geregelten Gegenstände. Hiergeben hätte die Arbeitgeberin in dem Beschlussverfahren in 2014 sich wenden können und müssen, wenn sie eine Bindung an die Regelung zur Anrückzeit hätte vermeiden wollen.
ee. Schließlich ist die Annahme einer Bindung an die Betriebsvereinbarung trotz Zweifeln an dem Bestehen einer Mitbestimmungspflicht wegen der Anrückzeit und der Wahrung des Tarifvorrangs aus § 77 Absatz 3, § 87 Absatz 1 Satz 1 BetrVG (vgl. LArbG Berlin-Brandburg, 7. Januar 2022 - 12 TaBVGa 1513/21, juris Rn 26ff) nicht schlechthin unbillig oder untragbar. Die Arbeitgeberin kann sie durch Kündigung der Betriebsvereinbarung (vgl. § 77 Absatz 5 BetrVG) oder deren einvernehmliche Abänderung beenden. Ausgehend von der Hypothese, dass die Regelung der Anrückzeit nicht dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterfällt, würde die Regelung bei Ziffer 10.2. nicht nachwirken, vgl. § 77 Absatz 6 BetrVG.
c. Aus dem Durchführungsanspruch kann der Betriebsrat die Unterlassung der Anweisung beanspruchen.
aa. In der BV ist geregelt, dass die Beschäftigten während der Rufbereitschaft telefonisch erreichbar und in der Lage sein müssen, ihre Arbeitszeit innerhalb einer für die notwendige Patientenversorgung angemessenen Zeit aufzunehmen. Diese Regelung hat die Arbeitgeberin auch auf die beschäftigten Fachärzte anzuwenden. Hiervon abweichende Anweisungen darf sie nicht erteilen und dementsprechend auch keine nicht angemessenen Anrückzeiten dienstlich anweisen. Der Feststellung eines groben Verstoßes gegen Verpflichtungen aus dem Betriebsverfassungsgesetz, wie er Voraussetzung für den Unterlassungsanspruch aus § 23 Absatz 3 BetrVG ist, bedarf es für den Unterlassungsanspruch wegen Verletzung der Durchführungspflicht in Bezug auf Betriebsvereinbarungen nicht.
bb. An der generellen Angemessenheit einer Anrückzeit von dreißig Minuten bis zur Verfügbarkeit am Patienten bestehen im Hinblick darauf, dass somit Wege- und Rüstzeiten auch auf dem Gelände des und im Krankenhaus von den dreißig Minuten umfasst sein sollen, durchgreifende Bedenken. Zwar ist die Eingrenzung der freien Wahl des Aufenthaltsortes und damit einhergehend der Möglichkeiten zur Gestaltung der Zeit der Rufbereitschaft gerade ein Wesensmerkmal dieses Dienstes (BAG, 25. März 2021 - 6 AZR 264/20, juris Rn 14). Andererseits kommt eine unangemessen kurz bestimmte Zeit zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme einer Aufenthaltsbeschränkung gleich. In einem solchen Fall ersetzt der Dienstgeber die örtliche Beschränkung lediglich durch den Faktor Zeit und ordnet dadurch konkludent Bereitschaftsdienst an (vgl. BAG, 24. Februar 2022 - 6 AZR 251/21, juris Rn 30). Das Bundesarbeitsgericht hat Reaktionszeiten von zehn Minuten (BAG, 19. Dezember 1991 - 6 AZR 592/89, juris Rn) und 20 Minuten (BAG, 31. Januar 2002 - 6 AZR 214/00, juris Rn 22) zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme für zu kurz befunden. Ein Zeitraum von ca. 25 bis 30 Minuten stehe einer Rufbereitschaft hingegen nicht entgegen (BAG, 27. Juli 2021 - 9 AZR 448/20, juris Rn 49). Wegezeiten in dieser Größenordnung sind nicht unüblich und deshalb vom Arbeitgeber auch bei Rufbereitschaft, die herkömmlicherweise überwiegend zu Hause geleistet wird, generell hinzunehmen.
(BAG, 31. Januar 2002 - 6 AZR 214/00, juris Rn 22). Aus den Darlegungen der Arbeitgeberin wird nicht ersichtlich, dass die angewiesenen Fachärzte unter Berücksichtigung der Wege- und Rüstzeiten bis zur Verfügbarkeit am Patienten bei Wegezeiten vom Wohnort bis zum Krankenhaus von 25 bis 30 Minuten den Abruf gemäß den Vorgaben der Dienstanweisung befolgen können.
cc. Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin folgt nicht aus den in der Anweisung beschriebenen Möglichkeiten des Facharztes, sich durch Anzeige von der Rufbereitschaft befreien zu lassen, die generelle Angemessenheit der Rufbereitschaft. Diese ist vielmehr hinsichtlich der Gründe für eine entsprechende Anzeige zu unbestimmt, als dass dadurch gesichert sein würde, dass Fachärztinnen und Fachärzte, für die aus der Vorgabe zur Anrückzeit eine den Rahmen der Rufbereitschaft überschreitende Einschränkung in der Wahl ihres Aufenthaltsortes während der Rufbereitschaft folgen würde, die Anweisung nicht doch meinen, beachten zu müssen. Zwar sprechen für die Vorgabe von dreißig Minuten im Hinblick auf die in Rede stehenden lebensbedrohlichen Notfälle sehr gute medizinische Gründe (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 22. Juni 2022 - L 9 KR 170/19 KL, juris Rn 80). Dies bedeutet aber nicht, dass die Arbeitgeberin bei der Umsetzung dieser Vorgabe nicht ihre betriebsverfassungsrechtlichen Bindungen, wie sie sich aktuell darstellen, beachten müsste.
III.
Zu den Nebenentscheidungen ist wie folgt auszuführen:
Eine Kostenentscheidung ist im Hinblick auf die Gerichtskostenfreiheit des Verfahrens gemäß § 2 Absatz 2 Gerichtskostengesetz nicht angezeigt.
Umstände, die in Anwendung von § 92 Absatz 1 Satz 1, § 72 Absatz 2 ArbGG die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen würden, sind nicht ersichtlich.
Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde wird hingewiesen.