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Urteil vom 17.02.2023 · IWW-Abrufnummer 236982

Hessisches Landesarbeitsgericht - Aktenzeichen 14 Sa 1088/22

Bei § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG handelt es sich um eine Sollvorschrift. Das Fehlen der dort genannten Angaben in der Massenentlassungsanzeige lässt die wirksamkeit der Kündigung unberührt (Anschluss an BAG 19. Mai 2022 - 2 ARZ 424/21).


Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 16. September 2020 ‒ 11 Ca 4532/19 ‒ teilweise abgeändert und das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Februar 2020 auch aufrechterhalten, soweit hierdurch die gegen sie gerichtete Kündigungsschutzklage abgewiesen worden ist.

Die Kosten des Rechtsstreits ‒ einschließlich der Kosten der Revision ‒ hat die Klägerin zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz zuletzt noch um die Wirksamkeit einer ordentlichen, aus betriebsbedingten Gründen ausgesprochenen Kündigung der ursprünglichen Beklagten zu 1) (künftig: Beklagte). Erstinstanzlich hat die Klägerin noch zwei weitere Unternehmen unter dem Gesichtspunkt des § 613a BGB verklagt und ist insoweit unterlegen.

Die zunächst gegen die ursprünglichen Beklagten zu 2) und zu 3) eingelegte Berufung hat die Klägerin zurückgenommen.

Die Klägerin war bei der Beklagten aufgrund schriftlichen mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossenen Arbeitsvertrags (von der Klägerin nur in englischer Sprache zur Akte gereicht, Bl. 42 der Akte) seit dem 1. April 1998 zuletzt als Mitarbeiterin im Processing mit einem durchschnittlichen Bruttomonatslohn von € 4.582,50 tätig.

Die Beklagte erbrachte als konzerninterne Servicegesellschaft jedenfalls bis zum 31. Dezember 2019 aufgrund bestehender Dienstleistungsverträge Dienstleistungen für die A. Diese vertreibt weltweit auf einer Vielzahl von B Neu- und Gebrauchtfahrzeuge an Angehörige des C und der D. Insoweit schloss die Beklagte am 1. Januar 2011 Dienstleistungsverträge mit der E, der in der Berufungsinstanz nicht mehr beteiligten ursprünglichen Beklagten zu 2), der F, und der G ab.

Die Beklagte, eine GmbH i.L, beschäftigte regelmäßig 21 Mitarbeiter am Standort H sowie weitere Mitarbeiter an anderen Standorten sowie im Home-Office. Ein Betriebsrat besteht nicht.

Am 11. Juni 2019 beantragte die Beklagte die Eintragung der Auflösung der Gesellschaft und die Bestellung der Liquidatoren im Handelsregister (Bl. 82 d.A.). Unter dem gleichen Datum reichte sie bei der Agentur für Arbeit Jpersönlich eine schriftliche Massenentlassungsanzeige ein (Bl. 87 ff. der Akte), die dort am 18. Juni 2019 um 9:17 Uhr eingegangen ist. Wegen des Inhalts der Massenentlassungsanzeige wird auf Bl. 87 ff. der Akte Bezug genommen.

Die Agentur für Arbeit J bestätigte mit Schreiben vom 18. Juni 2019 (Bl. 93 d.A.), dass die Entlassungsanzeige am 18. Juni 2019 vollständig eingegangen sei und teilte mit, die gemäß § 18 Abs. 1 KSchG festzusetzende Entlassungssperre ende am 18. Juli 2019.

In der Zeit vom 18. Juni 2019 (einschließlich) bis zum 18. Juli 2019 kündigte die Beklagte insgesamt mindestens 16 Arbeitsverhältnisse, darunter das der Klägerin. Am 18. Juni 2018 fand bei der Beklagten im Betrieb in H eine Betriebsversammlung statt. Bei dieser informierte die Beklagte die Belegschaft über die beabsichtigte Stilllegung des Betriebs. Mindestens acht Kündigungen wurden im Rahmen der Betriebsversammlung gegen 14:00 Uhr an die Arbeitnehmer übergeben.

Das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin kündigte die Beklagte zum 31. Januar 2020 (Bl. 9 ff. der Akte). Die deutsche Version des Schreibens trägt das Datum 18. Juni 2019, in der englischen Version des gleichen Schriftstücks ist handschriftlich der 19. Juni 2020 als Ausstellungsdatum aufgeführt. Die Kündigung ist der Klägerin am 19. Juni 2019 zugegangen.

Mit Schreiben vom 19. Juli 2019 (Bl. 194 ff. d.A.) übersendete die Beklagte der Agentur für Arbeit J die Anlage zu Feld 34 der Entlassungsanzeige, die bei dieser am 23. Juli 2019 eingegangen ist.

Die verbleibenden Arbeitsverhältnisse wurden durch die Beklagte jeweils unter Beachtung der individuell maßgeblichen Kündigungsfrist gekündigt.

Die Beklagte hat der Klägerin gegenüber am 25. September 2020 eine weitere ordentliche Kündigung zum 30. April 2021 ausgesprochen, das Verfahren betreffend die von der Klägerin hiergegen vor dem Arbeitsgericht Frankfurt erhobene Kündigungsschutzklage ist ausgesetzt.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, die ausgesprochene Kündigung sei unwirksam und insoweit unter anderem die Verletzung von § 1 KSchG und § 17 KSchG gerügt. Im Hinblick auf die frühere Beklagte zu 2) hat sie sich auf einen (Teil)betriebsübergang auf diese berufen, hilfsweise auf einen (Teil)betriebsübergang auf die frühere Beklagte zu 3). Abhängig von dem Ausgang der Bestandsanträge hat sie durch entsprechende Hilfsanträge Weiterbeschäftigung durch die Beklagte, die Beklagte zu 2) oder die Beklagte zu 3) gefordert. Schließlich hat sie, teilweise in Form von Hilfsanträgen, Zahlungsansprüche gegenüber der Beklagten geltend gemacht.

Am 5. Februar 2020 ist gegen die Klägerin ein klageabweisendes Versäumnisurteil ergangen (Bl. 247 d.A.), das ihr am 14. Februar 2020 zugestellt worden ist (Bl. 252 der Akte). Hiergegen hat die Klägerin am 20. Februar 2020 Einspruch eingelegt (Bl. 251 ff. d.A.).

Wegen des erstinstanzlichen Parteivorbringens im Übrigen, ihrer Anträge, des vom Arbeitsgericht festgestellten Sachverhalts und des arbeitsgerichtlichen Verfahrens wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main hat mit Urteil vom 16. September 2020 das Versäumnisurteil vom 5. Februar 2020 teilweise aufgehoben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 19. Juni 2019 aufgelöst worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Es hat die Kündigung als unwirksam angesehen, weil die Massenentlassungsanzeige der Beklagten den Voraussetzungen des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG nicht genüge. § 17 Abs. 3 S. 4, 5 KSchG entspreche den unionsrechtlichen Vorgaben, obgleich die RL 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (künftig: MERL) die Unterscheidung zwischen Soll- und Muss-Angaben nicht kenne. Auch Verstöße gegen die „Soll-Angaben“ führten deshalb zur Unwirksamkeit der Kündigung. Selbst wenn die Beklagte die nicht getätigten Angaben zu Feld 34 der Entlassungsanzeige, also die Angaben zu Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer, nachgereicht habe, habe jedenfalls zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung keine wirksame Massenentlassungsanzeige vorgelegen.

Den Weiterbeschäftigungsantrag gegen die Beklagte hat das Arbeitsgericht abgewiesen, weil die Beschäftigung der Klägerin aufgrund der Betriebsstilllegung nicht mehr möglich sei. Für eine Betriebsstilllegung spreche, dass die Liquidation der Beklagten ins Handelsregister eingetragen sei, die schrittweise Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse und die Erstattung der Massenentlassungsanzeige. Es sei auch davon auszugehen, dass sämtliche mit der Beklagten bestehenden Dienstleistungsaufträge bereits durch die jeweiligen Auftraggeber beendet worden seien. Dies folge aus den insoweit vorgelegten Kündigungen auf die Frage der Bevollmächtigung des diese unterzeichnenden Herrn I komme es insoweit nicht an, nachdem die Beklagte zum Ausdruck gebracht habe, diese einseitigen Rechtsgeschäfte gegen sich gelten lassen zu wollen. Weiterhin habe die Beklagte vorgetragen, dass sie keine Geschäftstätigkeit mehr ausübe, woraufhin ein Vortrag der Klägerin, dass gleichwohl noch eine Beschäftigungsmöglichkeit für sie bestehe, nicht erfolgt sei.

Das Arbeitsgericht hat weiterhin sowohl einen Betriebs(teil)übergang auf die Beklagte zu 2) als auch auf die Beklagte zu 3) verneint und die diesbezüglichen Bestandsschutzklagen der Klägerin zurückgewiesen. Ein Übergang des gesamten Betriebs sei unstreitig nicht erfolgt, aber auch von einem Betriebsteilübergang sei nicht auszugehen, weil die Klägerin nicht konkret vorgetragen habe, dass die von ihr bei der Beklagten ausgeübte Tätigkeit einem Betriebsteil zugehört habe, der unter Wahrung seiner Identität auf die Beklagte zu 2) oder die Beklagte zu 3) übergegangen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf die arbeitsgerichtlichen Entscheidungsgründe (Bl. 404 ‒ 411 d.A.) Bezug genommen.

Gegen das ihr am 6. Oktober 2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21. Oktober 2020 Berufung eingelegt und diese mit am 2. Dezember 2020 bei Gericht eingegangener Berufungsbegründungsschrift begründet.

Die Beklagte rügt, das Arbeitsgericht habe zu Unrecht angenommen, dass die Massenentlassungsanzeige vom 17. Juni 2019 unwirksam sei. Es habe verkannt, dass es sich bei den nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zu machenden Angaben um reine“Soll-Angaben“ handele, die auf die Wirksamkeit der Kündigung keine Auswirkung hätten. Mit seiner anderslautenden Rechtsauffassung verstoße das Arbeitsgericht gegen den Willen des deutschen Gesetzgebers, der in der Regelung des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG klar zum Ausdruck komme, gegen die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und gegen europarechtliche Grundsätze. Gegen die Ansicht des Arbeitsgerichts spreche bereits der klare Wortlaut des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Auch aus der Gesetzesbegründung zu § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG ergebe sich, dass es sich insoweit um eine reine Soll-Bestimmung handele, da der Arbeitgeber die fraglichen Angaben häufig noch nicht machen könne.

Der deutsche Gesetzgeber habe auch die unionsrechtlichen Vorgaben in § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG korrekt umgesetzt und sei sogar über diese hinausgegangen.

Die Beklagte beantragt zuletzt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 16. September 2020 ‒ 11 Ca 4532/19 ‒ teilweise abzuändern und das Versäumnisurteil vom 5. Februar 2020 aufrecht zu erhalten, soweit die Kündigungsschutzklage gegen sie durch es abgewiesen worden ist.

Die Klägerin beantragt zuletzt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Das Arbeitsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass auch Verstöße gegen die „Soll-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung führten und dass der damit vorliegende Fehler im Anzeigeverfahren auch nicht dadurch geheilt worden sei, dass die Agentur für Arbeit die Anzeige nicht beanstandet habe. Sie meint, § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG sei richtlinienkonform so auszulegen, dass auch Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zur Entlassung vorgesehenen Arbeitnehmer als zweckdienliche Angaben zugleich mit den „Muss-Angaben“ im Rahmen der Massenentlassungsanzeige mitgeteilt werden müssten.

Den auf Urlaubsabgeltung gezielten Hilfsantrag hat die Klägerin in der Sitzung vom 12. März 2021 zurückgenommen.

Wegen des streitigen Vortrags der Parteien im Berufungsrechtszug bis zur Zurückverweisung wird ergänzend auf den Tatbestand des Urteils der erkennenden Kammer vom 25. Juni 2021 (Bl. 554 ff.) verwiesen.

Die erkennende Kammer hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 18. Juni 2021 zurückgewiesen und ist insofern der Begründung des Arbeitsgerichts, die Kündigung sei wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG unwirksam, gefolgt.

Auf die zugelassene Revision der Beklagten hat das Bundesarbeitsgericht das Berufungsurteil mit Urteil vom 19. Mai 2022 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Revision zurückverwiesen, weil es sich bei § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG um eine Sollvorschrift handele, deren Verletzung nicht zur Unwirksamkeit der betreffenden Kündigung führe. Eine entsprechende Auslegung sei weder möglich noch durch die Richtlinie 98/59/EG vom 20. Juli 1998, geändert durch die Richtlinie (EU) 2015/1794 vom 6. Oktober 2015 geboten. Wegen der Entscheidungsgründe des Urteils des Bundesarbeitsgerichts wird auf Bl.583 ff. d.A. verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der Berufungsschriftsätze und den Inhalt der Sitzungsniederschriften vom 12. März 2021 und vom 17. Februar 2023 verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung ist statthaft, §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 64 Abs. 2 c) ArbGG, § 511 ZPO. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 Abs. 1 und 3 ZPO.

II.

Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Das Versäumnisurteil vom 5. Februar 2020 ist auch aufrechtzuerhalten, soweit hierdurch die Kündigungsschutzklage gegen die Beklagte zurückgewiesen worden ist, § 343 ZPO. Der zulässige Einspruch der Klägerin vom 20. Februar 2020 ist unbegründet, weil die Kündigungsschutzklage unbegründet ist. Die Kündigung der Beklagten vom 19. Juni 2019 ist wirksam. Sie ist nicht sozial ungerechtfertigt, § 1 Abs. 1 und 2 KSchG, sondern durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Die Kündigung ist auch nicht nach § 613a Abs. 4 BGB oder nach § 17 Abs. 1 KSchG iVm. § 134 BGB unwirksam.

1.

Wie vom Arbeitsgericht zutreffend festgestellt gilt die Kündigung nicht gemäß § 7 KSchG als wirksam, da die Klägerin die Kündigung innerhalb der Frist des § 4 S. 1 KSchG mit einer Kündigungsschutzklage angegriffen hat.

2.

Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt, nämlichdurch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt. Eine Sozialauswahl war nicht durchzuführen.

a) Dringende betriebliche Erfordernisse im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG liegen vor, wenn die Umsetzung einer unternehmerischen Entscheidung auf der betrieblichen Ebene spätestens mit Ablauf der Kündigungsfrist zu einem voraussichtlich dauerhaften Wegfall des Bedarfs an einer Beschäftigung des betroffenen Arbeitnehmers führt. Die entsprechende Prognose muss schon im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv berechtigt sein (BAG 20. November 2014 -2 AZR 512/13- Juris; BAG 31. Juli 2015 -2 AZR 422/13 - Juris; BAG 23. Februar 2010 - 2 AZR 268/08 - BAGE 133,240). Ein Rückgang des Arbeitskräftebedarfs kann sich auch daraus ergeben, dass der Arbeitgeber sich zu einer organisatorischen Maßnahme entschließt, deren Umsetzung das Bedürfnis für die Weiterbeschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer dauerhaft entfallen lässt. Eine solche unternehmerische Entscheidung ist gerichtlich nicht auf ihre sachliche Rechtfertigung oder ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen, sondern nur daraufhin, ob sie offensichtlich unsachlich, unvernünftig oder willkürlich ist ( BAG 20. Februar 2014 ‒ 2 AZR 346/12 ‒ BAGE 147, 237; BAG 29. August 2013 ‒ 2 AZR 809/12 - BAGE 146, 37; BAG 20. Dezember 2012 -2 AZR 867/11- NZA 2013, 1003). Ohne Einschränkung nachzuprüfen ist hingegen, ob die fragliche Entscheidung faktisch umgesetzt wurde und dadurch das Beschäftigungsbedürfnis für einzelne Arbeitnehmer wirklich entfallen ist (BAG 29. August 2013 ‒ 2 AZR 809/12 - BAGE 146, 37; BAG 24. Mai 2012 ‒ 2 AZR 124/11- NZA 2012,1223).

b) Die Stilllegung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils zählt zu den dringenden betrieblichen Erfordernissen, die einen Grund zur sozialen Rechtfertigung einer Kündigung abgeben können. Unter einer Betriebsstilllegung ist die Auflösung der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Betriebs- und Produktionsgemeinschaft zu verstehen, die ihre Veranlassung und ihren unmittelbaren Ausdruck darin findet, dass der Unternehmer die bisherige wirtschaftliche Betätigung in der ernstlichen Absicht einstellt, die Verfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen. Damit entfallen die im Betrieb bestehenden Beschäftigungsmöglichkeiten (BAG 14. August 2007-8 AZR 1043 / 06-Juris). Von einer Stilllegung kann jedenfalls dann ausgegangen werden, wenn der Arbeitgeber seine Stilllegungsabsicht unmissverständlich äußert, allen Arbeitnehmern kündigt, etwaige Miet- und Pachtverträge zum nächstmöglichen Zeitpunkt aufgelöst, die Betriebsmittel veräußert und die Betriebstätigkeit vollständig einstellt (BAG 16. Februar 2012 -8 AZR 693/10- Juris). c) Der Arbeitgeber ist allerdings nicht gehalten, eine Kündigung wegen Betriebs(teil)stilllegung erst nach deren Durchführung auszusprechen. Neben der Kündigung wegen erfolgter Stilllegung kommt auch eine Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung in Betracht. Erfolgt die Kündigung wegen beabsichtigter Stilllegung, ist erforderlich, dass der Arbeitgeber im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb bzw. Betriebsteil endgültig stillzulegen. Darüber hinaus muss die künftige Entwicklung der betrieblichen Verhältnisse im Kündigungszeitpunkt bereits greifbare Formen angenommen haben. Solche greifbaren Formen liegen vor, wenn im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung aufgrund einer auf Tatsachen gestützten vernünftigen betriebswirtschaftlichen Betrachtung davon auszugehen ist, zum Zeitpunkt des Kündigungstermins sei mit einiger Sicherheit der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes gegeben (BAG 27. Februar 2020 ‒ 8 AZR 215/19 ‒ Juris). d) So liegt der Fall hier. Zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 19. Juni 2019 hatte die Beklagte bereits entschieden, den Betrieb stillzulegen, nämlich ihren Betriebszweck dauerhaft nicht weiter zu verfolgen und diese Entscheidung hatte auch greifbare Formen angenommen. Dies hat das Arbeitsgericht mit zutreffender Begründung im Rahmen der rechtskräftigen Abweisung des Weiterbeschäftigungsantrags der Klägerin zutreffend festgestellt und die Klägerin ist dem in der Berufung nicht entgegengetreten. Alleiniger Betriebszweck der Beklagten war die Erbringung von Dienstleistungen für die A. Bereits vor Zugang der Kündigung der Klägerin, nämlich mit Kündigungsschreiben vom 10. Juni 2019, waren die zwischen der Beklagten und der E, der F und der G bestehenden Dienstleistungsverträge zum 31. Dezember 2019 gekündigt worden. Die Kammer schließt sich insoweit den Ausführungen des Arbeitsgerichts an, dass es nicht darauf ankommt, ob Herr I zum Ausspruch der Kündigungen der jeweiligen Gesellschaften bevollmächtigt war, weil die Beklagte die Vornahme des einseitigen Rechtsgeschäfts weder gemäß § 180 S. 2 Alt. B1 BGB beanstandet noch das Kündigungsschreiben wegen Nichtvorlage der Vollmachtsurkunde im Original gemäß § 174 BGB zurückgewiesen hat. Die Klägerin hat auch nicht behauptet, entgegen der Kündigungen führe die Beklagte die Dienstleistungsverträge weiter durch oder habe auf die weitere Durchführung gedrungen. Sie behauptet auch nicht, mit den genannten Gesellschaften hätten noch andere, nicht gekündigte Dienstleistungsverträge bestanden. Auch in der Berufung ist entsprechender Vortrag nicht erfolgt.

Ebenfalls zu Recht weist das Arbeitsgericht darauf hin, dass die Klägerin nicht substantiiert vorgetragen hat, die Beklagte habe für weitere als die genannten Gesellschaften Dienstleistungen erbracht. Auch diesbezüglich ist in der Berufung entsprechender Vortrag nicht erfolgt.

Dass die Beklagte bereits zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs beschlossen hatte, ihre Betriebstätigkeit in der ernstlichen Absicht einzustellen, die Verfolgung des bisherigen Betriebszwecks dauernd oder für eine ihrer Dauer nach unbestimmte, wirtschaftlich nicht unerhebliche Zeitspanne nicht weiter zu verfolgen und dass diese Entscheidung greifbare Formen angenommen hatte, ergibt sich auch daraus, dass die Beklagte die Massenentlassungsanzeige erstattet hat, die Stilllegungsentscheidung in einer Betriebsversammlung am 18. Juni 2019 der Belegschaft bekannt gemacht hat, die schrittweise Beendigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse der in ihrem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer vornahm oder einleitete und unter dem 11. Juni 2019 ihre Liquidation ins Handelsregister anmeldete.

Ein Übergang des Betriebs oder jedenfalls eines Betriebsteils, dem das Arbeitsverhältnis der Klägerin zuzuordnen gewesen ist, nach § 613a BGB, der einer (vollständigen) Betriebseinstellung entgegenstünde, liegt ebenfalls nicht vor. Dies hat das Arbeitsgericht mit gründlicher und zutreffender Begründung, die sich die Kammer nach § 69 Abs. 2 ArbGG ausdrücklich zu eigen macht, im Rahmen der (rechtskräftigen) Abweisung der gegen die Beklagten zu 2) und zu 3) gerichteten Feststellungsklagen festgestellt. Die Klägerin ist auch diesen Feststellungen in der Berufung nicht entgegengetreten. Sie hat die zunächst eingelegte Berufung betreffend die Beklagte zu 2) und zu 3) zurückgenommen und hat sich auch nicht mehr darauf berufen, es sei ein Betriebs- oder Betriebsteilübergang auf eine andere Gesellschaft erfolgt.

e) Die Kündigung erweist sich auch nicht wegen fehlerhafter Sozialauswahl als sozial ungerechtfertigt. Eine solche war entbehrlich, da unstreitig sämtliche Arbeitnehmer der Beklagten entlassen wurden.

Die Sozialauswahl war auch nicht wegen Bestehens eines Gemeinschaftsbetriebs auf Arbeitnehmer der erstinstanzlich Beklagten zu 2) zu erstrecken. Die Kammer kann nicht davon ausgehen, dass der Betrieb der Beklagten mit dem der früheren Beklagten zu 2) einen gemeinsamen Betrieb bildete. Insoweit wäre erforderlich, dass diese und die Beklagte die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt einsetzen und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft, der von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird. Hierzu müssten sich die beteiligten Unternehmen zumindest stillschweigend zu einer gemeinsamen Führung rechtlich verbunden haben (BAG 21. Februar 2001 -7 ABR 9/00- Juris).

Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass im Kündigungszeitpunkt ein gemeinsamer Betrieb bestanden hat, trägt der Arbeitnehmer. Mit Rücksicht auf seine typischerweise mangelhafte Kenntnis vom Inhalt der zwischen den beteiligten Unternehmen getroffenen vertraglichen Vereinbarungen kommen ihm dabei Erleichterungen zugute. Der Arbeitnehmer genügt seiner Darlegungslast in einem ersten Schritt, wenn er äußere Umstände aufzeigt, die für die Annahme sprechen, dass sich mehrere Unternehmen über die gemeinsame Führung eines Betriebs unter einem einheitlichen Leitungsapparat geeinigt haben (BAG 10. April 2014 ‒ 2 AZR 647/13 ‒ Juris). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen der Klägerin nicht. Sie hat schon keine äußeren Umstände aufgezeigt, die für das Vorliegen einer Vereinbarung zur gemeinsamen Führung eines Betriebs unter einem einheitlichen Leitungsapparat sprächen. Der Annahme eines gemeinsamen Betriebs steht zudem entgegen, dass die Betriebsstätten der Beklagten und der früheren Beklagten zu 2) mehr als 100 km voneinander entfernt lagen.

3.

Die Kündigung der Beklagten ist nicht gem. § 613a Abs. 4 BGB unwirksam. Sie wurde nicht wegen des Übergangs des Betriebs oder eines Betriebsteils ausgesprochen. Ein Betriebs- oder Betriebsteilübergang liegt nicht vor. Auf die Ausführungen unter 2 d) wird verwiesen.

4.

Die Kündigung vom 19. Juni 2019 ist schließlich nicht gemäß § 17 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 134 BGB unwirksam, weil vor ihrem Zugang keine wirksame Massenentlassungsanzeige erfolgt ist.

a) Eine Massenentlassungsanzeige war erforderlich, weil die Beklagte von mehr als 20 und weniger als 60 Arbeitnehmern in ihrem Betrieb ‒ von 37 Mitarbeitern nach Angabe in der Massenentlassungsanzeige ‒ innerhalb von 30 Kalendertagen mindestens neun Arbeitnehmer ‒ darunter die Klägerin ‒ entlassen hat, § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG. Sie hat allein gegenüber mindestens acht Arbeitnehmern am 18. Juni 2019 den Zugang einer Kündigung bewirkt und am 19. Juni 2019 gegenüber der Klägerin. Dies war und ist zwischen den Parteien unstreitig.

b) Die Massenentlassungsanzeige der Beklagten vom 17. Juni 2019 ist ordnungsgemäß erfolgt.

aa) Sie ist bei der für die Beklagte örtlich zuständigen Agentur für Arbeit J am Morgen des 18. Juni 2019unter Einhaltung der gemäß § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG gebotenen Schriftformund damit vor Bewirkung des Kündigungszugangs gegenüber der Klägerin eingegangen. Dies ist von den Parteien ausdrücklich unstreitig gestellt worden.

bb) Die Anzeige enthält sämtliche nach § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG erforderlichen Angaben, nämlich Name und Sitz der Beklagten, Art des Betriebes, Gründe für die geplante Entlassung, Zahl und Berufsgruppe der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer sowie den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen. Zur Sozialauswahl gibt die Beklagte zutreffend an, dass aufgrund der vollständigen und endgültigen Betriebsschließung eine solche nicht erforderlich ist, so dass Kriterien nicht zu benennen sind ( BAG 28. Mai 2009 ‒ 8 AZR 273/08 ‒ juris). Inhaltlich fehlerhafte Angaben werden von der Klägerin nicht behauptet und sind auch nicht ersichtlich.

cc) Unschädlich ist, dass die Anzeige die Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG ‒ Angaben über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer ‒ nicht enthielt. § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG stellt eine Sollvorschrift dar, deren Verletzung nicht zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen anzeigepflichtigen Kündigung führt. An die diesbezügliche Rechtsauffassung des Bundesarbeitsgerichts in der aufhebenden Entscheidung vom 19. Mai 2022 (2 AZR 467/21) ist die Kammer nach § 563 Abs. 2 ZPO gebunden.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. §§ 91, 516 Abs. 3, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Die Klägerin ist, soweit sie ihre Klage und ihre Berufung nicht zurückgenommen hat, im Rechtsstreit vollständig unterlegen.

Zwar haben auch die frühere Beklagten zu 2) und zu 3) formal ihre Berufungen zurückgenommen, da beide erstinstanzlich voll obsiegt haben, war jedoch die von dem gemeinsamen Prozessbevollmächtigten der Beklagten eingereichte Berufungsschrift vom 21. Oktober 2020 dahingehend auszulegen, dass sie sich ausschließlich gegen das Unterliegen der Beklagten richtete.

Die Kosten der Revision hat die unterlegene Klägerin zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.

IV.

Für die Zulassung der Revision gem. § 72 Abs. 2 ArbGG ist kein gesetzlicher Grund ersichtlich.

Vorschriften§ 613a BGB, § 18 Abs. 1 KSchG, § 1 KSchG, § 17 KSchG, § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG, § 17 Abs. 3 S. 4, 5 KSchG, RL 98/59/EG, § 17 Abs. 3 S. 4 und 5 KSchG, § 17 Abs. 3 Satz 5 KSchG, Richtlinie 98/59/EG, Richtlinie (EU) 2015/1794, §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 64 Abs. 2 c) ArbGG, § 511 ZPO, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 Abs. 1, 3 ZPO, § 343 ZPO, § 1 Abs. 1, 2 KSchG, § 613a Abs. 4 BGB, § 17 Abs. 1 KSchG, § 134 BGB, § 7 KSchG, § 4 S. 1 KSchG, § 1 Abs. 2 KSchG, § 174 BGB, § 69 Abs. 2 ArbGG, § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 KSchG, § 17 Abs. 3 S. 2 KSchG, § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG, § 563 Abs. 2 ZPO, § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 91, 516 Abs. 3, 269 Abs. 3 S. 2 ZPO, § 91 Abs. 1 ZPO, § 72 Abs. 2 ArbGG