Beschluss vom 28.08.2023 · IWW-Abrufnummer 237179
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz - Aktenzeichen 15 Ta 9/23
Eine nicht bemittelte Partei darf in der Regel im Rahmen eines Kündigungsprozesses auch einen Antrag auf Entfernung einer Abmahnung aus ihrer Personalakte stellen, ohne dass ihr dieses Prozessverhalten als mutwillig angelastet und ihr deshalb für diesen Antrag die Prozesskostenhilfe mit der Begründung versagt werden darf, sie hätte erst den Ausgang des Kündigungsprozesses abwarten müssen (Zustimmung zu LAG Baden-Württemberg 14.08.2023 - 4 Ta 7/23; Abweichung von LAG Hamm 22.10.2009 - 14 Ta 85/09 - und LAG Köln 14.11.2017 - 9 Ta 180 /17 ).
Im Beschwerdeverfahren mit d. Beteiligten
- Beschwerdeführer -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 15. Kammer - durch die Vorsitzende Richterin am Landesarbeitsgericht Steer ohne mündliche Verhandlung am 28.08.2023
beschlossen:
Tenor: I. Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Ulm vom 26.05.2023 - 3 Ca 136/23 - teilweise abgeändert. 1. Dem Kläger wird ab 03.05.2023 auch für seine Anträge Nr. 3 und Nr. 4 vom 11.04.2023 Prozesskostenhilfe bewilligt. 2. Im Umfang der Bewilligung wird dem Kläger Herr Rechtsanwalt A. R. als Prozessbevollmächtigter beigeordnet. 3. Auf die Prozesskosten sind derzeit keine Zahlungen zu leisten. II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Sachverhalt
A.
Der Kläger erstrebt mit seiner sofortigen Beschwerde die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für seine Klageanträge Nr. 3 und Nr. 4. Diese richten sich auf Entfernung zweier vom 16.01.2023 datierender Abmahnungen aus der Personalakte des Klägers, weil diese Abmahnungen in der Sache unberechtigt seien.
Für seine Klageanträge Nr. 1 und Nr. 2 hatte ihm das Arbeitsgericht mit Beschluss vom 26.05.2023 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und ihm seinen Prozessbevollmächtigten beigeordnet. Klageantrag Nr. 1 richtete sich auf die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 29.03.2023, noch durch deren hilfsweise erklärte ordentliche Kündigung vom 29.03.2023 zum nächstzulässigen Zeitpunkt beendet werde. Klageantrag Nr. 2 war eine allgemeine Feststellungsklage. Mit Klageantrag Nr. 5 erstrebte der Kläger ein qualifiziertes Zwischenzeugnis.
Die Klage nebst Prozesskostenhilfeantrag war der Beklagten am 18.04.2023 zugestellt worden. Der Rechtsstreit endete durch einen im Gütetermin vom 26.05.2023 geschlossenen Vergleich, nachdem die Beklagte von der ihr bis zum 09.06.2023 eingeräumten Widerrufsfrist keinen Gebrauch gemacht hatte.
Mit Beschluss vom 26.05.2023 gab das Arbeitsgericht dem Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung teilweise statt, nämlich für die Bestandsschutzanträge Nr. 1 und Nr. 2. Für die übrigen drei Klageanträge wies es den Antrag wegen Mutwilligkeit zurück. Dieser Beschluss wurde dem Kläger am 13.06.2023 zugestellt. Am 07.07.2023 ging beim Arbeitsgericht die vorliegende sofortige Beschwerde des Klägers ein, mit der der Kläger ausschließlich die Versagung der Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung für seine Klageanträge Nr. 3 und Nr. 4 angreift. Das Arbeitsgericht half mit Beschluss vom 20.07.2023 der sofortigen Beschwerde nicht ab und legte sie dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vor.
Von der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird gem. § 78 Satz 1 ArbGG, § 572 Abs. 4, § 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO in entsprechender Anwendung abgesehen, nachdem gegen den vorliegenden Beschluss kein Rechtsmittel möglich ist und § 313 a ZPO auf alle Arten von Beschlüssen Anwendung findet (Zöller/Feskorn ZPO 34. Aufl. 2022 § 329 ZPO Rn. 40).
Entscheidungsgründe
B.
Die zulässige sofortige Beschwerde des Klägers ist in vollem Umfang begründet.
I.
1. Die sofortige Beschwerde des Klägers ist gemäß § 11 a Abs. 1 ArbGG, § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO statthaft und ist gemäß § 78 Satz 1 ArbGG, § 569 Abs. 1 und 2, § 127 Abs. 2 Satz 3 ZPO innerhalb der einmonatigen sofortigen Beschwerdefrist frist- und formgerecht erhoben worden.
2. Anderweitige Bedenken gegen die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde bestehen nicht.
II.
Die sofortige Beschwerde des Klägers ist vollumfänglich begründet. Die vom Kläger mit seinen Klageanträgen Nr. 3 und Nr. 4 beabsichtigte Rechtsverfolgung bot hinreichende Aussicht auf Erfolg und war entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts nicht mutwillig.
1. Die vom Arbeitsgericht nicht geprüfte Frage der hinreichenden Erfolgsaussicht iSv. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist für beide Anträge zu bejahen.
Hinsichtlich der Abmahnung Anlage K 4 (Vorwurf des eigenmächtigen Urlaubsantritts vom 03.01.2023 bis zum 05.01.2023) hat der Kläger in der Klageschrift geltend gemacht, ihm sei ordnungsgemäß Urlaub bewilligt worden. Damit hat der Kläger zunächst einen Rechtfertigungsgrund für sein abgemahntes Fernbleiben behauptet. Eine nähere Substantiierung dieses Rechtfertigungsgrunds war nicht nötig, da die Beklagte der Behauptung des Klägers bis zu dem hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht entgegengetreten ist. Der entscheidungserhebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten im Prozesskostenhilfeverfahren ist der Zeitpunkt der so genannten Bewilligungsreife (vgl. BAG 08.05.2003 - 2 AZB 56/02 - ZInsO 2003, 722). Bewilligungsreife lag hier am 03.05.2023 vor. Denn wenn das Gericht - wie hier - dem Gegner keine Frist zur Stellungnahme setzt, tritt die Bewilligungsreife in der Regel zwei Wochen nach dem (hier am 18.04.2023 erfolgten) Zugang des Prozesskostenhilfeantrags bei der Beklagten ein, ohne Einrechnung des Zustellungstags (vgl. LAG Hamm 22.07.2013 - 14 Ta 138/13 - juris Rn. 19 mwN). Bis dahin lag hier keine schriftliche Klageerwiderung vor. Ein beklagtenseitiges Bestreiten der klägerseits behaupteten Bewilligung des Urlaubs ist der Akte im Übrigen auch für die Zeit nach dem 03.05.2023 nicht zu entnehmen, da die Beklagte überhaupt nicht schriftlich zur Sache Stellung genommen hat und auch das Güteterminsprotokoll keine Ausführungen der Beklagten zur Sache enthält.
Den in der zweiten angegriffenen Abmahnung (Anlage K 6) enthaltenen Vorwurf des unentschuldigten Fernbleibens am 16.01.2023 hat der Kläger in der Klageschrift bestritten. Insoweit gilt Entsprechendes wie für den Vorwurf des eigenmächtigen Urlaubsantritts: Im entscheidungserheblichen Zeitpunkt bestand hinreichende Erfolgsaussicht.
2. Die beiden Klageanträge sind auch nicht mutwillig iSv. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO.
a) Während die hinreichende Aussicht auf Erfolg die materielle Begründetheit des Anspruchs betrifft, wird von der Frage der Mutwilligkeit in erster Linie die verfahrensmäßige Geltendmachung des Anspruchs betroffen (vgl. BAG 17. Februar 2011 - 6 AZB 3/11 - BAGE 137, 145 oder juris Rn. 8).
Mutwillig ist eine Rechtsverfolgung in der Regel dann, wenn eine wirtschaftlich leistungsfähige, also nicht bedürftige Partei bei sachgerechter und vernünftiger Einschätzung der Prozesslage ihre Rechte nicht in gleicher Weise verfolgen würde (vgl. BGH 31.08.2017 - III ZB 37/17 - Rn. 8 mwN) oder sogar von der Rechtsverfolgung Abstand nehmen würde (vgl. BAG 17.02.2011 - 6 AZB 3/11 - BAGE 137, 145 Rn. 9 mzwN; BGH 06.12.2010 - II ZB 13/09 - juris Rn. 8).
Dieses am hypothetischen Verhalten der selbstzahlenden Partei ausgerichtete Verständnis der Mutwilligkeit ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Gewährleistung der Rechtsschutzgleichheit durch Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz des Art. 20 Abs. 3 GG gebietet lediglich, den unbemittelten Rechtssuchenden einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. BVerfG 13.07.2020 - 1 BvR 631/19 - juris Rn. 28 mwN).
Die Annahme, dass eine bemittelte Partei ihre Rechte nicht in gleicher Weise verfolgen würde, kann beispielsweise zutreffen, wenn ein kostengünstigerer Weg offensteht und dieser Weg genauso erfolgversprechend ist. Deswegen liegt Mutwilligkeit regelmäßig vor, wenn eine Partei keine nachvollziehbaren Sachgründe dafür vorbringt, warum sie ihre Ansprüche nicht in einer Klage, sondern im Wege von - die Kosten der Rechtsverfolgung erhöhenden - Teilklagen geltend macht oder nicht plausibel erklärt, aus welchen Gründen sie einen neuen Prozess anstrengt, obwohl sie das gleiche Klageziel kostengünstiger im Wege der Erweiterung einer bereits anhängigen Klage hätte erreichen können (vgl. BAG 17. Februar 2011 - 6 AZB 3/11 - BAGE 137, 145 Rn. 9 mzwN; vgl. auch BVerfG 13.07.2020 - 1 BvR 631/19 - juris Rn. 33: "Gebot kostensparender Verfahrensführung").
Von den zur Prüfung der Mutwilligkeit berufenen Gerichten dürfen hierbei gegebenenfalls Erfahrungssätze über das Verhalten einer die Prozesslage sachgerecht und vernünftig einschätzenden Partei zugrundegelegt werden. Die betreffenden Erfahrungssätze muss es aber tatsächlich geben (vgl. beispielsweise zu zwei vom BVerfG als nicht existent abgelehnten Erfahrungssätzen BVerfG aaO Rn. 31 und 33). Um die angenommene Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung in einer mit der Garantie der Rechtsschutzgleichheit vereinbaren Weise zu begründen, muss das Gericht zu einem Fehlen sachlicher Gründe für die von der Partei gewählte Verfahrensweise Feststellungen treffen (vgl. BVerfG aaO Rn. 33).
Für den Fall einer - im Ergebnis als mutwillig eingeordneten - Teilklage eines Insolvenzverwalters hat der Bundesgerichtshof (06.12.2010 - II ZB 13/09 - juris Rn. 9 und 10) überzeugend ausgeführt, ein verständiger, nach den Interessen der Gläubigergesamtheit handelnder Verwalter werde regelmäßig schon deshalb bestrebt sein, die gesamte Forderung mit einer Klage geltend zu machen, weil die Erhebung mehrerer Teilklagen die Kosten der Rechtsverfolgung erhöhe und die Dauer des Insolvenzverfahrens verlängere. Eine Teilklage werde er nur erheben, wenn hierfür ein sachlich begründeter Anlass bestehe. Nachvollziehbare Sachgründe könnten beispielsweise begründete Zweifel sein, ob der erstrebte Titel in vollem Umfang durchgesetzt werden könne. "Im Einzelfall" könne auch die begründete Erwartung bestehen, dass der Prozessgegner nach Verurteilung zur Leistung eines Teilbetrags den ganzen Anspruch begleichen werde.
b) Dies zugrundegelegt liegt hier keine Mutwilligkeit vor.
aa) Es ist nicht als mutwillig anzusehen, wenn ein Arbeitnehmer, der sich im Wege der Klage gegen eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung wendet, im Wege der objektiven Klagehäufung gleichzeitig oder nachträglich durch Klageerweiterung zugleich die Entfernung einer oder mehrerer Abmahnungen aus der Personalakte verlangt, weil diese in der Sache unberechtigt seien (vgl. LAG Baden-Württemberg 14.08.2023 - 4 Ta 7/23 - zVv.; aA LAG Hamm 22.10.2009 - 14 Ta 85/09 - juris und LAG Köln 14.11.2017 - 9 Ta 180/17 - juris).
bb) Die für die gegenteilige Ansicht angeführten Argumente des Arbeitsgerichts, das sich den Erwägungen der 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm aus deren Beschluss vom 22.10.2009 (14 Ta 85/09 - juris) angeschlossen hat, überzeugen nicht.
(1) Die These, es sei "ausreichend", zunächst den Ausgang des Kündigungsprozesses abzuwarten, verkennt die Bedeutung der zusätzlichen Dauer der möglichen Rechtsverletzung.
Billigt das Gericht bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 114 ZPO dem Antrag hinreichende Erfolgsaussicht zu, handelt es sich jedenfalls nicht um einen Fall, in dem die Berechtigung des Verbleibs der Abmahnung in der Personalakte höchstwahrscheinlich ist. Vielmehr besteht dann eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers aktuell und fortdauernd verletzt sein kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitnehmer in entsprechender Anwendung der §§ 242, 1004 BGB die Entfernung einer zu Unrecht erteilten Abmahnung aus der Personalakte verlangen, da eine missbilligende Äußerung des Arbeitgebers in Form einer Abmahnung geeignet ist, den Arbeitnehmer in seinem beruflichen Fortkommen und seinem Persönlichkeitsrecht zu beeinträchtigen (vgl. BAG 27.11.2008 - 2 AZR 675/07 - juris Rn. 13 und 15 mwN).
Diese nicht unwahrscheinliche Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts müsste nach der Ansicht des Arbeitsgerichts die unbemittelte Partei infolge der Versagung der Prozesskostenhilfe besonders lange hinnehmen. Dafür gibt es keinen nachvollziehbaren Grund (ebenso LAG Baden-Württemberg 14.08.2023 - 4 Ta 7/23 - zVv.).
(2) Unabhängig davon ist es keineswegs höchstwahrscheinlich, dass sich das berechtigte Rechtsschutzinteresse des Klägers durch bloßes Abwarten des Ausgangs des Kündigungsschutzprozesses erledigen wird. Für eine begründete Erwartung im vorliegenden Einzelfall (vgl. BGH 06.12.2010 - II ZB 13/09 - juris Rn. 10 zur Einzelfallbetrachtung in einer strukturell vergleichbaren Konstellation) des Inhalts, dass die Beklagte die Abmahnungen im Falle des Obsiegens des Klägers im Bestandsschutzverfahren ohnehin, ohne den Druck eines hierauf gerichteten Gerichtsverfahrens, aus der Personalakte genommen hätte, gibt es keine Anhaltspunkte. Insbesondere hat die Beklagte Derartiges nicht angekündigt.
Spezifische, fallbezogene Anhaltspunkte für ein solches zu prognostizierendes Verhalten der Beklagten wären aber erforderlich. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Arbeitgeber sich im Normalfall so verhalten.
Erfahrungssätze sind Hilfsmittel. Die Feststellung von allgemein anerkannten Erfahrungssätzen ist als Tatfrage der Tatsacheninstanz vorbehalten. Dabei ist es dem Tatsachengericht nicht verwehrt, das Bestehen oder Nichtbestehen eines Erfahrungssatzes zu beurteilen, wenn es dazu über ausreichende Sachkunde und Lebenserfahrung verfügt. Anderenfalls hat es sich der Hilfe eines Sachverständigen zu bedienen (vgl. BAG 13.10.2009 - 9 AZR 722/08 - BAGE 132, 210 oder juris Rn. 65).
Dies zugrundegelegt stellen das Landesarbeitsgericht Hamm und ihm folgend das Arbeitsgericht nicht in überzeugender Weise einen Erfahrungssatz des Inhalts fest, dass Arbeitgeber im Normalfall nach einem von ihnen verlorenen Kündigungsprozess Abmahnungen aus der Personalakte des betroffenen Arbeitnehmers freiwillig entfernen. Dies gilt sowohl für solche Abmahnungen, auf die sich der Arbeitgeber zur Begründung der Kündigung mit gestützt hatte, als auch auf solche, die nicht zur Kündigungsbegründung mit herangezogen wurden. Für erstere meint das Landesarbeitsgericht Hamm, ein "verständiger" Arbeitgeber werde "in der Regel" diese Abmahnungen freiwillig aus der Personalakte nehmen. Diese These beschreibt bereits kein erfahrungsgemäß eintretendes allgemeines Arbeitgeberverhalten, denn sie beinhaltet zwei Einschränkungen. Sie besagt schon deshalb nicht, dass bei der Gesamtgruppe der Arbeitgeber mit einem solchen Verhalten höchstwahrscheinlich zu rechnen ist und jedes abweichende Verhalten regelwidrig wäre. Erst recht fehlt nach den eigenen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts Hamm die Darlegung eines entsprechenden Erfahrungssatzes bei solchen Abmahnungen, die nichts mit dem Kündigungssachverhalt zu tun haben. Hier meint das Landesarbeitsgericht Hamm nur, es sei "nicht ausgeschlossen", dass der Arbeitgeber sich zur freiwilligen Entfernung entschließe. Kann man einen Sachverhalt bloß "nicht ausschließen", ist dies offensichtlich keine Basis für die Feststellung, dass dieser Sachverhalt erfahrungsgemäß eintreten wird.
Auch objektiv ist für die 15. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg keine Grundlage für einen Erfahrungssatz des behaupteten Inhalts erkennbar. Insbesondere überzeugt auch ein weiterer Baustein der Argumentation des Landesarbeitsgerichts Hamm nicht. Für die erstgenannte Gruppe von Abmahnungen (solche, auf die sich der Arbeitgeber zur Begründung seiner Kündigung stützt) meint das Landesarbeitsgericht Hamm zwar, deren Berechtigung sei im Kündigungsprozess "ohnehin zu überprüfen". Das trifft aber nicht zu. Wenn es beispielsweise schon an einem als Kündigungsgrund an sich geeigneten unmittelbaren Kündigungsvorfall fehlt, also zum Beispiel an einem (nicht durch Abmahnung "verbrauchten") vertragsverletzenden Verhalten, gibt es keinen Grund für das Gericht, die Rechtmäßigkeit vorangegangener Abmahnungen im Rahmen des reinen Kündigungsprozesses zu untersuchen. Solche Fälle sind nicht selten.
(3) Überdies bestehen auch allgemein keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Partei, die ihren Prozess selbst finanziert, von der Stellung von Anträgen auf Herausnahme von Abmahnungen aus der Personalakte im Kündigungsprozess in aller Regel absieht und erst den Prozessausgang abwartet. Ein derartiges, generelles Arbeitnehmerverhalten entspricht ebenfalls keinem Erfahrungssatz.
Die Bandbreite der Prozessgestaltungen und Motive für die jeweilige Gestaltung ist vielmehr groß. Jedenfalls ist es nicht etwa nur auf ein Gebühreninteresse der Prozessbevollmächtigten oder auf Rechthaberei der Partei als Selbstzweck zurückzuführen, wenn zeitgleich mit einer Kündigung auch Abmahnungen angegriffen werden. Es gibt hierfür legitime Interessen. Die 15. Kammer schließt sich folgender Feststellung der 4. Kammer des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg an (14.09.2023 - 4 Ta 7/23 - zVv.): "Die Erfahrung in der Praxis zeigt, dass vermögende Personen entgegen der Annahme des Arbeitsgerichts hiervon auch vielfach Gebrauch machen, zumal zeitnäher und mit größerem Erinnerungsvermögen über diese Anträge befunden werden kann."
Die Entscheidung eines Arbeitnehmers, sich dann, wenn ohnehin schon ein Rechtsstreit das Arbeitsverhältnis belastet, auch gegen eine Abmahnung zur Wehr zu setzen oder nicht, kann von vielen Punkten abhängen, so zum Beispiel davon, als wie ehrverletzend die Abmahnung vom Arbeitnehmer empfunden wird, oder davon, ob die Frage des Verbotenseins des abgemahnten Verhaltens sich auch in Zukunft stellen kann. Der besondere und allgemeine Kündigungsschutz ist vom Gesetzgeber als Bestandsschutz konzipiert worden. Die Fortsetzung eines Arbeitsverhältnisses nach gewonnenem Kündigungsprozess ist deshalb kein "Störfall", sondern wird vom Gesetz als Normalfall angesehen. In Konsequenz dessen ist es ein grundsätzlich anerkennenswertes Interesse des Arbeitnehmers, in eine Fortsetzung des erfolgreich "erstrittenen" Arbeitsverhältnisses möglichst sofort und rechtssicher ohne die Belastung durch Abmahnungen in der Personalakte zu starten.
(4) Im Ergebnis erweist sich die Einbeziehung von Anträgen auf Entfernung von Abmahnungen aus der Personalakte in den Kündigungsprozess nicht von vornherein und in aller Regel als ein Verstoß gegen das Gebot kostensparender Verfahrensführung. Im Gegenteil entspricht sie in vielen Fällen im Endeffekt sogar diesem Gebot, weil sie die durch getrennte Prozesse drohenden höheren Kosten vermeidet. Für einen Einbezug von Abmahnungsstreitigkeiten in den Kündigungsprozess fehlen nicht von vornherein ausreichende sachlich anerkennenswerte Motive.
Eine gleichwohl im Einzelfall denkbare Mutwilligkeit liegt im konkreten Fall des hier beschwerdeführenden Klägers nicht vor.
3. Zur Begründung der ratenfreien Bewilligung wird auf die diesbezügliche Begründung im Beschluss des Arbeitsgerichts verwiesen.
III.
1. Da der Kläger mit seinem Rechtsmittel vollständig obsiegt hat, muss er keine Kosten tragen.
2. Die Entscheidung erging durch die Vorsitzende allein (§ 78 Satz 3 ArbGG) und konnte ohne mündliche Verhandlung (§ 78 Satz 1 ArbGG, §§ 572 Abs. 4, 128 Abs. 4 ZPO) erfolgen.
3. Für die Zulassung der Rechtsbeschwerde bestand kein Grund.
Die Vorsitzende: Steer