Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

Zurück

Urteil vom 18.07.2023 · IWW-Abrufnummer 237341

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Aktenzeichen 4 SaGa 3/23

1. Während eines Arbeitskampfes kann die Durchführung von Notstandsarbeiten erforderlich sein. Notstandsarbeiten sind die Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen sollen. Zu den lebensnotwendigen Diensten gehört die Aufrechterhaltung einer Notversorgung der Bevölkerung in Krankenhäusern.

2. Die Frage, welcher Notdienst im Einzelfall einzurichten ist, muss sich einerseits an dessen Zweck orientieren, der Notdienst ist andererseits aber auf das unerlässliche Maß zu reduzieren, um die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Arbeitskampffreiheit zur Geltung zu bringen. Der Notdienst dient nicht dazu, den Betrieb soweit wie möglich aufrecht zu erhalten, sondern es geht um eine am jeweiligen Auftrag der Daseinsvorsorge orientierte "Minimal-Versorgung".


In der Rechtssache
- Verfügungsbeklagte/Berufungsklägerin -
Proz.-Bev.:
gegen
- Verfügungsklägerin/Berufungsbeklagte -
Proz.-Bev.:
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 4. Kammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Oesterle, den ehrenamtlichen Richter Ferdinand und die ehrenamtliche Richterin Herzig auf die mündliche Verhandlung vom 18.07.2023
für Recht erkannt:

Tenor: I. Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim - Kammern Heidelberg - vom 10. Juli 2023 - 5 Ga 4/23 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: 1. Der Verfügungsbeklagten wird bis zum Abschluss einer Notdienstvereinbarung, längstens bis zum 28. Juli 2023, aufgegeben, während der für den 19. bis 21. Juli 2023 sowie den 28. Juli 2023 bei der Verfügungsklägerin angekündigten Streiks über die einseitige Notdiensterklärung vom 23. Juni 2023 hinaus einen Notdienst für den Automatischen Warentransport (AWT) mit einer Besetzung von einer fachlich geeigneten Person und einer weiteren Person in der Zeit von 07:00 Uhr bis 17:00 Uhr zu dulden, jegliche Arbeitskampfmaßnahmen zur Verhinderung dieses Notdienstes zu unterlassen und an der Sicherstellung der genannten Besetzung für den AWT mitzuwirken. 2. Der Verfügungsbeklagten wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die Duldungs- und Unterlassungspflicht gemäß Ziff. 1 ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,00 € angedroht. 3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. II. Die weitergehende Berufung der Verfügungsbeklagten wird zurückgewiesen. III. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Verfügungsklägerin und die Verfügungsbeklagte jeweils die Hälfte.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens über den Umfang eines einzurichtenden Notdienstes während eines von der Verfügungsbeklagten für die Tage 12., 18. bis 21. und 28. Juli 2023 angekündigten Streiks.

Die Verfügungsklägerin ist eine 100%ige Tochtergesellschaft des Universitätsklinikums H. (UK), eines Krankenhauses der Maximalversorgung und Hochleistungsmedizin.

Sie erbringt mit ca. 250 Beschäftigten für das UK technische Dienstleistungen, wozu auch die Behebung von Störungen der AWT(Automatischer Warentransport)-Anlage gehört. Mit der AWT-Anlage werden Kliniken des UK im N. F. unterirdisch mit Waren wie Sterilgut, Medikamenten, medizinischen Verbrauchs- und Hygienematerialien, Patienten- und Personalverpflegung, sowie Wäsche versorgt, ebenso erfolgt der Rücktransport des teils infektiösen Abfalls der Kliniken mittels dieser Anlage, an die ca. 1.200 Betten des UK angeschlossen sind.

Die AWT-Anlage besteht aus einem unterirdischen Schienennetz von mehr als 7 km Länge. Es gibt 132 Sende- und Empfangsstationen in den verschiedenen Gebäuden des UK, sowie 22 spezielle vollautomatisch betriebene AWT-Aufzüge. In der AWT-Anlage stehen 258 Speise-, 440 Universal-, 350 Gitter-, 150 Sondermüll- und 30 Schmutzwäschecontainer zur Verfügung, wobei das Fassungsvermögen eines Behälters 250 kg beträgt. Die Container werden nach jedem Einsatz in einer der beiden zur AWT-Anlage gehörenden automatischen Waschanlagen gewaschen, desinfiziert und getrocknet. Die Waschanlagen sind mit dem Schienennetz verbunden, sodass die Reinigung vollautomatisch erfolgt. Die Container werden mit 84 automatischen schienengebundenen Fahrwerken transportiert. Die gesamte Steuerung der Logistik erfolgt vollautomatisch durch ein EDV-System.

Die verfügungsbeklagte Gewerkschaft hat seit April 2022 bereits mehrfach Streikmaßnahmen gegen die Verfügungsklägerin durchgeführt. Eine ursprünglich einvernehmliche Notdienstvereinbarung, die auch einen Notdienst für die AWT-Anlage umfasste, wurde von der Verfügungsbeklagten aufgekündigt.

Am 3. Juli 2023 rief die Verfügungsbeklagte die Beschäftigten der Verfügungsklägerin erneut für die Tage 12., 18. bis 21. und 28. Juli 2023 zum Streik auf. Nach gescheiterten Notdienstverhandlungen erließ die Verfügungsbeklagte eine auf den 23. Juni 2023 datierte einseitige Notdiensterklärung, in der zwar ein Notdienst zugesagt, die AWT-Anlage jedoch hiervon ausdrücklich ausgenommen wurde.

Mit Antrag vom 6. Juli 2023 begehrte die Verfügungsklägerin die Verpflichtung der Verfügungsbeklagten, unter Androhung von Ordnungsmitteln für den Fall der Zuwiderhandlung gegen die Duldungs- und Unterlassungsverpflichtung, während der bevorstehenden Streikmaßnahme einen Notdienst über die einseitige Notdiensterklärung vom 23. Juni 2023 hinaus für den Automatischen Warentransport (AWT) mit einer Besetzung von zwei fachlich geeigneten Personen im Frühdienst (05:30 Uhr bis 13:30 Uhr) und zwei fachlich geeigneten Personen im Spätdienst (13:30 Uhr bis 21:30 Uhr) zu dulden, jegliche Arbeitskampfmaßnahmen zur Verhinderung dieses Notdienstes zu unterlassen und an der Sicherstellung der genannten Besetzung für den AWT mitzuwirken.

Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass der Betrieb des UK auf eine unterirdische Warenversorgung mit dem System des AWT eingerichtet sei. Ohne einen Entstördienst könne die Anlage nicht in verantwortlicher Weise betrieben werden, denn es bestünde die erhebliche Gefahr, dass die Anlage im laufenden Klinikbetrieb nicht einsatzfähig sei und auch nicht einsatzfähig gemacht werden könne. Gäbe es keinen Stördienst, hätte dies zur Folge, dass wichtige Medikamente, Verpflegung, Sterilgut, Wäsche, etc. nicht zu den Kliniken und letztlich den Patienten gebracht werden könnten. Ein ausschließlich oberirdischer Warentransport wäre keine handhabbare Alternative.

Das Arbeitsgericht hat dem Antrag unter Androhung von Ordnungsgeld von bis zu 250.000,00 € für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen die ausgesprochene Duldungs- und Unterlassungspflicht stattgegeben und zur Begründung ausgeführt:

Der Verfügungsgrund liege in der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit, da es einer sofortigen Anordnung zur Gewährleistung eines ausreichenden Notdienstes bedürfe. Die Verfügungsklägerin habe schlüssig dargelegt und durch eidesstaatliche Versicherung ihres Geschäftsführers glaubhaft gemacht, dass die Einrichtung eines Notdienstes für die AWT-Anlage mit zwei fachlich geeigneten Mitarbeitern zur Vermeidung von Patientengefährdungen geboten sei.

Soweit die Verfügungsbeklagte auf den zwischen der Verfügungsklägerin und dem UK abgeschlossenen Leistungsvertrag verweise, wonach die Verpflichtungen aus dem Vertrag ruhen, wenn die Verfügungsklägerin als Vertragspartei z.B. durch Streik an der Vertragserfüllung gehindert ist, ändere dies nichts daran, dass Störungen der AWT-Anlage aufgrund der notwendigen Transporte schnellstmöglich durch fachlich geeignetes Personal behoben werden müssten. Zu den "Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis" gehöre auch die Einrichtung eines Notdienstes.

Das Patientenwohl dürfe nicht dadurch gefährdet werden, dass während eines Streiks andere Transportwege, etwa durch LKW-Anlieferungen, ausprobiert würden.

Dem Antrag auf Duldung eines Notdienstes für die AWT-Anlage sei daher stattzugeben und zudem die Verfügungsbeklagte antragsgemäß zur Mitwirkung an der Sicherstellung dieser Personalbesetzung zu verpflichten, denn die Durchführung der Streikmaßnahme einschließlich der Sicherstellung bzw. Duldung einer ausreichenden Notfallversorgung liege bei der Gewerkschaft. Der damit einhergehende Eingriff in das Streikrecht der Verfügungsbeklagten sei verhältnismäßig im Hinblick darauf, dass vom Notdienst für den AWT nur eine im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft sehr geringe Anzahl von Arbeitskräften betroffen sei.

Die Androhung von Ordnungsgeld folge aus § 890 Abs. 1 Satz 2 ZPO; von der Androhung ersatzweiser Ordnungshaft werde abgesehen.

Hiergegen richtet sich die am 12. Juli 2023 eingelegte und zugleich begründete Berufung der Verfügungsbeklagten. Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag und weist darauf hin, dass eine Patientengefährdung bei Ausfall der AWT-Anlage über einen längeren Zeitraum nicht zu besorgen sei. Der Versorgungsbetrieb könne mit den vorhandenen Elektroschleppern, einem Mercedes Sprinter für die Medikamente - sowie LKWs für Bettwäsche - und Warentransporte aufrechterhalten werden. Der mögliche Ausfall des AWT erzeuge bei der Verfügungsklägerin wirtschaftlichen Druck ohne eine Gefährdung von Patienten.

Die Verfügungsbeklagte beantragt:

Das Urteil des Arbeitsgerichts Mannheim - Kammern Heidelberg - vom 10. Juli 2023 - 5 Ga 4/23 - wird abgeändert, die beantragte einstweilige Verfügung wird zurückgewiesen.

Die Verfügungsklägerin beantragt,

die Berufung der Verfügungsbeklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und verweist darauf, dass ihrer Einschätzung nach bei Ausfall der AWT-Anlage für einen auf die Notversorgung reduzierten Klinikbetrieb ca. 16 LKWs mit ca. 45 Fahrern notwendig seien. Die Verkehrswege und die Infrastruktur im N. F. seien auf einen derartigen LKW-Verkehr nicht ausgerichtet. Weder dem UK noch einer seiner Tochtergesellschaften stünden Fahrzeuge und Fahrer in benötigtem Umfang zur Verfügung. Es sei auch nicht möglich, kurzfristig genauso unter Fahrermangel leidende externe Logistikunternehmen in ausreichendem Maße zu beauftragen. An einen Elektroschlepper ließen sich aus Sicherheitsgründen maximal zwei Behälter anbringen, auch seien die Aufzüge der AWT-Anlage für einen manuellen Betrieb nicht geeignet. Die automatische Reinigung durch die AWT-Anlage könne mit den vorhandenen sonstigen Anlagen und dem zur Verfügung stehenden Personal nicht adäquat ersetzt werden.

Wenn die Verfügungsbeklagte auf Umbauarbeiten im Jahr 2003 verweise, während derer die AWT-Anlage für drei bis vier Monate nicht genutzt werden konnte, so sei darauf hinzuweisen, dass die AWT-Anlage heute deutlich mehr Kliniken und Patienten als vor 20 Jahren versorge und der damalige Umbau geradezu generalstabsmäßig sechs Monate vor Maßnahmenbeginn geplant worden sei.

Für den Notdienst der AWT-Anlage müssten zwei fachlich geeignete Mitarbeiter anwesend sein, wenn die AWT-Anlage eine Störungsmeldung aufweise. Aufgrund der Struktur der Anlage sei es notwendig, dass diese Personen eingewiesen und mit der Anlage vertraut seien. Ein Entstördienst mit nur einer Person wäre möglicherweise zur Behebung der meisten Störungen ausreichend. Aus Gründen des Schutzes der diensthabenden Mitarbeiter halte die Verfügungsklägerin es für notwendig, dass zwei Mitarbeiter im Entstördienst arbeiteten und damit ein Kollege dem anderen bei möglichen Komplikationen oder Unfällen helfen könne.

Die Parteien haben im Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt, soweit er die Streiktage bis einschließlich 18. Juli 2023 betrifft.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Verfügungsbeklagten ist in der Sache teilweise begründet.

A.

Die Berufung der Verfügungsbeklagten ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO).

B.

Die Berufung ist teilweise begründet. Die Verfügungsklägerin kann die Einrichtung eines Notdienstes zur Erbringung von Entstörleistungen an der AWT-Anlage verlangen, allerdings nicht in dem von ihr beantragten personellen und zeitlichen Umfang.

I.

Die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagte einen Anspruch auf Einrichtung eines Notdienstes an der AWT-Anlage zur Durchführung von Entstörarbeiten.

Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist auch bei Arbeitskämpfen nach einhelliger Meinung zulässig (LAG Hamm 16. Januar 2007 - 8 Sa 74/07 - NZA-RR 2007, 250; Dreher in Düwell/Lipke ArbGG 5. Aufl. § 62 Rn. 59).

Der hierfür erforderliche Verfügungsanspruch ist gegeben, ebenso die Eilbedürftigkeit.

1. Zwischen den Parteien besteht Einigkeit, dass im Betrieb der Verfügungsklägerin ein Notdienst eingerichtet werden muss. Die Verfügungsbeklagte hat die abgeschlossene Notdienstvereinbarung gekündigt, weil sie sie für inhaltlich zu weitgehend hält. Eine erneute Einigung kam bislang nicht zustande, weil der Streit, ob für Entstörtätigkeiten an der AWT-Anlage ein Notdienst erforderlich ist, nicht ausgeräumt werden konnte. Bezüglich der übrigen erforderlichen Notdienstarbeiten hat die Verfügungsbeklagte einseitig eine Regelung erlassen, an die sie sich auch hält und die inhaltlich nach den Auskünften der Verfügungsklägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer am 18. Juli 2023 auch deren Billigung erfährt.

2. Während eines Arbeitskampfes kann die Durchführung von Notstandsarbeiten erforderlich sein. Notstandsarbeiten sind die Arbeiten, die die Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern während eines Arbeitskampfes sicherstellen sollen (BAG 31. Januar 1995 - 1 AZR 142/94 - BAGE 79, 152). Zu den lebensnotwendigen Diensten gehört die Aufrechterhaltung einer Notversorgung der Bevölkerung in Krankenhäusern (LAG Berlin-Brandenburg 20. Oktober 2021 - 12 Ta 1310/21 - LAGE Nr. 116 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). Allerdings sind Streikmaßnahmen im Bereich der Daseinsvorsorge nicht von vornherein unzulässig, da ein generelles Streikverbot mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar wäre (LAG Köln 1. Juli 2022 - 10 SaGa 8/22 - juris; LAG Hessen 7. November 2014 - 9 SaGa 1496/14 - NZA-RR 2015, 441).

Der Streit der Parteien beschränkt sich demnach auf den Umfang und Inhalt der Notdienstmaßnahmen. Da sie sich wegen dieses Streits auf keine Notdienstvereinbarung verständigen konnten, hat die Verfügungsklägerin einen Anspruch gegen die Verfügungsbeklagte auf Einrichtung eines Notdienstes, dessen inhaltliche Ausgestaltung gerichtlich durchgesetzt werden kann. Richtet die Gewerkschaft einen Notdienst ein, der nach Auffassung des Arbeitgebers unzureichend ist und der Gemeinwohlbelange verletzt, so muss es ihm möglich sein, einen Notdienst i.S.d. Beschränkung des Streikumfangs im einstweiligen Verfügungsverfahren zu erreichen. Auch wenn die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet ist, unterliegt sie zum Schutz von Rechtsgütern und Gemeinwohlbelangen Schranken, wenn diesen ein gleichermaßen verfassungsrechtlicher Rang zukommt (LAG Hamm 13. Juli 2015 - 12 SaGa 21/15 - juris). Hier stehen der grundgesetzlich geschützten Arbeitskampffreiheit grundrechtlich geschützte Rechte und Rechtsgüter Dritter nämlich der im UK behandelten Patienten, gem. Art. 2 Abs. 1 und 2 GG gegenüber. Zwischen diesen ist ein Ausgleich zu erreichen, der alle Rechte und Rechtsgüter möglichst weitgehend schützt.

Können sich die Parteien in ihren Verhandlungen auf keinen Notdienst einigen, weil Streit über den Umfang des Notdienstes besteht und wendet sich in einer solchen Situation einer der Tarifpartner an das Arbeitsgericht, so kann das Gericht eine Notdienstregelung treffen. Das gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der die konkurrierenden Grundrechtsgüter zum Ausgleich bringt und zu geringstmöglichen Eingriffen zwingt.

Die Frage, welcher Notdienst im Einzelfall einzurichten ist, muss sich einerseits an dessen Zweck orientieren, ist aber andererseits auf das unerlässliche Maß zu reduzieren, um die durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Arbeitskampffreiheit zur Geltung zu bringen (so zutreffend LAG Schleswig-Holstein 26. September 2018 - 6 SaGa 7/18 - juris). Der Notdienst darf nicht dazu missbraucht werden, den Betrieb soweit wie möglich aufrecht zu erhalten (Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren 5. Aufl. Seite 390), sondern es geht um eine am jeweiligen Auftrag der Daseinsvorsorge orientierte "Minimal-Versorgung" (Meyer SAE 2022, 55, 57).

3. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die AWT-Anlage, an die 1.200 Betten von verschiedenen Kliniken des UK angeschlossen sind, zentrale Dienstleistungen erbringt, ohne die Gesundheit und Leben der in diesen Kliniken versorgten Patienten gefährdet wären. Auch im Arbeitskampf darf akut Erkrankten ärztliche Hilfe nicht verweigert werden. Gleiches muss für die notwendigen pflegerischen und unaufschiebbaren sonstigen therapeutischen Leistungen sowie Leistungen der Daseinsvorsorge und Hygiene gelten, auf die die Patienten zur Vermeidung von Gesundheitsschäden dringend angewiesen sind (vgl. Korinth, Einstweiliger Rechtsschutz im Arbeitsgerichtsverfahren 5. Aufl. Seite 390).

a) Im vorliegenden Fall ist zunächst unerheblich, dass die Verfügungsklägerin nicht selbst solche Leistungen erbringt, sondern durch ihre technische Unterstützung sicherstellt, dass das UK die erforderliche Patientenversorgung leisten kann. Die Verantwortung des UK für das Wohl seiner Patienten schließt eine daneben tretende Verantwortlichkeit der Verfügungsklägerin im Hinblick auf ihre eingegangene vertragliche Verpflichtung gegenüber dem UK nicht aus. Das UK als Krankenhausbetreiber muss keine Personalreserve vorhalten, um streikbedingten Personalausfall bei seiner Subunternehmerin ausgleichen zu können (vgl. LAG Schleswig-Holstein 26. September 2018 - 6 SaGa 7/18 - juris).

b) Es kann auch dahinstehen, welche Folgerungen sich aus § 11 des Leistungsvertrags, abgeschlossen zwischen der Verfügungsklägerin und dem UK, im Fall eines Streiks für die Vertragsschließenden ergeben. Denn im vorliegenden Fall geht es nicht um die Folgen der getroffenen Regelung für die Vertragsparteien, sondern um mögliche Gefahren für die Versorgung der Bevölkerung in Notfällen. Auch wenn der Einwand der Verfügungsbeklagten, angesichts des in § 11 des Leistungsvertrags geregelten Freiwerdens der dienstleistenden Verfügungsklägerin von der Leistungspflicht im Streikfall sei es Sache des UK, seinerseits für Streikfälle Vorsorge zu treffen, sachlich zuträfe und die entstandene Situation als vom UK selbst verschuldet anzusehen wäre, wäre es rechtlich nicht möglich, dem UK oder der Verfügungsklägerin den "Notfalleinwand" abzuschneiden. Diese tragen unmittelbar und mittelbar zur Erfüllung von Gemeinwohlaufgaben bei; in solchen Fällen kann es für etwaige gerichtliche Eingriffe in den Arbeitskampf nicht darauf ankommen, wessen Verhalten in erster Linie zum Entstehen der Notlagensituation beigetragen hat (LAG Hamm 16. Januar 2007 - 8 Sa 74/07 - NZA-RR 2007, 250). Es kann nicht unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 162 BGB argumentiert werden, dass ein nachlässiger Arbeitgeber, der sich nicht genug auf einen Streik vorbereitet hat, auch nicht von Streikrechtseinschränkungen profitieren soll, weil Streikrechtseinschränkungen nicht auf den Schutz des Arbeitgebers, sondern der Bevölkerung abzielen, die auf das Verhalten des Arbeitgebers keinen Einfluss hat und sich dieses dementsprechend auch nicht zurechnen lassen muss (Rudkowski, Der Streik in der Daseinsvorsorge, Seite 58).

3. Die erkennende Kammer ist wie bereits das Arbeitsgericht der Überzeugung, dass eine Kompensation eines möglicherweise mehrtägigen Ausfalls der AWT-Anlage aufgrund eines Streiks des Personals der Anlage mit der Folge fehlender Entstörungsmöglichkeiten durch die Verwendung alternativer Transportmöglichkeiten nicht ohne ernsthafte Gefährdung der Patientenversorgung erfolgen kann.

Die jetzige Streiksituation ist nicht mit der Situation im Jahr 2003 vergleichbar, als die AWT-Anlage wegen Umbaumaßnahmen für drei bis vier Monate außer Betrieb genommen wurde. Die damalige Maßnahme beruhte auf einer 6-monatigen sorgfältigen Planung. Nunmehr müsste die Verfügungsklägerin in wenigen Tagen oder sogar nur Stunden ein Alternativkonzept entwickeln und überdies noch möglichst störungsfrei umsetzen.

Auch die tatsächlichen Verhältnisse haben sich durch die Zunahme des Straßenverkehrs und die Anbindung weiterer Krankenhausbetten an die AWT-Anlage im Sinne einer höheren Komplexität verändert. Ein überirdischer Warentransport mittels Lkws dürfte angesichts der Verkehrsverhältnisse und des von der Verfügungsklägerin aufgezeigten Mangels an Lkws und Fahrern kurzfristig nicht verlässlich realisierbar sein. Hinzu kommen die von Vertretern der Verfügungsklägerin im Berufungstermin nochmals geschilderten Schwierigkeiten des inhäusigen Transports der Container mittels Elektroschleppern statt der Fahrgestelle und der Problematik, dass die entfallende Nutzung der automatisierten AWT-Aufzüge wohl kaum adäquat durch die Nutzung der vorhandenen Personenaufzüge für Containertransporte ersetzt werden kann. Auch auftretende Hygieneprobleme erscheinen im Hinblick auf die wegfallenden Reinigungs- und Desinfektionsmöglichkeiten durch die automatischen Reinigungsanlagen naheliegend.

4. Der Umfang der Nutzung der nach dem zuvor Ausgeführten für die ausreichende Patientenversorgung essentiellen AWT-Anlage war allerdings entgegen dem Antrag der Verfügungsklägerin und dem diesem vollumfänglich stattgebenden arbeitsgerichtlichen Urteil einzuschränken und der Antrag infolgedessen unter teilweiser Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung teilweise abzuweisen.

Einschränkungen waren insoweit in zeitlicher Hinsicht und im Hinblick auf die Personalbesetzung der AWT-Anlage zu machen, da es der Verfügungsklägerin nicht gelungen ist und wofür sie die Darlegungslast trägt (LAG Hamm 13. Juli 2015 - 12 SaGa 21/15 - juris; Korinth ArbRB 2022, 54, 55), substanziiert auszuführen, dass der einzurichtende Notdienst in dem von ihr erstrebten Umfang erforderlich ist.

a) Bezüglich der Personalbesetzungsstärke der AWT-Anlage waren sich die Parteien in der mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer einig, dass aus Gründen des Gesundheitsschutzes zeitgleich immer zwei Arbeitnehmer an der AWT-Anlage zum Einsatz kommen müssen.

Der Geschäftsführer der Verfügungsklägerin hat in seiner eidesstattlichen Versicherung vom 6. Juli 2023 ausgeführt, dass in fachlicher Hinsicht wohl eine Person zur Behebung der meisten Störungen ausreichend wäre. Dementsprechend ist die Kammer zum Schluss gelangt, dass eine Schichtbesetzung mit einer fachkundigen und aus Sicherheitsgründen einer weiteren nicht notwendigerweise fachkundigen Person ausreichend ist. Sollte dies im Einzelfall doch einmal nicht zur Störungsbeseitigung ausreichen, würde es der Verfügungsklägerin unbenommen bleiben, das auch im "Normalbetrieb" durchschnittlich einmal wöchentlich zur Unterstützung angeforderte externe Unternehmen hinzuzuziehen. Hierdurch eventuell verursachter organisatorischer und finanzieller Mehraufwand ist von der Verfügungsklägerin, da durch die Streikmaßnahme ja gerade Druck ausgeübt werden soll, hinzunehmen. Dies gilt genauso für das UK als mittelbar vom Streik betroffenem Unternehmen.

b) In zeitlicher Hinsicht war der Entstördienst für die AWT-Anlage auf die "Kernzeit" von 07:00 Uhr bis 17:00 Uhr zu beschränken, in der im UK die meisten Aktivitäten entfaltet werden. Im Normalbetrieb werden im Zeitraum zwischen 21:30 Uhr und 05:30 Uhr des Folgetages eingetretene Störungen der AWT-Anlage erst durch die Frühschicht behoben. Zwingende Gründe dafür, warum dies ab 05:30 Uhr erfolgen muss und nicht ab 07:00 Uhr gemacht werden kann, sind nicht ersichtlich. Soweit die Verfügungsklägerin im Verhandlungstermin vom 18. Juli 2023 darauf hingewiesen hat, dass die AWT-Anlage ab 06:00 Uhr für Transporte zur Verfügung stehen müsse, die der Vorbereitung der regelmäßig ab 08:00 Uhr stattfindenden Operationen dienen, ist nicht ersichtlich, warum solche Vorbereitungshandlungen nicht auch gegebenenfalls auf anderem Wege als durch Nutzung der AWT-Anlage - sollte diese durch einen zwischen dem späten Abend und dem frühen Morgen aufgetretenen Störfall nicht oder nur eingeschränkt funktionsfähig sein - erfolgen können. Hierdurch eintretende Gefährdungen des Patientenwohls hat die Verfügungsklägerin nicht aufgezeigt.

5. Die Eilbedürftigkeit der Angelegenheit besteht nach wie vor, da die Tarifauseinandersetzung weiterhin besteht und der Streik fortgesetzt werden soll. Auch ein Verfügungsgrund liegt deshalb vor.

II.

Bei der gem. § 938 ZPO vorzunehmenden Tenorierung der einstweiligen Verfügung hat sich die Berufungskammer an der vom Arbeitsgericht vorgenommenen, auf der Formulierung in der Klageschrift beruhenden und von der Verfügungsbeklagten auch nicht beanstandeten Tenorierung orientiert. Die austenorierte Kombination von Duldungs-, Unterlassungs- und Mitwirkungspflichten ist in der Rechtsprechung bislang auch nicht beanstandet worden (vgl. LAG Köln 1. Juli 2022 - 10 SaGa 8/22 - juris). Zudem ist zu berücksichtigen, dass es im Rahmen einstweiliger Verfügungen im Arbeitskampf eines weiter als üblich reichenden Maßstabs der Bestimmtheit des Antrags bedarf (so zutreffend LAG Berlin-Brandenburg 24. Oktober 2007 - 7 SaGa 2044/07 - LAGE Nr. 79 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).

III.

Zu entscheiden war über die Notdienstbesetzung der AWT-Anlage ab 19. Juli 2023. Für den davorliegenden Zeitraum haben die Parteien das Verfahren übereinstimmend für erledigt erklärt.

Die Dauer der Verfügung war auf den Zeitraum bis zum Abschluss einer Notdienstvereinbarung, längstens bis zum 28. Juli 2023 als dem letzten derzeit angekündigten Streiktag zu begrenzen.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91a, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Kammer hat das Maß des Unterliegens bzw. Obsiegens der Parteien mit jeweils 50 % bewertet.

OesterleFerdinandHerzig

Verkündet am 18.07.2023

Vorschriften