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Beschluss vom 03.08.2023 · IWW-Abrufnummer 237402

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg - Aktenzeichen 26 Ta (Kost) 6059/23

1. Im Verfahren nach § 33 RVG ist § 308 Abs. 1 ZPO entsprechend anzuwenden.

2. Gegenstandswerte nach § 33 RVG sind in der Regel für jeden Prozessbevollmächtigten gesondert festzusetzen. Zu beteiligen sind - ohne Betroffenheit Dritter - die jeweilige Partei und ihr Anwalt. Ist Prozesskostenhilfe bewilligt worden, steht der Staatskasse ein eigenes Antrags- und Beschwerderecht zu. Im Falle einer erfolgreichen Beschwerde ist dieser in entsprechendem Umfang abzuhelfen.

3. Zur Berechnung des Gegenstandswerts sind zunächst die einzelnen Anträge zu bewerten. Sodann ist ein Gesamtgegenstandswert zu bilden. Bei der Bildung des Gesamtgegenstandswerts ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Werte für die einzelnen Anträge zusammenzurechnen sind.

4. Bei der Frage, ob und in welchem Umfang Kündigungsschutzanträge zusammenzurechnen sind, kommt es darauf an, ob und inwieweit über sie entschieden worden ist oder sie Gegenstand eines Vergleichs geworden sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, inwieweit wirtschaftlich derselbe Streitgegenstand betroffen ist.

5. Auch wenn die Parteien sich nicht auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem mit einer vorsorglichen Kündigung vorgesehenen Beendigungstermin einigen, kann oft davon ausgegangen werden, dass in einem Auflösungsvergleich sämtliche in das Verfahren eingeführte Beendigungstatbestände mitgeregelt worden sind.

6. Regelmäßig anders sind die Fälle zu bewerten, in denen sich die Parteien auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem früheren Kündigungstermin einigen, ohne dass nennenswerte sonstige Leistungen seitens des Arbeitgebers in dem Vergleich (Gesamtpaket) enthalten sind.


Tenor:

Auf die Beschwerde der Landeskasse wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Berlin vom 18. Juli 2023 - 42 Ca 11916/20 - abgeändert und der Gegenstandswert für das Verfahren und den Vergleich - soweit dieser Grundlage für die Festsetzung der PKH-Gebühren der Prozessbevollmächtigten des Beklagten ist - auf 11.588,94 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Die Parteien haben ua über die Wirksamkeit von zwei Kündigungen gestritten, die zum 30. November 2020 und zum 30. April 2021 ausgesprochen worden waren. Die Parteien haben einen Vergleich geschlossen, in dem sie sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Januar 2021 geeinigt und eine Abfindung vereinbart haben, die die Klägerin als Insolvenzforderung zur Insolvenztabelle anmelden dürfe. Außerdem haben sie Feststellungen zu Annahmeverzugsansprüchen als Masseverbindlichkeiten getroffen sowie eine Zeugnisregelung aufgenommen. Dem Beklagten ist Prozesskostenhilfe bewilligt worden. Der Bezirksrevisor und die Klägervertreter haben Festsetzung des Gegenstandswerts beantragt.

Der Klägervertreter hat im Rahmen des Gegenstandswertfestsetzungsverfahrens erklärt, dass die Klageerweiterung bezüglich der Folgekündigung nicht als Hilfsantrag gestellt und auch nicht als bedingter Antrag gemeint gewesen sei.

Das Arbeitsgericht hat bei der Berechnung des Gesamtgegenstandswerts für jede Kündigung ein Vierteljahreseinkommen angesetzt und diese zusammengerechnet.

Die Landeskasse begehrt im Rahmen der Beschwerde die Herabsetzung des Gegenstandswerts auf ein Vierteljahreseinkommen, da die Folgekündigung mit einem Hilfsantrag angegriffen worden sei, über den nicht entschieden worden und die auch nicht zum Gegenstand des Vergleichs gemacht worden sei.

Der Beklagte (Insolvenzverwalter) und dessen Prozessbevollmächtigte haben nach der Entscheidung des Arbeitsgerichts ausdrücklich ihr Einverständnis mit der Auffassung des Bezirksrevisors erklärt.

II.

Die zulässige Beschwerde des Bezirksrevisors ist begründet. Der festgesetzte Gegenstandswert liegt über dem Wert, den der Bezirksrevisor beantragt hat und mit dem sich die Beklagtenvertreter ausdrücklich einverstanden erklärt haben. Im Übrigen hat der Bezirksrevisor den Betrag, dessen Festsetzung er beantragt hat, aber auch zutreffend berechnet.

1) Im Verfahren nach § 33 RVG ist § 308 Abs. 1 ZPO entsprechend anzuwenden (vgl. LAG Baden-Württemberg 22. September 2008 - 3 Ta 182/08, Rn. 3; LAG Düsseldorf 25. November 2016 - 4 Ta 634/16, Rn. 13; LAG Berlin-Brandenburg 17. Februar 2020 - 26 Ta (Kost) 6112/19, Rn. 14; 8. Mai 2023 - 26 Ta (Kost) 6213/21, Rn. 23). Die Beklagtenvertreter haben ihren Antrag mit Schriftsatz vom 18. Juli 2023 auf den seitens des Bezirksrevisors für zutreffend gehaltenen Betrag begrenzt.

2) Gegenstandswerte nach § 33 RVG sind in der Regel für jeden Prozess-bevollmächtigten gesondert festzusetzen. Zu beteiligen sind - ohne Betroffenheit Dritter - die jeweilige Partei und ihr Anwalt. Ist Prozesskostenhilfe bewilligt worden, steht der Staatskasse ein eigenes Antrags- und Beschwerderecht zu. Dieses reicht genau soweit, wie die Staatskasse durch die Entscheidung betroffen ist. Im Falle einer erfolgreichen Beschwerde ist dieser in entsprechendem Umfang abzuhelfen (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 3. August 2023 - 26 Ta (Kost) 6061/23).

3) Im Übrigen ist der mit der Beschwerde geltend gemachte Einwand auch berechtigt.

a) Zur Berechnung des Gegenstandswerts sind zunächst die einzelnen Anträge zu bewerten. Sodann ist ein Gesamtgegenstandswert zu bilden. Bei der Bildung des Gesamtgegenstandswerts ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Werte für die einzelnen Anträge zusammenzurechnen sind.

In demselben Verfahren und in demselben Rechtszug werden die Werte mehrerer Streitgegenstände zusammengerechnet, soweit nichts anderes bestimmt ist, § 39 Abs. 1 GKG. Die Werte von Haupt- und Hilfsanträgen sind zusammenzurechnen, soweit auch über den Hilfsantrag eine Entscheidung ergeht, § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG, oder der Rechtsstreit auch insoweit durch Vergleich erledigt wird, § 45 Abs. 4 GKG. Dies gilt allerdings wiederum dann nicht, wenn die Anträge denselben Gegenstand betreffen; dann ist nur der höhere Wert maßgebend, § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG. Unter dem Begriff "Gegenstand" in § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG ist nicht der Streitgegenstand iSd. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu verstehen. Der "Gegenstand" iSd. § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG ist nicht mit dem Streitgegenstand in § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO identisch. Ob unterschiedliche (prozessuale) Streitgegenstände vorliegen, ist danach für die Frage des Additionsverbots nach § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG unerheblich (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 14. Dezember 2018 - 26 Ta (Kost) 6136/18, Rn. 6). Bei dem Begriff des Gegenstands in § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG handelt es sich vielmehr um einen selbstständigen kostenrechtlichen Begriff, der eine wirtschaftliche Betrachtung erfordert. Eine Zusammenrechnung hat dort zu erfolgen, wo eine wirtschaftliche Werthäufung entsteht (vgl. BGH 24. Januar 2019 - IX ZR 110/17, Rn. 3; 12. September 2013 - I ZR 61/11, Rn. 6). Der Grundsatz, wonach der Begriff des kostenrechtlichen "Gegenstands" nicht mit dem des (prozessualen) Streitgegenstands übereinstimmt, gilt nicht nur für § 45 Abs. 1 Satz 3 GKG, sondern auch bereits für § 39 Abs. 1 GKG (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 5. August 2022 - 26 Ta (Kost) 6047/22, Rn. 6).

b) Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze waren die Werte für die Kündigungsschutzanträge hier nicht zusammenzurechnen.

aa) Es ging um zwei Kündigungsschutzanträge. Kündigungsschutzanträge werden jeweils maximal mit einem Vierteljahreseinkommen bewertet, § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG.

bb) Die klagende Partei hat die Folgekündigung mit einem Hilfsantrag angegriffen.

(1) Bei den Folgekündigungen betreffenden Anträgen handelt es sich der Sache nach um Hilfsanträge. Der Kläger hat sich mit dem die Folgekündigung betreffenden Antrag gegen die vorsorglich ausgesprochene weitere Kündigung zur Wehr gesetzt. Ist eine Kündigung nur "vorsorglich" für den Fall erklärt worden, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht bereits aufgrund einer vorherigen Kündigung aufgelöst worden ist, steht bereits die Kündigungserklärung unter der - zulässigen - auflösenden Rechtsbedingung (§ 158 Abs. 2 BGB), dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses schon kraft Gesetzes eingetreten ist (vgl. BAG 23. Mai 2012 - 2 AZR 54/12, Rn. 44). Tritt diese Bedingung ein, liegt bereits eine Kündigungserklärung als solche nicht mehr vor. Eine gleichwohl aufrechterhaltene Kündigungsschutzklage ginge ins Leere und wäre unbegründet. Auch aus diesem Grund ist der gegen eine zu einem späteren Zeitpunkt wirkende Kündigungserklärung gerichtete Antrag als unechter Hilfsantrag zu verstehen, mit dem die klagende Partei sich gegen die "vorsorglich" erklärte(n) Kündigung(en) ihrerseits nur "vorsorglich" wehrt (vgl. BAG 21. November 2013 - 2 AZR 598/12, Rn. 20; LAG Berlin-Brandenburg 21. Juni 2021 - 26 Ta (Kost) 6066/21, Rn. 11).

(2) Soweit der Klägervertreter erklärt, bei dem die Folgekündigung betreffenden Antrag habe es sich um einen Hauptantrag gehandelt, fehlt es hierfür an nachvollziehbaren Anhaltspunkten in der Akte. Insbesondere ist seitens der klagenden Partei nicht erklärt worden, über den die Folgekündigung betreffenden Antrag solle unabhängig vom Hauptantrag entschieden werden. Dafür gab es auch keinerlei Anlass.

cc) Bei der Frage, ob und in welchem Umfang Kündigungsschutzanträge zusammenzurechnen sind, kommt es nach den dargelegten Grundsätzen darauf an, ob und inwieweit über sie entschieden worden ist oder sie Gegenstand eines Vergleichs geworden sind. Außerdem ist zu berücksichtigen, inwieweit wirtschaftlich derselbe Streitgegenstand betroffen ist.

(1) Das Arbeitsgericht hat über die Anträge nicht entschieden. Die Parteien haben einen Vergleich geschlossen, in dem sie sich auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Januar 2021 geeinigt haben. Die zum 30. April 2021 ausgesprochene Folgekündigung sollte miterledigt sein.

(2) Auch wenn die Parteien sich nicht auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem mit einer vorsorglichen Kündigung vorgesehenen Beendigungstermin einigen, kann allerdings oft davon ausgegangen werden, dass in einem Auflösungsvergleich sämtliche in das Verfahren eingeführte Beendigungstatbestände mitgeregelt worden sind. Gegenstand der Vergleichsverhandlungen sind meist alle Beendigungstatbestände. Der gewählte Beendigungszeitpunkt wirkt sich im Rahmen des "Gesamtpakets" aus, in das meist sämtliche Beendigungstatbestände als wertbildende Faktoren einfließen und damit jedenfalls materiell im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 2 iVm. Abs. 4 GKG mit geregelt werden (vgl. LAG Baden-Württemberg 2. September 2016 - 5 Ta 101/16, Rn. 20; LAG Berlin-Brandenburg 19. Mai 2021 - 17 Ta (Kost) 6041/21). Recht eindeutig ist das zB der Fall, wenn die für die Unwirksamkeit einer ersten Kündigung sprechenden Gesichtspunkte bereits in Parallelverfahren festgestellt worden sind oder die Unwirksamkeit der Kündigung sich offensichtlich aus formellen Gründen ergibt, die Parteien sich aber dennoch auf den mit dieser Kündigung beabsichtigten - früheren - Auflösungstermin einigen (vgl. LAG Berlin-Brandenburg 24. Januar 2022 - 26 Ta (Kost) 6108/21, Rn. 20) und die Parteien eine Abfindung und/oder eine andere für die klägerische Partei vorteilhafte Regelung im Rahmen des "Gesamtpakets" treffen.

(3) Regelmäßig anders sind die Fälle zu bewerten, in denen sich die Parteien auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu dem früheren Kündigungstermin einigen, ohne dass nennenswerte sonstige Leistungen seitens des Arbeitgebers in dem Vergleich (Gesamtpaket) enthalten sind. Das spricht dann dafür, dass die weitere Kündigung auch aus Sicht der Parteien im Rahmen des Vergleichsabschlusses ohne relevante Bedeutung war, weil sie von der Wirksamkeit der ersten Kündigung ausgegangen sind oder ein Erfolg mit dem die erste Kündigung betreffenden Kündigungsschutzantrag keine nennenswerten wirtschaftlichen Auswirkungen für die klagende Partei gehabt hätte.

(4) So liegt der Sachverhalt hier. Die Parteien haben den ersten Kündigungstermin als Beendigungstermin vereinbart. Die sonstigen Regelungen in dem Vergleich waren für die Klägerin wirtschaftlich ohne nennenswerten Wert.

(a) Die Parteien haben im Rahmen der Regelung unter Nr. 2 des Vergleichs eine reine Abwicklungsregelung getroffen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Vergleichs insoweit etwas geregelt worden wäre, was ein Streitpotential in sich getragen hat. Es gibt keine Hinweise darauf, dass unter den Parteien Streit oder Unsicherheit darüber bestanden hat, ob für die Zeit des Annahmeverzugs eine Masseverbindlichkeit begründet worden ist. Das kann auch nicht ernsthaft bezweifelt werden (vgl. dazu zB BAG 4. Juni 2003 - 10 AZR 586/02, Rn. 30). Zu einer Quote ist nichts geregelt. Unabhängig davon handelte es sich hier um einen Fall, bei dem auch eine nur geringe Realisierbarkeit der Vergütungsforderung zweifelhaft erscheint und daher auch eine wirtschaftliche Bewertung anzustellen wäre (vgl. dazu ausführlich LAG Berlin-Brandenburg 5. Juni 2019 26 Ta (Kost) 6036/19, Rn. 9 ff., mwN).

(b) Auch die unter Nr. 3 des Vergleichs getroffene Abfindungsvereinbarung ist für die Klägerin ohne nennenswerten Vorteil, ebenso wenig das Hinausschieben des ersten Kündigungstermins um zwei Monate. Nach den im Verfahren 6 AZR 441/21 (Urteil vom 25. August 2022) durch die Vorinstanzen getroffenen Feststellungen zur Neumasseunzulänglichkeit konnte und kann es nur noch um eine geordnete Abwicklung durch den Beklagten gehen. Selbst Neumasseverbindlichkeiten werden danach kaum noch mit einer bedeutenden Quote befriedigt werden können, da das Bundesarbeitsgericht in der zitierten Entscheidung das durch den Beklagten praktizierte Vorgehen im Zusammenhang mit der Bildung zusätzlicher im Gesetz nicht vorgesehener Ränge nicht akzeptiert hat (vgl. BAG 25. August 2022 - 6 AZR 441/21, Rn. 51; vgl. dazu auch LAG Berlin-Brandenburg 23. November 2022 - 26 Ta (Kost) 6064/22, Rn. 17). Jedenfalls gibt es für die als Insolvenzforderung vereinbarte Abfindung vor diesem Hintergrund keine für die Klägerin wirtschaftlich relevante Realisierungschance.

III.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, § 33 Abs. 9 RVG. Eine Gebühr ist nicht angefallen.

IV.

Die Entscheidung ist unanfechtbar.

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