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Urteil vom 14.02.2023 · IWW-Abrufnummer 237540

Landesarbeitsgericht Köln - Aktenzeichen 6 Sa 525/22

Zur Rechtfertigung einer Nebenpflichtverletzung ist der pauschale Hinweis auf eine Diagnose "Depression" nicht ausreichend.

Inhaltsangabe:

Einzelfall: Zur Substantiierungspflicht des Arbeitnehmers mit Blick auf von ihm geltend gemachte Rechtsfertigungsgründe.


Tenor: 1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 18.05.2022 - 3 Ca 5693/21 - wird zurückgewiesen. 2. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Nachdem das Arbeitsgericht rechtkräftig festgestellt hat, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch eine von der Beklagten ausgesprochene fristlose Kündigung sein Ende gefunden hat, streiten die Parteien in der Berufungsinstanz nur noch um die Wirksamkeit der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung. Dabei geht es im Zusammenhang mit attestierten Arbeitsunfähigkeitszeiten um Anzeige- und Nachweispflichtverletzungen und bei diesen um die Frage, ob sie schuldhaft oder - zum Beispiel wegen einer Depression - schuldlos erfolgt sind.

Der Kläger wurde im Jahre 1994 geboren. Er war seit dem 01.10.2016 bei der Beklagten als Straßenreiniger beschäftigt. Zuletzt erhielt er hierfür ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 2.890,00 EUR.

Im April 2021 erlitt die Lebensgefährtin des Klägers eine Fehlgeburt. Das belastete den Kläger emotional. In der Folgezeit zwischen dem Monat April 2021 und dem Monat Oktober 2021 war der Kläger an gut 60 Tagen nicht am Arbeitsplatz. Er fehlte dabei häufig in dem Sinne "unentschuldigt", dass er der Beklagten nicht rechtzeitig seine Abwesenheit mitgeteilt hat. Ihm wurden in diesem Zusammenhang insgesamt fünf Abmahnungen erteilt. Zu den einzelnen Vorkommnissen wird Bezug genommen auf den ausführlichen Tatbestand des arbeitsgerichtlichen Urteils und es wird sich hier nur auf die folgende stichwortartige Zusammenfassung beschränkt: Unentschuldigtes Fehlen vom 17.04.2021 bis 20.04.2021 und vom 31.05.2021 bis zum 30.06.2021; Abmahnung vom 21.06.2021 wegen unentschuldigten Fehlens mit Aufforderung bis zum 02.07.2021 mitzuteilen, ob Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe und für diesen Fall die Bescheinigung einzureichen; Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am 30.06.2021 für den Zeitraum vom 01.06.2021 bis zum 26.06.2021; Abmahnung mit Schreiben vom 06.07.2021 wegen verspäteter Einreichung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung; Unentschuldigtes Fehlen vom 01.07.2021 bis zum 05.07.2021; Abmahnungen mit Schreiben vom 06.07.2021 wegen unentschuldigten Fehlens; Schreiben vom 06.07.2021, mit welchem dem Kläger aufgegeben worden ist, künftig bereits am ersten Krankheitstag ein ärztliches Attest vorzulegen; unentschuldigtes Fehlen vom 16.08.2021 bis zum 31.08.2021; Abmahnung mit Schreiben vom 27.08.2021 wegen unentschuldigten Fehlens und Aufforderung, bis zum 07.09.2021 mitzuteilen, ob er arbeitsunfähig erkrankt sei, und für diesen Fall einen entsprechenden Nachweis vorzulegen; Einreichung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch den Kläger am 01.09.2021 für den Zeitraum vom 16.08.2021 bis zum 31.08.2021; Abmahnung mit Schreiben vom 23.09.2021 wegen der verspäteten Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Am 10.10.2021 und 11.10.2021 erschien der Kläger nicht zum Dienst. Erst am 12.10.2021 teilte der Kläger telefonisch mit, dass er bis auf weiteres arbeitsunfähig erkrankt sei. Am 14.10.2021 reichte er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 11.10.2021 bis zum 15.10.2021 ein. Aufgrund dieses Sachverhalts hörte die Beklagte am 18.10.2021 den Betriebsrat zu einer beabsichtigten außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung an. Der Betriebsrat stimmte beiden Kündigungen am 19.10.2021 zu. Mit Schreiben vom 21.10.2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos und hilfsweise ordentlich zum 31.03.2022.

Mit der seit dem 26.10.2021 beim Arbeitsgericht Köln anhängigen Klage hat sich der Kläger gegen die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigungserklärung gewandt.

Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger vorgetragen, er leide infolge des Todes seines Kindes und der anschließenden Trennung von seiner Lebensgefährtin an einer schweren psychischen Erkrankung. Zum Beleg lege er ein Attest vom 07.07.2022 (Bl. 143 d.A.) vor, in dem es heiße: "Attest, Herr ... W , ...befindet sich in meiner hausärztlichen Behandlung. Diagnosen: Depressive Reaktion; Angst und depressive Störung, gemischt. Herr W klagt über Schlafstörungen, privaten Stress, Konzentrationsstörungen, Schweißattacken, Alpträume, Panikattacken, Herzrasen. Aufgrund der o.g. Beschwerden war Herr W aus ärztlicher Sicht nicht arbeitsfähig." Diese Beschwerden, so der Kläger weiter, seien der Beklagten auch bekannt gewesen. Die der Kündigung und den Abmahnungen zugrundeliegenden Pflichtverletzungen seien sämtlich bedingt durch diese psychische Krankheit. Nach seiner Auffassung sei die Kündigung möglicherweise vermeidbar gewesen, wenn ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchgeführt worden wäre. Eine ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats bestreite er. Die Abmahnung vom 27.08.2021 sei zu unbestimmt, weil ihm darin vorgeworfen werde, er habe "seit dem 16.08.2021 wiederholt unentschuldigt gefehlt".

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung aus wichtigem Grund vom 21.10.2021 sein Ende gefunden hat; 2. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die ordentliche Kündigung vom 21.10.2021 zum 31.03.2022 sein Ende gefunden hat; 3. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen und auszuhändigen; hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. und 2., die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein qualifiziertes Endzeugnis zu erteilen und auszuhändigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit dem am 18.05.2022 verkündeten Urteil hat das Arbeitsgericht Köln der Kündigungsschutzklage des Klägers teilweise stattgegeben. Außerdem hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger ein Zeugnis zu erteilen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Kündigung habe das Arbeitsverhältnis zwar nicht fristlos, wohl aber ordentlich zum 31.03.2022 beendet. Die Kündigung sei gemäß § 1 Abs. 2 KSchG durch Gründe im Verhalten des Klägers sozial gerechtfertigt. Der Kläger habe am 10.10.2021 unentschuldigt gefehlt. Zuvor habe die Beklagte ihn (wegen unentschuldigten Fehlens vom 17.04.2021 bis 20.04.2021 und am 31.05.2021) mit Schreiben vom 21.06.2021, und (wegen unentschuldigten Fehlens vom 01.07.2021 bis zum 05.07.2021) mit Schreiben vom 06.07.2021 abgemahnt. Die vom Kläger gerügten sprachlichen Ungenauigkeiten berührten nicht die Warnfunktion. Auch die wiederholte

Verletzung der Melde- und Nachweispflichten aus § 5 Abs. 1 EFZG seien geeignet, die Kündigung sozial zu rechtfertigen. Der Kläger habe seine Arbeitsunfähigkeit erst am 12.10.2021 der Beklagten angezeigt, obwohl er ausweislich der am 14.10.2021 vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits ab dem 11.10.2021 arbeitsunfähig gewesen sei. Darüber hinaus habe er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits am 11.10.2021 der Beklagten vorlegen müssen. Er habe also sowohl die Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der Arbeitsunfähigkeit aus § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG, also auch die Pflicht zur Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am ersten Tag aus § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG in Verbindung mit der Weisung der Beklagten vom 06.07.2021 verletzt. Er sei zuvor zweimal einschlägig abgemahnt worden, weil er die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den 01.06.2021 bis zum 26.06.2021 erst auf Anforderung der Beklagten am 30.06.2021 und die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den 16.08.2021 bis zum 31.08.2021 erst auf Anforderung der Beklagten am 01.09.2021 vorgelegt habe.

Weiter führt das Arbeitsgericht zur Begründung aus, dass die vorgenannten Pflichtverletzungen auch schuldhaft erfolgt seien. Die Behauptung des Klägers, diese seien sämtlich durch seine schwere psychische Erkrankung bedingt, sei in ihrer Pauschalität nicht geeignet, die Pflichtverletzungen zu entschuldigen. Es sei am Kläger gewesen, genauer dazu vorzutragen, um was für eine Erkrankung es sich gehandelt habe und warum sie ihn daran hindere, eine Arbeitsunfähigkeit der Beklagten unverzüglich anzuzeigen und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unverzüglich vorzulegen. Entsprechende Ausführungen fehlten ebenso wie eine Erklärung, warum ihn die psychische Erkrankung daran hindern solle, sein Fernbleiben von der Arbeit überhaupt in irgendeiner Weise, und sei es auch nur nachträglich, zu begründen und damit ggf. zu entschuldigen. Da der Kläger sein Verhalten auch nach Erhalt dieser Abmahnungen nicht geändert habe, sei eine dauerhafte störungsfreie Vertragserfüllung nicht zu erwarten. Eine weitere Abmahnung als milderes Mittel komme nicht in Betracht. Die Beklagte habe den Kläger in den sechs der Kündigung vorausgehenden Monaten sowohl wegen unentschuldigten Fehlens als auch wegen Verletzungen der Melde- und Nachweispflichten wiederholt abgemahnt. Auf jede der Abmahnungen sei nur Wochen später ein ähnlicher Verstoß gefolgt. Daraus habe die Beklagte schließen dürfen, dass auch eine weitere Abmahnung nicht zu einer Abstellung der Pflichtverletzungen führen werde. Ein milderes, aber trotzdem effektives Mittel habe der Beklagten mithin nicht zur Verfügung gestanden, sodass sich der Ausspruch der ordentlichen Kündigung als verhältnismäßig darstelle. Auch ein weiteres betriebliches Eingliederungsmanagement stelle kein milderes Mittel dar. Der Kläger habe sowohl 2020 als auch 2021 entsprechende Einladungen abgelehnt. Tatsachen, die annehmen ließen, dass die Betriebsratsanhörung fehlerhaft sein könne, seien nicht ersichtlich.

Dieses Urteil ist dem Kläger 13.06.2022 zugestellt worden. Nach der am 29.07.2022 erfolgten Bewilligung der am 13.07.2022 beantragten Prozesskostenhilfe und nach der Zustellung des entsprechenden Bewilligungsbeschlusses am 05.08.2022 hat der Kläger am gleichen Tag, also am 05.08.2022, einen Antrag auf Widereinsetzung in den vorigen Stand gestellt, der am 08.08.2022 bei Landesarbeitsgericht eingegangen ist. Die Berufungsbegründung ist sodann zusammen mit einem erneuten, hilfsweise gestellten Wiedereinsetzungsantrag am 08.08.2022 beim Landesarbeitsgericht Köln eingegangen.

Zur Begründung seiner Berufung hat der Kläger vorgetragen, das Arbeitsgericht habe genauso wie die Beklagte seine Krankheitsgeschichte nicht hinreichend gewürdigt. Er müsse aufgrund seiner psychischen Erkrankung Medikamente nehmen. Aufgrund dieser Medikamente sei er in seiner Leistungsfähigkeit sehr eingeschränkt. So sei er einmal in der Straßenbahn eingeschlafen und erst an der Endhaltestelle aufgewacht. Wegen seiner Beschwerden sei er zu der von der Beklagten in ihrem Unternehmen eingerichteten Sozialberatung gegangen, die er hiermit von deren Schweigepflicht entbinde. Aus dem Blickwinkel der Beklagten sei ersichtlich gewesen, dass "etwas nicht stimme". Fünf Jahre lang sei das Arbeitsverhältnis ohne Probleme verlaufen. Seine psychischen Probleme seien erst durch den Tod seines Kindes und die Trennung von seiner Lebensgefährtin entstanden. Die Beklagte sei nach seiner Auffassung ihrer Rücksichtnahmepflicht nicht nachgekommen. Es sei ihre Pflicht gewesen, sich nach den Ursachen seiner Pflichtverletzungen zu erkundigen. Aufgrund seiner Erkrankung sei er lethargisch gewesen, er sei unfähig gewesen, am sozialen Leben teilzunehmen und er sei unfähig gewesen, seinen Rechten und Pflichten nachzukommen. Er sei den Herausforderungen seines Lebens nicht mehr gewachsen gewesen. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat sei er zu nichts fähig gewesen. Selbst der Kontakt zu seiner Mutter, die sich um ihn habe kümmern wollen, sei abgebrochen. Von einem psychisch Kranken die Darlegung der Krankheitsursache zu fordern, gehe ins Leere. "Definiert man den Zustand des Irrseins medizinisch und nicht bösartig, dann kann man landläufig sagen, dass das Wesen eines Irren ist, nicht zu erkennen, dass er irre ist." Zwangsläufig dürfe man dann von ihm nicht die Erläuterung der Gründe seiner Arbeitsunfähigkeit fordern. Er sei der Herausforderung, sein Leben zu organisieren, nicht mehr gewachsen gewesen. Er habe sich in fachärztliche Behandlung begeben müssen. Für alles Vorstehende rege er die Einholung eines Sachverständigengutachtens an. Nur ein Sachverständiger könne beurteilen, ob er am 10.10.2021 habe schuldhaft handeln können, oder ob er aufgrund seiner Depression außer Stande gewesen sei, sich bei der Arbeitgeberin zu melden. Arbeitsrichterinnen und -richter seien zu dieser Beurteilung jedenfalls nicht in der Lage. Wenn das Arbeitsgericht nun dennoch meine, ohne ein Sachverständigengutachten entscheiden zu können, dann entspreche das der Erfahrung, der zufolge sich Arbeitsgerichte um das rechtliche Gehör der Parteien nicht kümmerten. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung sei er nicht mehr krank gewesen. Er sei vollständig genesen. Mit ärztlicher Hilfe, Freunden und Verwandten sei die Krankheit bekämpft und beendet.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Köln 18.05.2022 - 3 Ca 5693/21 - abzuändern und festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 21.10.2021 zum 31.03.2022 sein Ende gefunden hat.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Sie habe jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Kündigung von der Depression des Klägers keine Kenntnis erlangt.

Auf Nachfrage des Gerichts, was genau am 10.10.2021 die Sachlage gewesen sei, insbesondere ob der Kläger an jenem Tag handlungsfähig oder nicht handlungsfähig gewesen sei, hat der Kläger in der Berufungsverhandlung persönlich erklärt, er könne sich konkret an den 10.10.2021 nicht mehr erinnern. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in der gleichen Verhandlung erklärt, er bestreite die Behauptung der Beklagten, der Kläger habe am 10.10. auf dem Dienstplan gestanden, mit Nichtwissen. Auf Nachfrage des Gerichts, ob er zwischen den streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeitszeiträumen Phasen der Arbeitsfähigkeit und des Arbeitseinsatzes gegeben habe, erklärte der Kläger in der Berufungsverhandlung, er sei zwischenzeitlich zur Arbeit gegangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig aber nicht begründet.

I. Die Berufung des Klägers ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO). Da er frist- und formgemäß den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt hatte, war ihm die Wiedereinsetzung zu gewähren; er hatte nur deshalb die Berufungsfrist versäumt, weil bis zu deren Ablauf sein rechtzeitig gestellter Antrag auf Prozesskostenhilfe nicht bewilligt worden war.

II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage hinsichtlich der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen.

Auf die ausführliche Begründung des Arbeitsgerichts wird Bezug genommen. Die nachfolgenden Anmerkungen erfolgen nur zur Vertiefung der Begründung und soweit sie durch das Vorbringen des Klägers in der Berufungsbegründung veranlasst worden sind.

Zurecht hat das Arbeitsgericht angenommen, dass die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist beendet hat. Die Kündigung ist weder gemäß § 1 Abs. 1 KSchG mangels einer sozialen Rechtfertigung unwirksam noch sind andere Unwirksamkeitsgründe ersichtlich.

1. Die Kündigung ist gemäß § 1 Abs. 2 KSchG durch Gründe im Verhalten des Klägers sozial gerechtfertigt. Sie ist daher nicht gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam. Nachdem der Kläger mindestens zweimal einschlägig abgemahnt worden war, hat er am 10.10.2021 und am 11.10.2021 erneut in dem Sinne unentschuldigt gefehlt, dass er sich erst am 12.10.2021 bei der Beklagten gemeldet hat, um Bescheid zu sagen, dass er krankheitsbedingt ausfalle. Damit hat er wiederholt und - angesichts der Abmahnungen beharrlich - gegen seine arbeitsvertragliche Pflicht aus § 5 Absatz 1 Satz 1 EFZG verstoßen.

Dieser Pflichtverstoß geschah auch schuldhaft. Allein aufgrund der ihm zugegangenen Abmahnungen wusste der Kläger von seiner Pflicht, sich bei krankheitsbedingter Verhinderung unverzüglich bei der Arbeitgeberin zu melden. Durch das Schreiben vom 06.07.2021 (Empfangsbekenntnis vom Kläger am 15.07.2021 unterzeichnet, Bl. 175 d.A.) wusste der Kläger von seiner Pflicht, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab dem ersten Tag der Verhinderung vorzulegen. Ebenfalls aufgrund der Abmahnungen wusste der Kläger auch, dass die Beklagte ihm für den Wiederholungsfall arbeitsrechtliche Konsequenzen angedroht hat. Trotz all dieses Wissens und trotz der eindeutigen Anweisungen hat sich der Kläger beharrlich und zuletzt am 10.10.2021 und 11.10.2021 pflichtwidrig verhalten. Selbst wenn zu seinen Gunsten Gleichgültigkeit unterstellt wird, so wäre dies jedenfalls eine Gleichgültigkeit, die ein "und wenn schon" mitdenkt. Danach ist von bedingtem Vorsatz, jedenfalls aber von bewusster Fahrlässigkeit auszugehen. Das pflichtwidrige Verhalten war vorwerfbar.

Der Vortrag des Klägers zu seiner Depression rechtfertigt nicht die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Behauptung der Beklagten, der Kläger habe am 10.10.2021 und am 11.10.2021 schuldhaft und vorwerfbar gehandelt. Der Vortrag erschüttert nicht die besagte für den (seelisch und psychisch) gesunden Arbeitnehmer geltende Annahme, der Kläger habe sich mit Wissen und Wollen, jedenfalls aber unter Missachtung der gehörigen Sorgfalt verhalten. Denn der Kläger hat entgegen seiner prozessualen Obliegenheit aus § 138 Absatz 2 und Absatz 1 ZPO seine Geschichte nicht zu Ende erzählt. Gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG trägt die Arbeitgeberin die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, die die Kündigung bedingen sollen. Wenn es um die soziale Rechtfertigung einer Kündigung wegen eines Grundes im Verhalten der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers geht, dann kann nur schuldhaftes Verhalten in der Vergangenheit die eine Kündigung begründende Prognose rechtfertigen, es sei mit einem ebensolchen schuldhaften Verhalten in der Zukunft zu rechnen. Die Darlegungs- und Beweislast der Arbeitgeberin aus § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG betrifft mithin auch das hier streitige Verschulden. Das bedeutet in der Konsequenz, dass bei einer Beweisaufnahme mit dem Ergebnis "non liquet" die Beklagte den Kündigungsschutzprozess verliert. Nach dem Grundgedanken der Absätze 1 und 2 des § 138 ZPO kann eine pauschal behauptete Tatsache auch pauschal bestritten werden. Trägt die Partei, die die Darlegungslast hat, alles das vor, was sie vorzutragen in der Lage ist, behauptet sie also nicht nur pauschal, so trifft den Prozessgegner gemäß § 138 Abs. 2 ZPO die Pflicht, sich hierauf einzulassen. Diese Einlassung hat ihrerseits den Anforderungen des Absatzes 1 der gleichen Vorschrift zu genügen. Sie muss also nicht nur wahr sein, sondern auch vollständig. Erst wenn das geschehen ist, gilt nicht etwa gemäß § 138 Abs. 3 ZPO die Darlegung der beweisbelasteten Partei als wahr, sondern es ist über die behauptete und bestrittene Tatsache Beweis zu erheben.

Da im vorliegenden Fall die Beklagte alles vorgetragen hat, was sie hat vortragen können, um ihrer Darlegungslast zum Thema "Verschulden" Genüge zu tun, war es am Kläger, sich hierzu "vollständig" einzulassen. Das hat er nicht getan; er hat seine Geschichte nicht zu Ende erzählt; er hat sich sogar in erheblicher Widersprüche verstrickt: Wenn der Kläger vorträgt, er sei den Herausforderungen seines Lebens nicht mehr gewachsen gewesen, "Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat" sei er "zu nichts fähig" gewesen, so ist dieser Vortrag nicht mit der Tatsache zu vereinbaren, dass der Kläger - nach seinen eigenen Bekundungen in der Berufungsverhandlung - eben nicht Tag für Tag, Woche für Woche und Monate für Monat zu nichts mehr fähig gewesen ist, sondern ganz im Gegenteil zwischen den Krankheitsphasen Arbeitsleistung erbracht hat, wie z.B. auch in der Zeit vor dem hier fraglichen 10.10.2021. Nicht zu vereinbaren ist dieser Vortrag auch mit der Tatsache, dass der Kläger am 12.10.2021, also zwei Tage später, durchaus in der Lage war, bei der Beklagten anzurufen. Nicht zu vereinbaren ist dieser Vortrag auch mit der Tatsache, dass er bereits im Zeitpunkt der Klageerhebung am 25.10.2021, also keine zwei Wochen später, "vollständig genesen" sein will und dass "mit ärztlicher Hilfe, Freunden und Verwandten" die Krankheit bekämpft und beendet worden sei. Im Übrigen fehlt jegliche Glaubhaftmachung: Das vorgelegte Attest vom 07.07.2022 ist 13 Monate nach den hier fraglichen Vorkommissen erstellt worden und enthält keine Zeitangaben; es wurden ansonsten keine Atteste vorgelegt, keine Stellungnahmen, keine Überweisungen an Fachärztinnen oder Fachärzte, keine Rezepte. Es fehlt jeder Vortrag dazu, wie der Kläger überhaupt sein Leben gemeistert haben will, wie er überhaupt überlebt haben will, wenn er "Monat für Monat" zu "nichts mehr fähig" gewesen sein soll.

Zurecht hat der Kläger auf die Entscheidung des 7. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 10.11.2010 - 7 Sa 1052/09 - mit ausführlichen wörtlichen Zitaten hingewiesen und damit auf die Tatsache, dass eine Depression in besonderen Fällen ein vorwerfbares Verhalten ausschließen kann. Voraussetzung ist aber auch nach dieser Entscheidung, dass der Kläger darlegt "worunter er gelitten habe, sodass er seinen Pflichten nicht habe nachkommen können" (BAG v. 03.11.2011 - 2 AZR 748/10 - Rn. 33). Daran fehlt es hier wie gezeigt: Aus den Darlegungen des Klägers lässt sich nicht schließen, was ihn am 10.10.2021 und am 11.10.2021 davon abgehalten hat, sich bei der Beklagten zu melden - wenn nicht schlichter Unwillen oder die Verletzung einer Sorgfaltspflicht. Dass dies kein Dauerzustand hat sein können, der "Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat" vorlag, wurde bereits dargestellt. Vor dem 10.10.2021 hat er jedenfalls Arbeitsleistung erbracht, am 12.10.2021 war er durchaus und tatsächlich in der Lage bei der Beklagten anzurufen und keine zwei Wochen später will er nach eigenem Bekunden von seiner Depression vollständig genesen gewesen sein. Streitentscheidend war hier die Frage, ob der Kläger am 10.10.2021, also dem Tag, der den Kündigungsanlass darstellt, krankheitsbedingt gehindert war, zum Telefonhörer zu greifen. Dazu hat der Kläger nichts Verwertbares vorgetragen.

Entgegen der Auffassung des Klägers reicht es nach alledem bei vertragswidrigem Verhalten nicht, die Vorwerfbarkeit pauschal zu bestreiten, um einen Beweisbeschluss des Gerichts zu veranlassen. Die bloße Erwähnung der Diagnose "Depression" macht dieses Bestreiten nicht weniger unerheblich. Das gilt auch für den Fall, dass die Auffassung des Klägers zur fehlenden Sachkenntnis des Gerichts zutreffend wäre.

2. Weitere Unwirksamkeitsgründe sind nicht ersichtlich und vom Kläger in seiner Berufungsbegründung auch nicht weiter vertieft worden.

3. Zur Interessenabwägung und zur Betriebsratsanhörung wird auf die Entscheidungsgründe des arbeitsgerichtlichen Urteils Bezug genommen.

III. Nach allem bleibt es somit bei der erstinstanzlichen Entscheidung, der zufolge die ordentliche das Arbeitsverhältnis beendet hat. Als unterliegende Partei hat die Klägerin gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten der Berufung zu tragen. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.

Vorschriften