Urteil vom 03.05.2022 · IWW-Abrufnummer 237542
Landesarbeitsgericht Thüringen - Aktenzeichen 5 Sa 21/22
1. Das MiLoG ist im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ein Schutzgesetz, denn die Normen der §§ 1 , 20 , 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG schützen mindestens auch die einzelnen Arbeitnehmer vor Zahlung unangemessen niedriger Löhne. Die Zahlungspflicht in § 20 MiLoG und die daran anknüpfende Bußgeldvorschrift sollen ein Arbeitsentgelt in Höhe des Mindestlohns und damit angemessene Arbeitsbedingungen sicherstellen.
2. Die Schutzrichtung des MiLoG besteht nicht darin, vor Lohnausfall zu schützen, sondern davor, dass ein zu niedriger Lohn vereinbart und gezahlt wird. Das Mindestlohngesetz soll Schutz vor Unterschreitung einer angemessenen Lohnhöhe bieten und keinen Schutz vor Lohnausfall an sich.
In dem Rechtsstreit
- Kläger und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigte/r:
Rechtsanwälte
gegen
- Beklagter zu 1) und Berufungsbeklagter zu 1) -
- Beklagter zu 2) und Berufungsbeklagter zu 2) -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt
zu 1) und 2)
hat das Thüringer Landesarbeitsgericht auf die mündliche Verhandlung vom 03.05.2022 durch Richterin am Amtsgericht Schmidt als Vorsitzende sowie die ehrenamtlichen Richter als Beisitzer sowie die ehrenamtlichen Richter Herr Lösche und Frau Knauer-Brychcy als Beisitzer für Recht erkannt:
Tenor: 1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 12.06.2019 - 1 Ca 67/18 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen. 2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagten als Geschäftsführer seiner ehemaligen Arbeitgeberin gesamtschuldnerisch auf Schadenersatz aufgrund unterbliebener Lohnzahlung für die Monate Juni und Juli 2017 in Höhe des Mindestlohns in Anspruch.
Der Kläger war seit dem 01.01.2000 bei der ........ GmbH (Schuldnerin) zuletzt zu einem Stundenlohn in Höhe von brutto 10,35 EUR bei einer Arbeitszeit von 40 Stunden als Produktionsmitarbeiter beschäftigt. Der gesetzliche Mindestlohn betrug in dieser Zeit 8,84 EUR brutto. Die Beklagten waren Geschäftsführer der Schuldnerin.
Im Zeitraum vom 01.06.2017 bis 14.07.2017 arbeitete der Kläger für die Schuldnerin. Im Zeitraum vom 15.07.2017 bis 04.08.2017 nahm er Urlaub. Für die Monate Juni und Juli 2017 zahlte die Schuldnerin kein Entgelt. Der Kläger erhielt auch keine Lohnersatzleistungen für diesen Zeitraum.
Am 01.11.2017 eröffnete das Amtsgericht Gera das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin. Insolvenzgeld wurde erst für einen Zeitraum ab dem 01.08.2017 gezahlt.
Mit der am 13.02.2018 beim Arbeitsgericht Gera (1 Ca 67/18) eingegangenen Klage hat der Kläger Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns für den Monat Juni 2017 in Höhe von 1.555,84 EUR brutto und für den Monat Juli 2017 in Höhe von 1.485,12 EUR brutto begehrt. Wegen der Berechnung wird auf die Klageschrift vom 09.02.2018 (Bl. 2 d.A.) verwiesen.
Erstinstanzlich hat der Kläger behauptet, er habe aufgrund teilweiser monatelang verspätet gezahlter Vergütungen im Jahr 2017 ein Zurückbehaltungsrecht an seiner Arbeitsleistung geltend gemacht. Lohnforderungen würden sich aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges rechtfertigen.
Er hat einen direkten Zahlungsanspruch gegen die Beklagten auf §§ 823 Abs. 2 BGB, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiloG gestützt. Die Nichtzahlung des gesetzlichen Mindestlohnes stelle eine Ordnungswidrigkeit dar. Das Mindestlohngesetz sei ein drittschützendes Gesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger brutto 1.555,84 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.07.2017 zu zahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger brutto 1.485,12 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.08.2017 zu zahlen.
Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte zu 1) hat erstinstanzlich die Auffassung vertreten, es fehle an einer Rechtsgrundlage für einen Schadenersatzanspruch gegen ihn persönlich.
Mit Urteil vom 12.06.2019 hat das Arbeitsgericht die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass auch Schadensersatzansprüche sich nur gegen die Arbeitsvertragspartei richten könnten. Ansprüche gegen die juristische Person könnten nicht gegenüber ihren Organen, den Geschäftsführern persönlich, geltend gemacht werden.
Gegen das ihm am 03.07.2019 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts Gera hat der Kläger mit am 18.07.2019 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese begründet.
Mit der Berufung wiederholt der Kläger seine erstinstanzlich vorgebrachten Argumente und führt zudem an, das Arbeitsgericht habe verkannt, dass es nicht nur vertragliche, sondern auch gesetzliche und insbesondere deliktische Ansprüche gäbe. Die deliktische Haftung des Geschäftsführers sei z.B. aus §§ 823 Abs. 2 BGB, 64 GmbHG bejaht worden. Hier seien die Beklagten gemäß §§ 823 Abs. 2 BGB, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG unmittelbar zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohnes verpflichtet. Das Mindestlohngesetz diene dem Schutz von Arbeitnehmern vor unangemessen niedrigen Löhnen. Damit habe es auch drittschützenden Charakter. In diesem Sinne sei es Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB.
Zwar verpflichte das Mindestlohngesetz in erster Linie den Arbeitgeber als Vertragspartner; die nicht oder nicht rechtzeitige Zahlung des Mindestlohns sei jedoch eine Ordnungswidrigkeit und nach § 9 OWiG sei bei der Handlung eines vertretungsberechtigten Organs einer juristischen Person auch auf die Person des Vertreters abzustellen. Insofern hätten die Geschäftsführer, die Beklagten, in Person ordnungswidrig gehandelt.
Der Kläger weist darauf hin, dass auch das Sächsische LAG am 17.09.2019 zum Aktenzeichen 1 Sa 77/19 einen Durchgriffsanspruch gemäß § 21 MiLoG bejaht habe.
Der Kläger beantragt:
1. Auf die Berufung des Klägers/Berufungsklägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Gera vom 12.06.2019, Az. 1 Ca 66/18, aufgehoben.
2. Die Beklagten/Berufungsbeklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger brutto 1.555,84 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.07.2017 zu zahlen.
3. Die Beklagten/Berufungsbeklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger brutto 1.485,12 EUR nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.08.2017 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie bestreiten, vorsätzlich oder auch nur fahrlässig gehandelt zu haben. Die Beklagten sind der Ansicht, das Mindestlohngesetz sei kein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB.
§ 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG verweist ausdrücklich auf § 20 MiLoG, der ausschließlich den Arbeitgeber zur Zahlung des Mindestlohnes verpflichte. Eine Durchgriffshaftung wie beispielsweise in § 64 GmbHG sei den Vorschriften der §§ 20, 21 MiLoG fremd.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Klägers ist zulässig. Insbesondere ist sie form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden, §§ 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG,64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. 520 Abs. 3 ZPO.
II.
Die Berufung des Klägers ist jedoch unbegründet.
Zu Recht hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Zahlung von insgesamt 3.040,96 EUR brutto.
Als Anspruchsgrundlage für einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagten als Gesamtschuldner kommt hier lediglich § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §§ 1, 20, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG in Betracht.
Die Voraussetzungen für einen solchen Schadenersatzanspruch sind hier nicht erfüllt.
Die vom Kläger vorgelegte Entscheidung des Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 17.09.2019, Az. 1 Sa 77/19, (Bl. 82 ff. d.A.) stützt einen Schadensersatzanspruch im vorliegenden Fall nicht. Sie betrifft eine andere Fallgestaltung. Im dort entschiedenen Fall wurde der Differenz-Mindestlohn geltend gemacht. Im vorliegenden Fall war jedoch ein Stundenlohn von 10,35 EUR, der über dem Mindestlohn von 8,84 EUR lag, vereinbart.
Auch wenn man dem Sächsischen LAG folgt und das Mindestlohngesetz als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB begreift, muss ein möglicher Schaden gerade durch die Verletzung des Schutzgesetzes verursacht sein. Für die adäquate Verursachung genügt es, wenn die Befolgung des Schutzgesetzes größere Sicherheit gegen den Schadenseintritt geboten hätte. Der Geschädigte muss in den persönlichen Anwendungsbereich des Schutzgesetzes fallen, d.h. zum Kreis der Personen gehören, deren Schutz die Norm bezweckt. Das verletzte Rechtsgut muss in den sachlichen und der entstandene Schaden in den funktionalen Schutzbereich fallen, d.h. zu den Schäden gehören, die durch die Norm verhindert werden sollen.
Hier ist zunächst auf die Gesetzesbegründung zur Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohnes abzustellen. Danach ist ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer notwendig. Allerdings zielt der Mindestlohn im Unterschied zum Tarifvertrag nicht darauf ab, einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherzustellen. Vielmehr kann und soll der allgemeine Mindestlohn lediglich verhindern, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Arbeitsentgelten beschäftigt werden, die jedenfalls unangemessen sind und den in Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetztes zum Ausdruck kommenden elementaren Gerechtigkeitsanforderungen nicht genügen (Drucksache 18/1558 - Deutscher Bundestag - 18. Wahlperiode).
Der Kläger wurde von der Schuldnerin gerade nicht unter dem Mindestlohn sondern mit einem Bruttostundenlohn von 10,35 EUR beschäftigt. Insoweit wurde dem Mindestlohngesetz Rechnung getragen. Das Mindestlohngesetz kann und soll den Arbeitnehmer jedoch nicht für Fälle der Insolvenz schützen. Wenn vom Arbeitgeber überhaupt kein Lohn aufgrund von Zahlungsunfähigkeit gezahlt wird, ist dies vom Schutzbereich des Mindestlohngesetzes nicht umfasst. Hier greifen die speziellen Insolvenzregelungen und die Gläubiger sind aufgefordert, ihre Forderungen zur Tabelle anzumelden.
Danach besteht für eine Durchgriffshaftung auf die Beklagten als Geschäftsführer aufgrund einer behaupteten Schutzgesetzverletzung kein Raum.
Zu diesem Ergebnis kam auch die 4 Kammer im Parallelverfahren 4 Sa 223/19. Insoweit schließt sich die Kammer ergänzend den ausführlichen Gründen im Urteil des Thüringer LAG vom 09.02.2022, Az. 4 Sa 223/19, an:
"I.
Für eine Haftung der Geschäftsführer*innen einer GmbH im Außenverhältnis gem. § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz ist danach zu differenzieren, ob die vom Schutzgesetz erfassten Verhaltenspflichten von jedermann zu beachten sind oder eine*n Geschäftsführer*in nur und gerade in dieser Eigenschaft verpflichten, denn in letzterem Falle ist die Außenhaftung noch einmal besonders zu begründen (vgl. MüKo-GmbHG/Fleischer § 43 Rn 352).
Die Haftung von GmbH Geschäftsführer*innen bei Pflichtverletzungen ist grundsätzlich in § 43 Abs. 2 GmbHG als Innenhaftung konzipiert (ähnlich MüKo-GmbHG/Fleischer § 43 GmbHG Rn 339). Die Pflichten aus der Organstellung zur ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte der Gesellschaft aus § 43 Abs. 1 GmbHG, zu denen auch die Pflicht gehört, für die Rechtmäßigkeit des Handelns der Gesellschaft Sorge zu tragen, bestehen grundsätzlich nur dieser gegenüber und lassen bei ihrer Verletzung Schadensersatzansprüche grundsätzlich nur der Gesellschaft entstehen (BAG 23.2.2016, 9 AZR 293/15, NZA 2016, 703; BGH 5.12.1989, VI ZR 335/88, NJW 1990, 976; 10.7.2012, VI ZR 341/10, NJW 2012, 3439). Auch soweit es um Pflichtverletzungen von Geschäftsführer*innen bei der Erfüllung von Pflichten geht, die die GmbH gegenüber Dritten zu erfüllen hat, trifft die Einstandspflicht hierfür gegenüber den betroffenen Dritten prinzipiell nur die Gesellschaft, nicht ihr Organ (BAG 23.2.2016, 9 AZR 293/15, NZA 2016, 703; BGH 5.12.1989, VI ZR 335/88, NUW 1990, 976).
Allerdings kommt eine persönliche Haftung von Geschäftsführer*innen in Betracht, wenn mit den Pflichten aus der Organstellung gegenüber der Gesellschaft Pflichten einhergehen, die von den Geschäftsführer*innen nicht mehr nur für die Gesellschaft als deren Organ zu erfüllen sind, sondern die sie aus besonderen Gründen persönlich gegenüber Dritten treffen
(BGH 5.12.1989, VI ZR 335/88, NJW 1990, 976). Diese besonderen Gründe werden bejaht, wenn eine konkrete Gefahrenlage für das Schutzgut des*der Geschädigten besteht und der*die Geschäftsführer*in des Unternehmens für die Steuerung derjenigen Unternehmenstätigkeit verantwortlich ist, aus der sich die Gefahrenlage ergibt. Die Haftung von Geschäftsführer*innen folgt in diesen Fällen nicht aus ihrer Organstellung als solcher, sondern aus der - von der Rechtsform des Unternehmens unabhängigen - tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeit und Zumutbarkeit der Beherrschung einer Gefahrenlage für absolut geschützte Rechte Dritter (BGH 15.12.2015, X ZR 30/14, GRUR 2016, 257 Rn 113).
Die Pflicht als Geschäftsführer*in einer GmbH, für die Zahlung des Mindestlohns an die Arbeitnehmer*innen zu sorgen, ist in erster Linie eine Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft. Aufgrund der Organstellung ist er*sie dieser gegenüber verpflichtet, deren vertragliche und gesetzliche Verpflichtungen zu erfüllen bzw. durch sein*ihr Handeln dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft rechtmäßig handelt. Die Verpflichtung zur Entgeltzahlung als solche ist eine vertragliche Verpflichtung welche die Gesellschaft gegenüber den Arbeitnehmer*innen hat. Die Pflicht zur Zahlung des Mindestlohnes ist eine gesetzliche Pflicht, welche ebenso der Gesellschaft als Arbeitgeber*in auferlegt worden ist. Umstände, welche diese Pflichten von Geschäftsführer*innen ins Außenverhältnis projizieren, sieht die Kammer nicht. Weder sind Umstände erkennbar, weshalb Geschäftsführer*innen persönliche Verantwortung für die Zahlung des Mindestlohns an Arbeitnehmer*innen haben sollen, noch weshalb diese für die Gewährleistung des Mindestlohns gegenüber den Arbeitnehmer*innen eine Art Garantenstellung haben sollen. Geschäftsführer*innen einer Gesellschaft haben tatsächlich nur eingeschränkt die Möglichkeit, eine Gefahrenlage für die Zahlung des Mindestlohns, etwa aufgrund von Liquiditätsproblemen zu vermeiden. Rechtlich mag es zu deren Pflichten auch zu Gunsten von potentiellen Gläubiger*innen gehören, für Liquidität zu sorgen; nicht immer ist dieses tatsächlich möglich und beherrschbar. Dabei kommt es nicht darauf an, dass dies im Einzelfall so war, sondern für die allgemeine Einordnung als über Organpflichten hinausgehende persönliche auch den Arbeitnehmer*innen obliegende Pflicht kommt es auf die abstrakte Feststellung hierzu an. Im Übrigen hat der Kläger selbst in der Klageschrift dargelegt, dass es schon vor Juni 2017 zu verspäteten Lohnzahlungen in einem Maße kam, welche ihn zu der Ansicht führten, von seinem Zurückbehaltungsrecht Gebrauch machen zu dürfen.
Eine direkte Verpflichtung von Geschäftsführer*innen persönlich gegenüber den Arbeitnehmer*innen ergibt sich auch nicht aus der Einordnung der nicht oder nicht rechtzeitigen Zahlung des Mindestlohns als Ordnungswidrigkeit gem. § 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG. Stellt sich eine Vorschrift zugunsten von Arbeitnehmer*innen als Schutzgesetz dar und ist als Ordnungswidrigkeit eingeordnet, so bedeutet dies aus Sicht der Kammer nicht unmittelbar, dass eine ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortung von Geschäftsführer*innen über § 9 Abs. 1 OwiG gleichzeitig eine Haftung im Außenverhältnis über § 823 Abs. 2 BGB begründet. Zur Überzeugung der Kammer besteht hier kein Gleichlauf ordnungswidrigkeitenrechtlicher und haftungsrechtlicher Verantwortlichkeit (im Ausgangspunkt anders aber im Ergebnis ähnlich MüKo-BGB/Wagner § 823 Rn 536, der eine persönliche Haftung des Vertretungsorgans darauf begrenzt, dass die Mithaftung dem Zweck des Schutzgesetzes entspricht). Soweit möglicherweise die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (13.12.2005 - 9 AZR 436/04 Rn 45) in einem solchen Sinne zu verstehen wäre, läge eine Divergenz vor.
Sinn von § 9 OWiG ist zur Überzeugung der Kammer die Schließung möglicher Strafbarkeitslücken und nicht die Schließung möglicher Haftungslücken. § 9 OWiG soll klarstellen und sicherstellen dass ein Pflichtverstoß ordnungswidrigkeitenrechtlich nicht folgenlos bleibt, wenn ein*e Vertretene*r nicht selbst gehandelt hat, die Ordnungswidrigkeit aber besondere persönliche Voraussetzungen verlangt, welche in der Person des*der handelnden Vertreters*in nicht vorliegen (vgl. zur Zielsetzung und Systematik der Organhaftung im Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht: KK-OWiG/Rogall OWiG § 9 Rn. 1-3). Die Schließung von Strafbarkeitslücken dient der Vermeidung unerwünschten gesellschaftlichen Handelns und nicht der Schließung individualrechtlicher Haftungslücken; individuelle Haftung ergibt sich aus dem Schutzzweck des Schutzgesetzes selbst und der sich aus der Schutznorm selbst abzuleitenden Passivlegitimation, d.h. wen das Schutzgesetz innerhalb des allgemeiner Haftungsdogmatik haftungsrechtlich als Verpflichteten ansieht (so i.E. MüKo-BGB/Wagner § 823 Rn 536).
II.
1.
Eine zum Schadenersatz verpflichtende Verletzung von §§ 1, 20, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG als Schutzgesetz liegt nicht vor. Mit dem sächsischen LAG (17.9.2019, 1 Sa 77/19) kann davon ausgegangen werden, dass das MiLoG Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB ist, denn die Normen §§ 1, 20, 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG schützen mindestens auch die einzelnen Arbeitnehmer*innen vor Zahlung unangemessen niedriger Löhne (BT-Drs. 18/1558 S. 26 allgemein und speziell zum MiLoG S. 27 f.). Die Zahlungspflicht in § 20 MiLoG und die daran anknüpfende Bußgeldvorschrift § 21 MiLoG sollen ein Arbeitsentgelt in Höhe des Mindestlohns und damit angemessene Arbeitsbedingungen sicherstellen (BT-Drs. 18/1558 S. 42).
Haftung aus der Verletzung eines Schutzgesetzes ergibt sich jedoch nur, wenn das von der verletzten Person geltend gemachte Interesse spezifisch geschützt ist (BGH 30.5.1963, VII ZR 236/61, BGHZ 39, 366; Jauernig/Teichmann, BGB § 823 Rn 45; ähnlich MüKo-BGB/Wagner § 823 Rn 536, der i.E. den Schutzzweck des Schutzgesetzes auch zur Begrenzung des verpflichteten Personenkreises heranzieht). Das ist hier bei genauer Betrachtung nicht der Fall. Der Kläger macht nicht unangemessene Arbeitsbedingungen geltend, sondern beklagt Lohnausfall. Die Schutzrichtung des MiLoG ist aber nicht, vor Lohnausfall zu schützen, sondern davor, dass ein zu niedriger Lohn vereinbart und gezahlt wird. Das Mindestlohngesetz soll Schutz vor Unterschreitung einer angemessenen Lohnhöhe bieten und keinen Schutz vor Lohnausfall an sich. Spezifische Schutzrichtung ist eine Absicherung der Lohnhöhe nach unten und Sicherstellung einer angemessenen Vergütung, um Arbeitnehmer*innen zu ermöglichen, in einem Arbeitsverhältnis so zu verdienen, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Damit soll auch vermieden werden, dass subsidiäre Sozialleistungen in Anspruch genommen werden müssen. Gegen Lohnausfall an sich, etwa auch aufgrund von Insolvenzlagen, schützt hingegen das Mindestlohngesetz nicht. Zwar stellt auch mathematisch das komplette Ausbleiben einer Lohnzahlung die Unterschreitung der Mindestlohnhöhe dar. Konkret haben die Beklagten aber nicht zu wenig Lohn ausgezahlt sondern gar keinen Lohn, was von der Wertung in Bezug auf den Zweck des Gesetzes zur Überzeugung der Kammer einen Unterschied macht.
2.
Auch die haftungsausfüllende Kausalität muss über die sog, Äquivalenz - und Adäquanzformel hinaus vom Schutzzweck der Norm begrenzt werden. Damit ist eine wertende Betrachtung angebracht. Naturwissenschaftlich ist beim Kläger durch die Nichtzahlung des Entgelts für Juni 2017 der geltend gemachte Schaden eingetreten; hätten die Beklagten den Mindestlohn gezahlt, hätte er die nunmehr eingeklagte Summe erhalten. Wie bereits dargelegt ist das jedoch nicht die Schutzrichtung des MiLoG, welches nicht vor Lohnausfall an sich, sondern vor unangemessenen Arbeitsbedingungen schützen soll. Die Arbeitsbedingungen waren hier nicht unangemessen, sie wurden lediglich nicht erfüllt...."
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
IV.
Die Revisionszulassung ergibt sich aus der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage sowie aus möglicher Divergenz zu LAG Sachsen Urteil vom 17.9.2019, 1 Sa 77/19.
SchmidtLöscheKnauer-Brychcy