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Beschluss vom 20.09.2023 · IWW-Abrufnummer 237658

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Aktenzeichen 12 Sa 90/20

1. Bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren kommt eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht.

2. In die erforderliche Gesamtabwägung sind neben anderen Aspekten auch die Erfolgsaussichten der eingelegten Verfassungsbeschwerde einzubeziehen. Eine Verfassungsbeschwerde, die offensichtlich keine Erfolgsaussichten hat, kann nicht Grundlage einer Aussetzungsentscheidung sein.

3. Die gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Mai 2023 in der Sache 10 AZR 369/20 eingelegte Verfassungsbeschwerde ist nicht offensichtlich aussichtslos. Es bestehen insbesondere Zweifel daran, dass der objektive Sachgrund der "besseren Planbarkeit" bestimmter Formen von Nachtarbeit im Rahmen der Prüfung von Art. 3 Abs. 1 GG bei der unterschiedlichen Höhe von Nachtzuschlägen nur dann anzuerkennen sein soll, wenn er sich im Wege der Auslegung auch als subjektiver Differenzierungszweck der Tarifvertragsparteien darstellt.

4. Nicht die subjektive Willkür des Normgebers führt zur Feststellung eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, sondern die objektive Unangemessenheit der Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll. Mängel der Motive begründen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG für sich allein keine Verfassungswidrigkeit.


In der Rechtssache
...
gegen
hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - Kammern Mannheim - 12. Kammer - durch den Richter am Arbeitsgericht Dr. Bader ohne mündliche Verhandlung am 20. September 2023
beschlossen:

Tenor: I. Das Verfahren wird ausgesetzt bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde der Beklagten gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Mai 2023 in der Sache 10 AZR 369/20, längstens bis zum 30. September 2024. II. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

[Gründe]

I.

Die Parteien streiten über die Höhe der tariflichen Zuschläge für Arbeitsstunden, die in Nachtschichten geleistet werden.

Der Kläger leistete im streitgegenständlichen Zeitraum Dezember 2018 bis März 2019 Nachtarbeit im Rahmen von Wechselschichtarbeit bei der Beklagten, einem Unternehmen der Getränkeindustrie. Er ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Die Beklagte ist durch den mit der NGG geschlossenen Unternehmenstarifvertrag "Geltung von Manteltarifverträgen" (UTV) unter anderem an den Zusatz-Tarifvertrag für die Erfrischungsgetränkeindustrie in Baden-Württemberg vom 26. April 1989 (ZTV) und den Ergänzungsvertrag zum ZTV vom 9. März 1992 (EV ZTV) gebunden.

Der ZTV lautet auszugsweise wie folgt:

Der EV ZTV lautet auszugsweise wie folgt:

Der Kläger verrichtete von Dezember 2018 bis März 2019 in der Zeit zwischen 22:00 Uhr und 06:00 Uhr Nachtarbeit in Wechselschicht, für die er einen Zuschlag in Höhe von 25 % des Stundenentgelts erhielt.

Mit seiner Klage begehrt der Kläger für die geleistete Nachtarbeit die Zahlung weiterer Nachtarbeitszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem gezahlten tariflichen Zuschlag für Schichtarbeit in der Nachtzeit in Höhe von 25 % und dem tariflichen Zuschlag für Nachtarbeit, die nicht Schichtarbeit ist, in Höhe von 50 %.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Anspruch ergebe sich aus § 3 Abschn. II Nr. 3 Buchst. a ZTV iVm. dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nach der tariflichen Regelung erhielten Arbeitnehmer für Schichtarbeit von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr - trotz Vergleichbarkeit beider Arbeitnehmergruppen - Zuschläge für Nachtarbeit von nur 20 %, für sonstige Nachtarbeit dagegen Zuschläge von 50 %, ohne dass für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund vorliege. Der vorrangig zu beachtende Gesundheitsschutz rechtfertige die Ungleichbehandlung nicht; andere Aspekte als dieser könnten bei Nachtarbeit höhere Zuschläge nicht rechtfertigen.

Der Kläger hat zuletzt beantragt:

Die Beklagte hat beantragt,

Sie hat die Auffassung vertreten, die tarifvertraglichen Zuschlagsregelungen für Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verstießen nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Gruppen der Arbeitnehmer, die Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit verrichteten, seien schon nicht vergleichbar. Zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit bestehe zudem ein Regel-Ausnahmeverhältnis, weil die planbare Nachtschichtarbeit sehr viel häufiger anfalle als sonstige Nachtarbeit. Die unterschiedliche Höhe der Nachtarbeitszuschläge überschreite auch nicht den Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien.

Das Arbeitsgericht hat die Klage - genauso wie die Klagen in zahlreichen Parallelverfahren - abgewiesen. In einigen Parallelverfahren hat das Landesarbeitsgericht die Berufungen der dortigen Kläger zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat diese Revisionsverfahren im Hinblick auf zwei Vorabentscheidungsersuchen zum Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zunächst ausgesetzt. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf die dort gestellte Frage mit Urteil vom 7. Juli 2022 geantwortet (- C-257/21 und C-258/21 - [Coca-Cola European Partners Deutschland]). Anschließend hat der 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts in einem Parallelverfahren das Urteil des Landesarbeitsgerichts abgeändert und die Beklagte zur Zahlung der begehrten Zuschlagsdifferenzen verurteilt (BAG 24. Mai 2023 - 10 AZR 369/20). Es hat zur Begründung ausgeführt, die im Tarifvertrag enthaltene Differenzierung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Die Tarifvertragsparteien seien an den Gleichheitssatz zwar nicht unmittelbar gebunden. Der Gleichheitssatz bilde aber als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie und sei daher zu beachten (a.a.O. Leitsatz 2). Ein hinreichender Sachgrund zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bei der Zuschlagshöhe liege nicht vor. Zwar könne der Zweck des Ausgleichs der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Dieser Zweck des Ausgleichs einer schlechteren Planbarkeit von - unregelmäßiger - Nachtarbeit habe im ZTV jedoch keinen Niederschlag gefunden (a.a.O. Leitsatz 7).

Gegen die Entscheidung des 10. Senats vom 24. Mai 2023 in der Sache 10 AZR 369/20 hat die Beklagte Verfassungsbeschwerde erhoben.

Der Vorsitzende hat die Parteien mit Verfügung vom 23. August 2023 auf die Möglichkeit einer Aussetzung analog § 148 ZPO hingewiesen und Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.

II.

Das Berufungsverfahren wird bis zur Erledigung der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24. Mai 2023 in der Sache 10 AZR 369/20, längstens bis zum 30. September 2024, analog § 148 Abs. 1 ZPO ausgesetzt.

1. Bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren kommt eine Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht.

a) In dieser prozessualen Konstellation werden - wie bei einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union oder einem Normenkontrollverfahren - streitentscheidende Rechtsfragen durch ein höherrangiges Gericht geklärt. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union und Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht durch ein Fachgericht eingeleitet werden. Demgegenüber wird die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf durch die unterlegene Partei eingelegt. Schon deshalb kommt eine gleichsam automatische Aussetzung der Verhandlung in Parallelverfahren nicht in Betracht. Anderenfalls könnte die unterlegene Partei durch die bloße Einlegung der Verfassungsbeschwerde in einem durch die Fachgerichtsbarkeit bereits letztinstanzlich entschiedenen Verfahren die Aussetzung in zahlreichen Parallelverfahren herbeiführen. Eine solche Wirkung kann der Verfassungsbeschwerde, die die Rechtskraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt, nicht beigemessen werden (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A) - BAGE 172, 175 ff, Rn. 43; Rechtsprechungsnachweise im Folgenden zitiert nach juris).

b) Andererseits kann bei parallel gelagerten Fällen eine einzelne Verfassungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Das ist der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden. Zahlreiche weitere Verfassungsbeschwerden in Parallelverfahren würden im Gegenteil nur zu einer unnötigen Belastung des Bundesverfassungsgerichts führen und könnten im Extremfall die Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde, das auch dem Ziel dient, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, gefährden (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A) - BAGE 172, 175 ff, Rn. 44).

c) In diesem Spannungsfeld ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Aussetzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist bei der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Ermessenausübung anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

Zur Vermeidung einer überlangen Verfahrensdauer bedarf es einer Einschätzung der Gesamtdauer des Verfahrens. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist stets im Lichte der aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, zu beurteilen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt dabei allerdings ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht feste Fristen vor, sondern stellt auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls ab (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A) - BAGE 172, 175 ff, Rn. 45).

In die Gesamtabwägung sind auch die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde einzubeziehen (Thür. LSG 29. Juli 2004 - L 2 RA 461/04 - Rn. 11). Da auch eine offensichtlich unbegründete Verfassungsbeschwerde ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig macht, könnte anderenfalls selbst mit unsinnigen Schriftsätzen und missbräuchlich erhobenen Verfassungsbeschwerden die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass wegen der damit bewirkten Anhängigkeit beim Bundesverfassungsgericht ein Verfahren ausgesetzt werden könnte (Thür. LSG a.a.O.).

2. Unter Anlegung dieser Maßstäbe ergibt die notwendige Gesamtabwägung folgendes:

a) Gegen eine weitere Aussetzung des Berufungsverfahrens spricht einerseits, dass dieses - wenn auch nicht förmlich - de facto bereits seit Anfang 2021 ausgesetzt war. Zudem begann das Verfahren in erster Instanz bereits im Jahr 2019. Außerdem hätte die in erster Instanz abgewiesene Klage gemessen an der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Parallelverfahren 10 AZR 369/20 nunmehr sehr gute Erfolgsaussichten. Durch eine (erneute) Aussetzung wird dem Kläger die Möglichkeit genommen, eine vorläufig vollstreckbare zweitinstanzliche Entscheidung zu erhalten (§§ 64 Abs. 7, 62 Abs. 1 Satz 1 ArbGG).

b) Andererseits ist zu beachten, dass lediglich eine Klageforderung in Höhe von 769,08 EUR brutto streitgegenständlich ist. Der Kläger ist ersichtlich nicht auf eine zügige vorläufige Vollstreckung zur Sicherung seines Lebensunterhalts angewiesen.

Zudem spricht für eine Aussetzung des Verfahrens analog § 148 ZPO, dass die reale Gefahr besteht, dass bei Fortführung aller Verfahren betreffend Nachtzuschläge und Herbeiführung der Rechtskraft vor Klärung der relevanten Rechtsfragen durch das Bundesverfassungsgericht die Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde beeinträchtigt werden könnte. Der DGB-Rechtsschutz, der gerichtsbekannt den Großteil dieser Verfahren auf Arbeitnehmerseite betreut, spricht selbst von 6.000 bei den Instanzgerichten und 400 beim Bundesarbeitsgericht anhängigen Verfahren (https://www.dgbrechtsschutz.de/recht/arbeitsrecht/lohn/themen/beitrag/ansicht/lohn/nachtarbeitszuschlaege-erfolg-fuer-den-gewerkschaftlichen-rechtsschutz-beim-Bundesarbeitsgericht/details/anzeige/; zuletzt abgerufen am 19. September 2023).

Eine Verbreiterung der Erkenntnisgrundlage ist durch die Fortführung des hiesigen Verfahrens zudem nicht zu gewinnen. Es sind keinerlei nennenswerte Unterschiede zum Verfahren 10 AZR 369/20 vorgetragen oder ansonsten erkennbar.

c) Schließlich erscheint die Einlegung der Verfassungsbeschwerde durch die Beklagte aufgrund Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG bzw. Art. 3 Abs. 1 GG nicht als aussichtslos. Dies betrifft sowohl das "Ob" einer Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG auf tarifliche Regelungen als auch das "Wie" dieser Anwendung unter Beachtung der Tarifautonomie gemäß Art. 9 Abs. 3 GG.

aa) In der Literatur ist höchst umstritten, ob eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien besteht (siehe die Nachweise bei Creutzfeldt/Eylert, ZFA 2020, 239, 262 Fn. 76 und 78; Ulber, RdA 2021, 178, 180 Fn. 19). Jacobs etwa hat unlängst in einer Abhandlung zur Grundrechtskontrolle von Tarifverträgen die Ansicht vertreten, dass sich eine solche Kontrolle nicht begründen lasse. Die Grundrechtsbindung der Gerichte für Arbeitssachen bedeute nur, dass sie in bestimmten Lebensbereichen rechtsfortbildend Grenzen für Tarifverträge aufstellen müssten, wenn ansonsten das verfassungsrechtlich garantierte Minimum der Freiheitsbetätigung wegfiele. Das gelte aber nur für Freiheitsrechte, weil nur sie einen Schutzbereich hätten. Der allgemeine Gleichheitssatz sei für autonom verhandelte Tarifverträge kein Kontrollmaßstab. Die faktisch unmittelbare Gleichheitskontrolle durch das BAG schränke die Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) in unzulässiger Weise ein (Jacobs RdA 2023, 9 ff).

Soweit ersichtlich haben zwar mittlerweile alle Senate des Bundesarbeitsgerichts eine mittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte in unterschiedlicher Ausprägung angenommen (siehe die Nachweise getrennt nach Senaten bei Ulber, in: Däubler, TVG, 5. Aufl., Einleitung Rn. 228). Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung bislang indes offengelassen, ob eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien besteht (etwa BVerfG 25. November 2004 - 1 BvR 2459/04 -, BVerfGK 4, 219 ff, Rn. 9; weitere Nachweise bei Ulber, in: Däubler, TVG, 5. Aufl., Einleitung Rn. 228).

Von einer verfassungsrechtlich geklärten Rechtslage und einer aussichtslosen Verfassungsbeschwerde kann danach schon hinsichtlich des "Ob" der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien nicht gesprochen werden.

bb) Die viel diskutierte Grundsatzfrage nach dem "Ob" einer (mittelbaren) Grundrechtsbindung ist zudem nur ein verfassungsrechtlicher Aspekt. Aus Sicht des erkennenden Gerichts bestehen darüber hinaus vor allem Zweifel an der Art und Weise (dem "Wie") der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG durch den 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts in den Nachtzuschlagsfällen.

Entscheidendes Kriterium für die Klageabweisung oder -stattgabe ist nach der Rechtsprechung des 10. Senats der Umstand, ob der vom Senat als Differenzierungsgrund im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG akzeptierte Zweck des Ausgleichs der schlechteren Planbarkeit von unregelmäßiger Nachtarbeit Niederschlag im Tarifvertrag gefunden hat (BAG 24. Mai 2023 - 10 AZR 369/20 - Rn. 57). Die Prüfung der sachlichen Rechtfertigung der unterschiedlichen Behandlung hat sich danach ausschließlich an den aus dem Tarifvertrag erkennbaren Zwecken der Leistung zu orientieren (BAG 24. Mai 2023 - 10 AZR 369/20 - Rn. 46). Auf abstrakt denkbare (objektive) Zwecke kommt es nach Ansicht des 10. Senats nicht an, sondern nur auf solche, die den Tarifnormen im Weg der Auslegung zu entnehmen sind (BAG 24. Mai 2023 - 10 AZR 369/20 - Rn. 24). Wie auch sonst im Rahmen der Auslegung sei der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien nur dann relevant, wenn er im Tarifwerk Niederschlag gefunden habe.

Dies erscheint verfassungsrechtlich nicht unproblematisch.

Zunächst ist zweifelhaft, ob die allgemeine Auslegungsregel für Tarifverträge, wonach der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen ist, soweit er in den tariflichen Normen Niederschlag gefunden hat, ohne weiteres auf die Ermittlung des sachlichen Grunds gemäß Art. 3 Abs. 1 GG übertragbar ist. Anders als bei der Auslegung einer Tarifnorm geht es auf Rechtfertigungsebene im Rahmen des Gleichheitssatzes nicht darum, den inhaltlichen Regelungsgehalt einer Norm zu bestimmen, um als Normunterworfener verstehen zu können, was geregelt wird. Vielmehr ist der Regelungsinhalt der Tarifnorm klar: Die eine Gruppe soll höhere Zuschläge bekommen als die andere Gruppe. Es geht bei der Prüfung des sachlichen Grunds im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG vielmehr darum, dem differenzierenden Regelungsgehalt der Tarifnorm wegen eines (vermeintlich) nicht vorhandenen sachlichen Differenzierungskriteriums die Geltung zu versagen.

Wollte man einer einzelnen differenzierenden Tarifnorm aber immer schon dann die Geltung absprechen, wenn sich im Wege der Auslegung kein anerkannter Differenzierungszweck als Motiv der Tarifvertragsparteien ermitteln lässt, könnte dies die Tarifautonomie gemäß Art. 9 Abs. 3 GG über Gebühr beeinträchtigen. Ein Tarifvertrag enthält naturgemäß eine Vielzahl an Differenzierungen, die oftmals nur Teil eines größeren "Gesamtpakets" sind (dazu BAG 20. Juli 2023 - 6 AZR 256/22 - Rn. 37). Das übergeordnete Motiv der Tarifvertragsparteien besteht im "Schnüren" eines für beide Seiten akzeptablen "Gesamtpakets". Das konkrete Motiv für eine isoliert betrachtete Einzelregelung - sofern ein solches Motiv überhaupt vorhanden ist (vgl. zur "Gedankenlosigkeit" eines Normgebers StGH Hessen 12. Februar 2020 - P.St. 2610 - Rn. 160) - dürfte sich oftmals nicht im Tarifvertrag niedergeschlagen haben. Die mannigfaltigen differenzierenden Einzelregelungen eines Tarifwerks könnten - über die Nachtzuschlagsproblematik hinaus - in Anwendung der Rechtssätze des 10. Senats die Vermutung der Unwirksamkeit in sich tragen, solange ein objektiv bestehender sachlicher Differenzierungsgrund im Wege der Auslegung nicht gleichzeitig als subjektiver Regelungszweck der Tarifvertragsparteien festgestellt werden kann. Dies könnte angesichts des Art. 9 Abs. 3 GG immanenten Verbots der Tarifzensur (dazu Creutzfeldt/Eylert, ZFA 2020, 239, 263) verfassungsrechtlich problematisch sein.

Die "subjektive Zweckkontrolle" des 10. Senats könnte aus Sicht des erkennenden Gerichts vor allem auch deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt sein, weil sie den Prüfungsmaßstäben des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG unter Umständen nicht entsprechen könnte.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach entschieden, dass im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG "für die verfassungsrechtliche Prüfung... nicht ausschlaggebend [ist], ob die maßgeblichen Gründe für die gesetzliche Neuregelung im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich als solche genannt wurden oder gar den Gesetzesmaterialien zu entnehmen sind" Denn "[n]icht die subjektive Willkür des Gesetzgebers führt zur Feststellung eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, sondern die objektive Unangemessenheit der Norm im Verhältnis zu der tatsächlichen Situation, die sie regeln soll" (BVerfG 24. Januar 2012 - 1 BvL 21/11 - BVerfGE 130, 131 ff, Rn. 47; 26. April 1978 - 1 BvL 29/76 - BVerfGE 48, 227 ff, Rn. 35; 1. Juli 1981 - 1 BvR 874/77 -, BVerfGE 58, 81 ff, Rn. 148; ebenso OVG Lüneburg 7. Juli 2022 - 8 LB 6/22 - Rn. 32; LAG Düsseldorf 27. Juli 2021 - 8 Sa 64/21 - Rn. 52; Hamb. OVG 20. Oktober 2020 - 4 Bs 226/18 - Rn. 66; LSG Niedersachsen-Bremen 17. März 2010 - L 2 LW 5/09 - Rn. 200; siehe auch VerfGH Baden-Württemberg 19. März 2021 - 1 GR 93/19 - Rn. 133; VerfGH Rheinland-Pfalz 23. Januar 2018 - VGH O 17/17 - Rn. 99; Bay. VGH 7. März 2021 - 20 N 21.1926 - Rn. 43).

Selbst fehlerhafte und willkürliche Vorstellungen des Gesetzgebers schließen nicht aus, dass es objektiv vernünftige und sachliche Gründe für eine Regelung gibt; Mängel der Motive führen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG für sich allein gerade nicht zur Verfassungswidrigkeit (ErfK/Schmidt, 23. Aufl. 2023, GG Art. 3 Rn. 37).

Gemessen hieran erscheint es nicht ohne weiteres nachvollziehbar, dass der objektive Sachgrund der "besseren Planbarkeit" bestimmter Formen von Nachtarbeit nur dann anzuerkennen sein soll, wenn er sich im Wege der Auslegung als subjektiver Differenzierungszweck der Tarifvertragsparteien darstellt. Der vom 10. Senat aufgestellte Rechtssatz könnte letztlich dazu führen, dass die Tarifvertragsparteien als (allenfalls) mittelbar an Art. 3 Abs. 1 GG Gebundene im Ergebnis einer strengeren Rechtfertigungskontrolle unterliegen als der unmittelbar gebundene Gesetzgeber.

Der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat unlängst den objektiven Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG bei der Willkürkontrolle von tariflichen Differenzierungen bestätigt. Die nach dem Willen der Tarifvertragsparteien für die Ausgestaltung der Tarifregelung maßgeblichen Gründe müssen sich insoweit weder ausdrücklich noch durch Auslegung dem Tarifvertrag entnehmen lassen (BAG 20. Juli 2023 - 6 AZR 256/22 - Leitsatz 2 und Rn. 39).

Dabei hat sich der 6. Senat zwar zur Rechtsprechung des 10. Senats im Rahmen der Nachtzuschläge abgegrenzt und ausgeführt, dort sei der Prüfungsmaßstab wegen der inhaltlichen Bindung der Tarifvertragsparteien aufgrund von § 6 Abs. 5 ArbZG anders (BAG 20. Juli 2023 - 6 AZR 256/22 - Rn. 41).

Ob 6 Abs. 5 ArbZG indes aus verfassungsrechtlicher Sicht einen hinreichenden Grund darstellt, den Prüfungsmaßstab im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG weg von einer objektiven Prüfung hin zu einer subjektiven Zweckkontrolle zu verschieben, erscheint zweifelhaft und jedenfalls verfassungsrechtlich ungeklärt. Dies gilt umso mehr als der 10. Senat in der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung selbst die Ansicht vertreten hat, dass die Prüfung der Angemessenheit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG mit der Prüfung eines Gleichheitsverstoßes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG gerade nicht vermengt werden dürfe, weil die eine Fragestellung mit der anderen nicht zusammenhänge (vgl. BAG 24. Mai 2023 - 10 AZR 369/20 - Rn. 36).

Von einer offensichtlich unbegründeten Verfassungsbeschwerde ohne Erfolgsaussichten, die lediglich zum Zwecke der Verzögerung eingelegt worden ist, kann nach alledem nicht ausgegangen werden.

d) In der Gesamtabwägung überwiegen mithin die für eine Aussetzung streitenden Belange. Um weitere erhebliche zeitliche Verzögerungen zu vermeiden, erfolgt eine befristete Aussetzung des Verfahrens. Eine solche Befristung kommt bei der entsprechenden Anwendung von § 148 ZPO in Betracht (BAG 10. September 2020 - 6 AZR 136/19 (A) -, BAGE 172, 175 ff, Rn. 47; LAG Berlin-Brandenburg 26. März 2021 - 13 Sa 1609/19 - Rn. 56). Es darf davon ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht bis zum 30. September 2024 über die Annahme der Verfassungsbeschwerde entschieden haben wird (§ 93a BVerfGG).

3. Die Entscheidung ergeht gemäß § 53 Abs. 1 Satz 1 ArbGG, der über § 64 Abs. 7 ArbGG grundsätzlich auch im Berufungsverfahren gilt, durch den Vorsitzenden allein (vgl. auch BAG 28. Juli 2021 - 10 AZR 397/20 (A) - BAGE 175, 296 ff, Rn. 59).

4. Das Landesarbeitsgericht kann nach der ersatzlosen Streichung von § 70 ArbGG a.F. die Rechtsbeschwerde zwar auch bei eigenen Erstentscheidungen und nicht nur im Beschwerdeverfahren zulassen (GMP/Müller-Glöge, 10. Aufl. 2022, ArbGG § 78 Rn. 38). § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO ist entsprechend anzuwenden (BAG 20. August 2002 - 2 AZB 16/02 - BAGE 102, 213 ff, Rn. 18). Die Rechtsbeschwerde war indes vorliegend nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (§ 78 Satz 2 iVm. § 72 Abs. 2 ArbGG).

Der Vorsitzende: Dr. Bader

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