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Urteil vom 15.08.2023 · IWW-Abrufnummer 237976

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern - Aktenzeichen 5 Sa 12/23

1. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers Tatsachen vorhanden sind, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen. Erbringen Arbeitnehmer beispielsweise anderweitig Arbeitsleistungen, die sie ebenso gut bei dem eigenen Arbeitgeber ausführen könnten, kann sich daraus ein Anzeichen für eine tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit ergeben.

2. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist aber nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft.


Tenor: 1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 14.12.2022 - 4 Ca 679/22 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen. 2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, insbesondere die Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, sowie über Urlaubsabgeltung.

Der im April 1978 geborene Kläger nahm am 27.01.2020 bei der Beklagten eine Vollzeitbeschäftigung als Dozent in der Erwachsenenbildung mit einem Monatsgehalt von € 3.600,00 brutto auf. Seine Aufgabe bestand insbesondere darin, Fachkräfte für Lagerlogistik bzw. Fachlageristen auszubilden. Zeitweise war er als Sicherheitsbeauftragter eingesetzt. Die Parteien vereinbarten einen gesetzlichen (Mindest-)Jahresurlaub von 20 Tagen bei einer Fünf-Tage-Woche sowie einen Zusatzurlaub von fünf Tagen. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig zwischen 30 und 36 Mitarbeiter.

Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 50. Im Jahr 2019 hatte er sich einer psychosomatischen Reha-Maßnahme unterzogen.

Mit Vereinbarung vom 17.12.2020 überließ die Beklagte dem Kläger ein dienstliches Mobiltelefon einschließlich Zubehör. Zum 01.06.2021 erhöhte sie das Monatsgehalt des Klägers auf € 3.800,00 brutto.

Der Kläger erkrankte mehrfach arbeitsunfähig und befand sich zeitweise in Quarantäne:

Zeitraum Arbeitstage Krankheitsbild ICD-10-Code 06.08. - 03.09.2021 21 23.11. - 26.11.2021 4 Akute Infektion der oberen Atemwege J06.9 G 03.12. - 08.12.2021 Quarantäne-Anordnung des Landkreises Ludwigslust-Parchim 28.03. - 14.04.2022 18 Akute Infektion der oberen Atemwege; COVID-19, Virus nachgewiesen J06.9 G; U07.1 G

Am Freitag, 29.04.2022, gegen 16:15 Uhr, übergab der Kläger dem Geschäftsführer der Beklagten die schriftliche Kündigung zum 31.05.2022. Zugleich überbrachte er dem Geschäftsführer auch das Kündigungsschreiben der Kollegin H.. Gegen 19:00 Uhr desselben Tages suchte die Abteilungsleiterin M. den Kläger zu Hause auf und forderte die Rückgabe des ihm überlassenen Laptops nebst Maus, Ladekabel und Headset, des iPads nebst Tastatur und Stift, einer Computertasche und der vier Schlüssel (Hoftor, Büro, Wintergarten, Zwischentür). Das Ladekabel des iPads sowie das Diensttelefon nebst Ladegerät befand sich laut Rückgabeprotokoll im Schreibtisch des Klägers bei der Beklagten.

Am Montag, 02.05.2022, suchte der Kläger seine Hausärztin auf, die ihm eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bis zum 13.05.2022 ausstellte. Der Kläger hätte am 02.05.2022 die Aufgabe gehabt, Klausuren zu korrigieren. Am darauf folgenden Tag stand eine Prüfung der Teilnehmergruppe Lagerlogistik Modul 1 auf dem Plan. Am Mittwoch, 04.05.2022, begann ein neuer Kurs. Die Hausärztin bescheinigte dem Kläger am 13.05.2022 eine bis voraussichtlich 31.05.2022 fortbestehende Arbeitsunfähigkeit und stellte ihm eine entsprechende Folgebescheinigung aus. Laut ärztlichem Attest vom 11.07.2023 beruht die Arbeitsunfähigkeit auf einem psychosomatischen Beschwerdekomplex und den Diagnosen F45.9 G (somatoforme Störung) und F48.0 G (Neurasthenie). Am 01.06.2022 trat der Kläger eine Dozententätigkeit bei einem Konkurrenzunternehmen der Beklagten an. Urlaub hatte der Kläger im Jahr 2022 noch nicht erhalten.

Mit E-Mail vom 14.06.2022 forderte der Kläger erfolglos die Zahlung des am Monatsletzten fälligen Gehaltes für den Monat Mai 2022. Die Beklagte wies die Forderung mit E-Mail vom 17.06.2022 zurück, da sie den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert ansah.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, dass ihm für den Monat Mai 2022 ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zustehe. Seine Vorgesetzte, Frau M., habe die Rückgabe der Arbeitsmittel am Freitagabend sinngemäß mit den Worten beendet: "Bereite dich mal am Montag schon auf einen Spießrutenlauf vor". Das habe bei ihm Ängste und Depressionen mit körperlichen Symptomen ausgelöst, weshalb er am Wochenende an Schlafstörungen, Übelkeit, Bauchschmerzen, Durchfall, Kurzatmigkeit und Luftnot gelitten habe. Die Hausärztin habe eine somatoforme Störung und ein Erschöpfungssyndrom diagnostiziert und ihm Ruhe, Spaziergänge, Sport und längere Fahrradtouren empfohlen. Zudem habe der Kläger während der Arbeitsunfähigkeit Physiotherapie erhalten und Entspannungsübungen erlernt. Seine Kollegin sei mit dem Arbeitsklima im Unternehmen ebenfalls nicht einverstanden gewesen, weshalb sie aus Angst vor einer Auseinandersetzung mit dem Geschäftsführer den Kläger gebeten habe, ihre Kündigung zu überbringen. Um eine Fortsetzungserkrankung handele es sich nicht. Die Erkrankung vom 23.11. - 26.11.2021 habe auf einer Impfreaktion nach der Coronaimpfung beruht. Vom 28.03. - 14.04.2022 sei er an Corona erkrankt gewesen. Zudem sei davon auszugehen, dass die Beklagte bereits eine Erstattung von 80 % des hier streitigen Bruttolohnes nach dem Aufwendungsausgleichsgesetz erhalten habe.

Der Kläger hat erstinstanzlich, soweit für das Berufungsverfahren noch von Bedeutung, beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger [als Entgelt für den Monat Mai 2022] € 3.800,00 brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 01.06.2022 zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger Urlaubsabgeltung in Höhe von € 1.827,46 brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 01.06.2022 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie bestreitet, dass der Kläger in der Zeit vom 02.05. - 31.05.2022 arbeitsunfähig gewesen sei. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei erschüttert. Jedenfalls habe ein evtl. Entgeltfortzahlungsanspruch am 10.05.2022 geendet, weil der Kläger Entgeltfortzahlung nur für maximal sechs Wochen beanspruchen könne. Die vorherigen Erkrankungen seien anzurechnen, da die psychische Erkrankung latent vorhanden gewesen und nie richtig ausgeheilt sei. Es liege eine durchgehende Grunderkrankung vor. Da der Kläger nicht arbeitsunfähig gewesen sei, habe er ausreichend Zeit gehabt, seinen Erholungsurlaub zu nehmen und anzutreten.

Das Arbeitsgericht hat den Klageanträgen - soweit sie Gegenstand des Berufungsverfahren sind - entsprochen und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger im Mai 2022 tatsächlich krankheitsbedingt arbeitsunfähig gewesen sei. Er habe die Symptome nachvollziehbar dargelegt. Der ohnehin psychisch belastete Kläger habe noch am Freitagabend die Arbeitsmittel herausgeben müssen, was grundsätzlich Stress beim Arbeitnehmer auslösen und gegen eine normale Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sprechen könne. Der Anspruch sei nicht aufgrund von gleichartigen Vorerkrankungen ausgeschlossen oder der Höhe nach begrenzt. Die Beklagte habe weder eine Auskunft bei der Krankenkasse eingeholt noch gebe es Anzeichen für eine Fortsetzungserkrankung. Der anteilige Urlaubsanspruch von unstreitig 10,42 Tagen für das Jahr 2022 sei aufgrund Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten. Dessen Höhe richte sich nach dem gewöhnlichen Arbeitsentgelt für diesen Zeitraum.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer frist- und formgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Das Arbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger ab dem 01.06.2022 wieder als Dozent bei einem Mitbewerber gearbeitet habe. Des Weiteren habe der Kläger bei mehreren Kooperationspartnern der Beklagten behauptet, die Beklagte könne die Qualifizierungsmaßnahmen aufgrund seines Weggangs und des Weggangs der Kollegin nicht fortführen. Der Kläger habe auf dem Diensthandy eine Rufumleitung auf sein Privathandy eingerichtet und somit während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit Anrufe und Nachrichten von Teilnehmern entgegengenommen. Der Kläger sei also arbeitsfähig gewesen. Der Kläger hätte seine Arbeitsleistung trotz Rückgabe der Arbeitsmittel erbringen können, da er sich die nötigen Schlüssel im Sekretariat hätte abholen können. Da der Kläger nicht arbeitsunfähig gewesen sei, hätte er auch den Urlaub in Anspruch nehmen können.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 14.12.2022 zum Aktenzeichen 4 Ca 679/22 abzuändern und die Klage vollumfänglich abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Ärztin habe bei Feststellung der Arbeitsunfähigkeit den geistigen und seelischen Gesundheitszustand des Klägers berücksichtigt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass eine weitere Ausübung der vertraglich geschuldeten Tätigkeit als Dozent bei der Beklagten der Gesundheit abträglich sei. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei schon nicht erschüttert. Der Kläger sei innerhalb des Sechs-Monats-Zeitraums nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig gewesen. Abgesehen davon habe sich die Beklagte ab dem 02.05.2022 in Annahmeverzug befunden. Mit der Rückforderung der Arbeitsmittel habe die Beklagte eine weitere Arbeitsleistung des Klägers konkludent abgelehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle sowie das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage, soweit sie Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, zu Recht und mit der zutreffenden Begründung entsprochen.

1. Arbeitsentgelt für den Monat Mai 2022

Der Kläger hat nach § 611a Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Zahlung der vereinbarten Vergütung in Höhe von € 3.800,00 brutto für den Monat Mai 2022, für den Zeitraum ab 02.05.2022 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG.

Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG).

Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Der Tatrichter kann normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 - Rn. 12, juris = ZTR 2022, 116).

Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt. Der Arbeitgeber ist dabei nicht auf die in § 275 Abs. 1a SGB V aufgeführten Regelbeispiele ernsthafter Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit beschränkt (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 - Rn. 13, juris = ZTR 2022, 116). Nach § 275 Abs. 1a SGB V sind Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit insbesondere in Fällen anzunehmen, wenn a) Versicherte auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt oder b) die Arbeitsunfähigkeit von einem Arzt festgestellt worden ist, der durch die Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen über Arbeitsunfähigkeit auffällig geworden ist.

Gelingt es dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Hierzu ist substantiierter Vortrag z. B. dazu erforderlich, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 - Rn. 15, juris = ZTR 2022, 116).

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn nach Maßgabe eines verständigen Arbeitgebers Tatsachen vorhanden sind, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers belegen (LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 8. Februar 2023 - 3 Sa 135/22 - Rn. 24, juris = AE 2023, 93). Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber die Krankheitsdiagnosen regelmäßig nicht kennt, es sei denn, das Krankheitsbild tritt nach außen offen zu Tage (z. B. im Falle äußerer Verletzungen). Bekannt ist dem Arbeitgeber hingegen die jeweils geschuldete Arbeitsleistung, nach der sich bestimmt, ob ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig ist oder nicht. Die zu erbringenden Arbeitsaufgaben bilden den Maßstab dafür, ob bestimmte Aktivitäten des Arbeitnehmers Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wecken, also darauf hindeuten, dass er tatsächlich arbeitsfähig ist. Erbringen Arbeitnehmer beispielsweise anderweitig Arbeitsleistungen, die sie ebenso gut bei dem eigenen Arbeitgeber ausführen könnten, kann sich daraus ein Anzeichen für eine tatsächlich vorhandene Leistungsfähigkeit ergeben. Sportliche Aktivitäten können je nach Arbeitsaufgabe ebenfalls eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung infrage stellen.

Zweifel an der Richtigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung können sich zudem aus zeitlichen Übereinstimmungen und Zusammenhängen ergeben. Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist regelmäßig erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer zeitgleich mit seiner Kündigung eine solche Bescheinigung einreicht, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdeckt (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 - Rn. 19 f., juris = ZTR 2022, 116). Meldet sich ein Arbeitnehmer nach Erhalt einer arbeitgeberseitigen Kündigung "postwendend" krank, kann dies ebenfalls - als eines von mehreren Elementen - im Rahmen einer Gesamtschau zur Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen (LAG Niedersachsen, Urteil vom 8. März 2023 - 8 Sa 859/22 - Rn. 37, juris = NZA-RR 2023, 285). Gleiches kann - im Zusammenspiel mit weiteren Umständen - gelten, wenn sich aus Äußerungen des Arbeitnehmers, z. B. im Kündigungsschreiben, ergibt, dass dieser von vornherein nicht beabsichtigt, nochmals zum Arbeitsplatz zurückzukehren (LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 2. Mai 2023 - 2 Sa 203/22 - Rn. 54, juris = NZA-RR 2023, 447).

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedoch nicht allein deshalb erschüttert, weil diese einen Zeitraum innerhalb der Kündigungsfrist, insbesondere gegen Ende der Kündigungsfrist betrifft. Krankheiten können auch in einem gekündigten oder einem aus anderen Gründen endenden Arbeitsverhältnis auftreten. In der Ablösungsphase mag zwar die Motivation eines Arbeitnehmers nachlassen. Daraus ist aber keinesfalls zu schließen, dass jede Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Zeitraum makelbehaftet ist und die Arbeitsunfähigkeit vom Arbeitnehmer durch Offenlegung seiner Erkrankung, der gesundheitlichen Einschränkungen und der ärztlich verordneten Behandlung zu belegen ist.

Aus dem Verhalten des Klägers nach Ausspruch der Kündigung vom 29.04.2022 ergeben sich keine Zweifel am Beweiswert der Erst- und der Folge-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Soweit der Kläger auf dem Diensthandy wegen der zuvor eingerichteten Rufumleitung während der Arbeitsunfähigkeit Telefonate auf seinem privaten Handy entgegengenommen hat, deutet das nicht auf eine Arbeitsfähigkeit als Dozent mit den entsprechenden Haupt- und Nebenaufgaben, z. B. Unterrichtsvor- und -nachbereitung, Prüfungsvor- und -nachbereitung usw., hin. Das Führen von Telefongesprächen mit Vorgesetzten, Kollegen, Teilnehmern etc. hat bei einem Dozenten im Vergleich zur Hauptaufgabe regelmäßig nur einen untergeordneten Umfang. Der Kläger mag in der Lage gewesen sein, Telefonate zu führen. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass er bei der Beklagten ebenso gut eine Klasse hätte unterrichten oder Prüfungen hätte abnehmen können. Mit seiner geschuldeten Arbeitsleistung vergleichbare Tätigkeiten hat der Kläger weder im Rahmen einer Selbstständigkeit noch einer abhängigen Beschäftigung verrichtet.

Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ergeben sich auch nicht aus dem zeitlichen Zusammenhang mit der Eigenkündigung. Weder hat der Kläger die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 02.05. - 13.05.2022 zeitgleich mit seiner Kündigung vom 29.04.2022 übergeben noch hat er nach Übergabe der Kündigung unverzüglich einen Arzt aufgesucht. Er hat auch nicht auf andere Art und Weise zu erkennen gegeben, keinerlei Arbeitsleistung mehr für die Beklagte erbringen zu wollen, beispielsweise durch eine endgültige Verabschiedung von anderen Mitarbeitern, unaufgeforderte Rückgabe aller Arbeitsmittel, direkte oder indirekte Hinweise darauf, sich krankschreiben lassen zu wollen, oder Ähnliches. Die Rückgabe der Arbeitsmittel hat vielmehr die Beklagte gefordert und hat diese noch am Abend desselben Tages beim Kläger zu Hause abholen lassen. Ob und ggf. welchen Einfluss dieser Umstand auf den Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit des Klägers hatte, kann dahinstehen. Für eine bloße Gefälligkeitskrankschreibung durch die Hausärztin oder eine Vortäuschung von nicht vorhandenen Krankheitssymptomen durch den Kläger gibt es jedenfalls keine Anhaltspunkte.

Soweit die Arbeitsunfähigkeit mit dem Ablauf der Kündigungsfrist endete und der Kläger ab 01.06.2022 bei dem neuen Arbeitgeber wieder als Dozent gearbeitet hat, zieht das die ärztlichen Feststellungen nicht rückwirkend in Zweifel. Der mit einem Arbeitgeberwechsel verbundene Neustart kann insbesondere bei psychosomatischen Beschwerden für eine Genesung durchaus hilfreich sein.

Der Entgeltfortzahlungsanspruch des Klägers entfällt nicht ganz oder teilweise aufgrund von zeitnahen gleichartigen Vorerkrankungen. Die Erkrankung vom 02. - 31.05.2022 überschreitet nicht den Entgeltfortzahlungszeitraum von sechs Wochen.

Der Anspruch auf Entgeltfortzahlung ist grundsätzlich auf die Dauer von sechs Wochen wegen einer Erkrankung begrenzt. Wird ein Arbeitnehmer infolge derselben Krankheit erneut arbeitsunfähig, verliert er nach § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG wegen der erneuten Arbeitsunfähigkeit den Entgeltfortzahlungsanspruch für einen weiteren Zeitraum von höchstens sechs Wochen nur dann nicht, wenn er vor der erneuten Arbeitsunfähigkeit mindestens sechs Monate nicht infolge derselben Krankheit arbeitsunfähig war (Nr. 1) oder seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit infolge derselben Krankheit eine Frist von zwölf Monaten abgelaufen ist (Nr. 2). Vor Ablauf dieser Fristen entsteht ein neuer Entgeltfortzahlungsanspruch für die Dauer von sechs Wochen daher nur dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit auf einer anderen Krankheit beruht. Diese Regelungen sollen die wirtschaftliche Belastung der Arbeitgeber durch die Entgeltfortzahlungspflicht begrenzen. Es handelt sich um eine Einschränkung der Rechte des wiederholt erkrankten Arbeitnehmers, die auf einer besonderen Zumutbarkeitsregelung des Gesetzgebers beruht (BAG, Urteil vom 18. Januar 2023 - 5 AZR 93/22 - Rn. 9, juris = DB 2023, 1673).

Ist der Arbeitnehmer innerhalb der Zeiträume des § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG länger als sechs Wochen an der Erbringung der Arbeitsleistung verhindert, gilt eine abgestufte Darlegungslast. Zunächst muss der Arbeitnehmer - soweit sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dazu keine Angaben entnehmen lassen - darlegen, dass keine Fortsetzungserkrankung besteht. Hierzu kann er eine ärztliche Bescheinigung vorlegen. Bestreitet der Arbeitgeber, dass eine neue Erkrankung vorliegt, hat der Arbeitnehmer Tatsachen vorzutragen, die den Schluss erlauben, es habe keine Fortsetzungserkrankung bestanden. Er muss laienhaft bezogen auf den gesamten maßgeblichen Zeitraum schildern, welche gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden und die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinden. Denn erst ausgehend von diesem Vortrag ist regelmäßig dem Arbeitgeber substantiierter Sachvortrag möglich. Auf das Bestreiten des Arbeitgebers genügt die bloße Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung nicht mehr. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die von einem anderen Arzt ausgestellt ist, kann sich auch als Erstbescheinigung ohnehin nicht zum (Nicht-)Vorliegen einer Fortsetzungserkrankung verhalten. Die Folgen der Nichterweislichkeit einer Fortsetzungserkrankung hat der Arbeitgeber zu tragen (BAG, Urteil vom 18. Januar 2023 - 5 AZR 93/22 - Rn. 10, juris = DB 2023, 1673; BAG, Urteil vom 31. März 2021 - 5 AZR 197/20 - Rn. 26, juris = NZA 2021, 1041).

Der Kläger war in den letzten sechs Monaten vor der hier streitgegenständlichen Arbeitsunfähigkeit nicht aufgrund einer Diagnose F45.9 oder F48.0 arbeitsunfähig. In den zurückliegenden sechs Monaten litt der Kläger jeweils an Atemwegserkrankungen (J06.9 G bzw. J06.9 G und U07.1 G). Das ist durch die zwischenzeitliche Vorlage der entsprechenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen mit den AU-begründenden Diagnosen ausreichend belegt.

2. Urlaubsabgeltung

Der Kläger hat nach § 7 Abs. 4 BUrlG einen Anspruch auf Abgeltung des Resturlaubs von (5/12 x 25 =) 10,42 Tagen. Der Abgeltungsanspruch ist entsprechend § 11 BUrlG zu berechnen (BAG, Urteil vom 22. Oktober 2019 - 9 AZR 98/19 - Rn. 29, juris = NJW 2020, 705). Maßgeblich ist danach der durchschnittliche Arbeitsverdienst der letzten 13 Wochen. Der Abgeltungsanspruch des Klägers berechnet sich wie folgt:

Bruttogehalt € 3.800,00 × 3 Monate ÷ 13 Wochen ÷ 5 Tage je Woche × 10,42 Resturlaubstage = € 1.827,51 brutto.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

Vorschriften§ 611a Abs. 2 BGB, § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG, § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG, § 275 Abs. 1a SGB V, § 3 Abs. 1 Satz 2 EFZG, § 3 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 2 EFZG, § 7 Abs. 4 BUrlG, § 11 BUrlG, § 97 Abs. 1 ZPO