Urteil vom 31.08.2023 · IWW-Abrufnummer 238015
Landesarbeitsgericht Hamm - Aktenzeichen 15 Sa 467/23
1. Zum Begriff der „Spezialuntersuchung“ in § 34.4.d MTV
2. 34.4 MTV umfasst auch einen Anspruch auf Zeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 6,25 Stunden gutzuschreiben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte 86% und der Kläger 14% zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um eine Zeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers für die Zeit der Wahrnehmung eines ärztlichen Untersuchungstermins.
Der Kläger ist seit 1986 als Former bei der Beklagten im Rahmen einer 35-Stunden-Woche beschäftigt. Sein Bruttomonatseinkommen beträgt durchschnittlich 3.800,00 €. Beide Parteien sind an die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens gebunden.
Im April 2022 erlitt der Kläger einen Schlaganfall und wurde im Kreisklinikum A behandelt. Die leitende Oberärztin wies im Rahmen der Behandlung und Therapie darauf hin, dass sich der Kläger in der Gerinnungsambulanz zwecks weiterer Untersuchungen vorstellen müsse. Hierzu erstellte sie eine ärztliche Überweisung, die für einen Termin in der Gerinnungsambulanz notwendig ist.
Der Kläger ist bei der Beklagten ausschließlich in der Frühschicht mit einer Arbeitszeit von 6.00 Uhr bis 13.45 Uhr in der manuellen Fertigung beschäftigt.
Am 29.08.2022 nahm der Kläger in der Zeit von 9.00 Uhr bis 12.30 Uhr einen Termin im Universitätsklinikum B (Sektion Hämostaseologie - Gerinnungsambulanz/ Hämophiliezentrum -) wahr.
Der Kläger erbrachte an diesem Tag keine Arbeitsleistung für die Beklagte. Er fuhr um kurz vor 7 Uhr mit dem PKW von seiner Wohnanschrift zum 88,9 km entfernten Universitätsklinikum B. Von dem auf dem Weg befindlichen Arbeitsort des Klägers in A bis zum Universitätsklinikum beträgt die Fahrstrecke 79,7 km.
Nach seiner Ankunft im Universitätsklinikum B begab sich der Kläger zunächst zur zentralen Patientenannahme und zog eine Anmeldenummer. Nach Beendigung der Untersuchung fuhr der Kläger zurück an seinen Wohnort.
Im Betrieb der Beklagten existiert eine Betriebsvereinbarung über Arbeitszeitkonten, nach der die Arbeitnehmer eine verstetigte Vergütung erhalten. Die Beklagte zahlte dem Kläger für den Monat August 2022 seine regelmäßige Vergütung. Für den 29.08.2022 brachte die Beklagte 7,25 Stunden von dem Saldo des Arbeitszeitkontos des Klägers in Abzug (Bl. 10 d.A.).
Der Kläger legte der Beklagten im Hinblick auf den im Universitätsklinikum B wahrgenommenen Termin zunächst die Bescheinigungen vom 29.08.2022 (Bl. 16 d.A.) und 12.09.2022 (Bl. 13 d.A.) und im Verlauf des Rechtsstreits erster Instanz eine von dem Leiter der Sektion Hämostaseologie Prof. Dr. C unterzeichnete ärztliche Bescheinigung vom 12.09.2022 (Bl. 63 d.A.) vor. Letztere hat folgenden Inhalt:
"(....) wir bescheinigen hiermit, dass sich der o.g. Patient am 29.08.2022 von 09:00-12:30 Uhr in unserer ambulanten Behandlung zu Spezialuntersuchungen befand. Dieser Termin war zu keinem anderen Zeitpunkt möglich."Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 28.09.2022 (Bl. 19-20 d.A.) forderte der Kläger die Beklagte erfolglos auf, seinem Arbeitszeitkonto in Abzug gebrachten Stunden gutzuschreiben. Mit seiner am 28.09.2022 beim Arbeitsgericht Siegen eingegangenen Klage verfolgte der Kläger sein Begehren gerichtlich weiter.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es liege ein Fall von § 34.4.d des Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalens (im Folgenden: MTV) vor, so dass die Beklagte verpflichtet sei, seinem Arbeitszeitkonto die in Abzug gebrachten 7,25 Stunden gutzuschreiben. Bei der Behandlung in der Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B handele es sich um eine Spezialuntersuchung. Diese sei zu keinem anderen Zeitpunkt möglich gewesen, so dass die Behandlung während der Arbeitszeit unvermeidbar gewesen sei. In nahezu allen Krankenhäusern würden Termine vormittags vergeben.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, 7,25 Stunden auf dem Arbeitszeitkonto des Klägers gutzuschreiben.Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.Sie war der Ansicht, dass ein Anspruch des Klägers auf die begehrte Zeitgutschrift gemäß § 34.4.d MTV nicht bestehe. Der Bescheinigung vom 12.09.2022 sei nicht zu entnehmen, dass sich der Kläger am 29.08.2022 einer Spezialuntersuchung unterzog. Allein der Besuch einer Gerinnungsambulanz lasse hierauf nicht schließen. Auch wenn in einer ärztlichen Bescheinigung über die Notwendigkeit einer Behandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt keine näheren Einzelheiten über die Behandlung aufgeführt werden müssten, so sei eine nähere Konkretisierung der Gründe für die Festlegung eines Behandlungstermins gerade während der Arbeitszeit erforderlich und zumutbar, wenn aus einer solchen Bescheinigung geschlossen werden solle, dass der Beschäftigte sich vergeblich um einen anderweitigen Termin bemühte. Letzteres sei vorliegend nicht ersichtlich.
Mit Urteil vom 09.02.2023 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:
Die Beklagte sei nicht berechtigt gewesen, vom Arbeitszeitkonto des Klägers für den 29.08.2022 7,25 Stunden in Abzug zu bringen, da dem Kläger ein Anspruch auf bezahlte Freistellung gemäß § 34.4.d MTV zugestanden habe. Bei der Untersuchung in der Gerinnungsambulanz habe es sich um eine Spezialuntersuchung gehandelt. Eine "Spezialuntersuchung" sei nach Wortsinn und Kontext das Gegenteil einer "allgemeinen Untersuchung" und somit eine Untersuchung, für die spezielle Kenntnisse oder Geräte erforderlich seien. Dies könne vorliegend schon aufgrund der Bildung einer eigenen Sektion in einem Universitätsklinikum mit den medizinischen Spezialgebieten der Hämostaseologie und Hämophilie angenommen werden. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass sich der Kläger in der Gerinnungsambulanz lediglich einer allgemeinen Untersuchung unterzog, die überall hätte erfolgen können. Der Kläger sei auch nicht zur Offenlegung medizinischer Gründe und Diagnosen gegenüber der Beklagten verpflichtet. Weiterhin ergebe sich aus der vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigung, dass die Untersuchung während der Arbeitszeit, nämlich in der Zeit von 09.00 Uhr bis 12.30 Uhr, habe durchgeführt werden müssen. Zudem sei ausweislich der vom Kläger zuletzt vorgelegten ärztlichen Bescheinigung der Termin zu keinem anderen Zeitpunkt möglich gewesen. Diese Angabe sei ausreichend. Eine nähere Begründung verlange der MTV nicht.
Gegen das am 22.02.2023 zugestellte Urteil richtet sich die am 14.03.2023 eingelegte und am 21.04.2023 begründete Berufung der Beklagten, die sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres Sachvortrags erster Instanz ergänzend wie folgt begründet:
Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht der auf eine Zeitgutschrift gerichteten Klage stattgegeben. Das Arbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass der Tarifvertrag ausschließlich die Fortzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts vorsehe, der Kläger jedoch Zahlungsansprüche nicht geltend gemacht habe. Im Übrigen seien die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34.4.d MTV nicht erfüllt. Allein aus der Tatsache, dass der Termin des Klägers in der Gerinnungsambulanz am Universitätsklinikum B stattfand, könne nicht auf eine "Spezialuntersuchung" im Sinne von § 34.4.d MTV geschlossen werden. Eine "Spezialuntersuchung" liege vor, wenn diese im Allgemeinen während der Arbeitszeit durchgeführt werden müsse, weil der Beschäftigte beispielsweise morgens nüchtern zur ärztlichen Untersuchung erscheinen müsse. Dass es sich um eine derartige Spezialuntersuchung gehandelt habe, lasse sich dem klägerischen Vorbringen und den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht entnehmen. Insbesondere sei nicht ersichtlich, dass der Kläger Bemühungen unternahm, um einen Termin außerhalb seiner Arbeitszeit zu bekommen. Der bloße Hinweis in der ärztlichen Bescheinigung, dass der Termin zu keinem anderen Zeitpunkt möglich gewesen sei, reiche nicht aus.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 09.02.2023 - 1 Ca 888/22 - abzuändern und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, sowie im Wege der Anschlussberufung hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag dem Kläger 7,25 Stunden gutzuschreiben, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 181,64 € brutto zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung. Dass es sich um eine Spezialuntersuchung gehandelt habe, belege schon der Umstand, dass die Untersuchung im Kreisklinikum nicht durchgeführt werden konnte. Für den Anspruch nach § 34.4.d MTV sei der Arbeitnehmer nicht gehalten, den Arbeitgeber über das Vorliegen einer Spezialuntersuchung hinaus medizinisch detailliert zu informieren. Da in der Bescheinigung vom 12.09.2020 bestätigt werde, dass der Untersuchungstermin zu keinem anderen Zeitpunkt möglich war, sei der Kläger nicht verpflichtet, die Gründe für die zeitliche Festlegung des Behandlungstermins weiter zu konkretisieren. Dem Anspruch des Klägers stehe auch nicht entgegen, dass § 34.4 MTV für den Fall einer Spezialuntersuchung die Fortzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts bestimme. Bei der Vereinbarung eines Arbeitszeitkontos werde auch eine Zeitgutschrift von § 34.4 MTV umfasst.
Für den Fall, dass § 34.4 MTV im Sinne der Beklagten dahingehend zu verstehen sei, dass dieser ausschließlich einen Zahlungsanspruch regele, bestünde ein Anspruch des Klägers auf Zahlung eines Betrags in Höhe von 181,64 € brutto (25,05 € brutto Stundenlohn x 7,25 Stunden = 181,64 € brutto), den der Kläger hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Hauptantrag im Wege der Anschlussberufung geltend mache.
Wegen des weiteren Sach- und Rechtsvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die von den Parteien zu Protokoll abgegebenen Erklärungen ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I. Die vom Arbeitsgericht zugelassene Berufung der Beklagten ist statthaft (§ 64 Abs. 1, Abs. 2a ArbGG) und nach § 519 ZPO, §§ 64 Abs. 6 S. 1, 66 Abs. 1 S. 1 ArbGG am 14.03.2023 gegen das am 22.02.2023 zugestellte Urteil form- und fristgerecht eingelegt und am 21.04.2023 begründet worden. Sie ist mithin zulässig.
II. Die Berufung der Beklagten hat nur zum Teil Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Der Kläger stützt seinen Anspruch auf Zeitgutschrift auf § 34.4.d des kraft beiderseitiger Tarifbindung auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Manteltarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen (MTV). Dieser enthält folgende Regelungen:
34.4 Bezahlte Freistellung in besonderen medizinischen Fällen
Soweit dem/der Beschäftigten kein Anspruch auf Weiterzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts im Krankheitsfall oder Krankengeld oder Übergangsgeld oder Verletztengeld zusteht, wird das regelmäßige Arbeitsentgelt (berechnet nach § 40) in folgenden Fällen der Verhinderung für die unvermeidliche Ausfallzeit während der Schicht weitergezahlt:
a) bei Arbeitsunfall,
b) bei ambulanter Behandlung aufgrund eines während der Arbeitszeit erlittenen Arbeitsunfalls,
c) bei Arztbesuch anlässlich einer während der Arbeitszeit aufgetretenen akuten Erkrankung, sofern der Arzt, ggf. der Betriebsarzt, die Notwendigkeit des sofortigen Arztbesuchs bescheinigt,
d) bei amtsärztlich angeordneten Untersuchungen, Vorsorgeuntersuchungen sowie bei Arztbesuch anlässlich einer notwendigen Spezialuntersuchung, sofern diese während der Arbeitszeit durchgeführt werden müssen und der Arzt dies bescheinigt.
§ 34.4 MTV ergänzt die Regelungen zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall um Ansprüche des Beschäftigten bei Arbeitsunfall, Behandlung, Arztbesuch und Untersuchungen während der Schicht, auch wenn keine Arbeitsunfähigkeit vorliegt, und konkretisiert damit - neben § 26 MTV - § 616 BGB (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34).
2. Der Kläger hat gemäß § 34.4.d MTV wegen des vom ihm am 29.08.2022 wahrgenommenen Untersuchungstermins in der Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B einen Anspruch auf Gutschrift von 6,25 Stunden. In dieser Höhe hat die Beklagte zu Unrecht einen Abzug vom Arbeitszeitkonto des Klägers vorgenommen. Darüber hinaus ist die Klage unbegründet.
a) Bei der Untersuchung des Klägers in der Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B handelte es sich um einen "Arztbesuch anlässlich einer notwendigen Spezialuntersuchung" im Sinne von § 34.4 d MTV. Dies ergibt die Auslegung der tariflichen Regelung.
aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Tarifwortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG vom 20.07.2022 - 7 AZR 247/21 - Rn. 20)
bb) Unstreitig erfolgte am 29.08.2022 ein Arztbesuch des Klägers in der Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B.
cc) Entgegen der Auffassung der Beklagten handelte es sich bei der im Rahmen des Arztbesuchs erfolgten Untersuchung um eine "Spezialuntersuchung" i.S.v. § 34.4.d MTV.
(1) Im allgemeinen Sprachgebrauch-" bedeutet das Präfix "Spezial-" "speziell" oder "Sonder-" (duden.de), wobei unter "Untersuchung" - in Abgrenzung zur bloßen Behandlung - die Aufnahme der zur Stellung der Diagnose dienenden Anamnese zu verstehen ist (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 34).
Soweit der Begriff der ärztlichen "Spezialuntersuchung" in der Rechtsprechung Verwendung findet, erfolgt dies im Zusammenhang mit der Übernahme von Patienten nach Überweisung von einem Facharzt derselben oder einer anderen Fachrichtung "zur Spezialuntersuchung". Danach ist die "Spezialuntersuchung" Folge einer Überweisung an den Spezialisten bzw. an eine Klinik wegen einer Leistung, die der überweisende Arzt selbst nicht erbringen kann (vgl. BGH vom 05.10.1993 - VI ZR 237/92 - Rn. 16; LG Hamburg vom 07.03.2013 - 323 O 323/10 - Rn. 89-90; OLG Oldenburg vom 23.12.1997 - 5 U 75/97 - Rn. 9; OLG München vom 14.01.1993 - 1 U 3305/92 - Rn. 10). In der Kommentarliteratur wird die "Spezialuntersuchung" als durch das Merkmal des Besonderen oder die Ausrichtung auf ein spezielles Fach gekennzeichnet verstanden (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 34). In diesem Sinne hat auch das Arbeitsgericht eine "Spezialuntersuchung" angenommen, wenn für die Untersuchung spezielle medizinische Kenntnisse und Fähigkeiten und/ oder spezielle medizinische Maschinen bzw. Geräte erforderlich sind.
Entgegen der Auffassung der Beklagten beinhaltet der Begriff der "Spezialuntersuchung" nicht, dass diese im Allgemeinen während der Arbeitszeit durchgeführt werden muss, etwa, weil der Beschäftigte morgens mit nüchternem Magen beim Arzt erscheinen muss, um die Untersuchung durchführen zu lassen (Kernspintomografie, bestimmte Röntgen-, Magen-, Blut-, Grundumsatzuntersuchungen, Jod-Tests) (a.A. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 34). Die Bezeichnung "Spezialuntersuchung" weist - ebenso wie die in § 34.4.d MTV genannte amtsärztlich angeordnete Untersuchung und Vorsorgeuntersuchung - keinen Bezug zur zeitlichen Lage der Untersuchung auf. Vielmehr bezieht sich das Präfix "Spezial-" auf die Untersuchung an sich und nicht deren Zeitpunkt. Dies folgt zudem daraus, dass die Tarifvertragsparteien die zeitliche Lage ausdrücklich mit der Formulierung "sofern diese während der Arbeitszeit durchgeführt werden müssen" als weitere Voraussetzung für die genannten Untersuchungen in § 34.4.d MTV aufgenommen haben.
(2) Nach den vorstehenden Grundsätzen handelte es sich bei der Untersuchung des Klägers in der Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B um eine Spezialuntersuchung i.S.v. § 34.4.d MTV.
Anlässlich des Termins am 29.08.2022 erfolgte eine "Untersuchung" und nicht lediglich eine Behandlung des Klägers. Es handelte es sich um den ersten Termin des Klägers in der Gerinnungsambulanz. Ausweislich der Informationen des Universitätsklinikums B zur Terminvereinbarung in der Gerinnungsambulanz (www.XXXX.de) findet ein Anamnesegespräch mit oder ohne Untersuchung und ggfs. eine Blutentnahme statt. Dabei ergibt sich nach den obigen Ausführungen schon aus der Anamnese das Vorliegen einer "Untersuchung". Dies wird auch von der Bescheinigung des behandelnden Arztes Prof. Dr. C bestätigt, wonach sich der Kläger in der Sektion Hämostaseologie zu "Spezialuntersuchungen" befand. Eines weiteren Vorbringens des Klägers dazu, welchen Untersuchungen am 29.08.2022 im Einzelnen erfolgt sind, bedurfte es deshalb nicht.
Bei der Untersuchung handelte es sich auch um eine "Spezialuntersuchung". Unstreitig überwies die behandelnde Oberärztin des Kreisklinikums den Kläger für weitere Untersuchungen, die sie selbst nicht durchführen konnte, an die Gerinnungsambulanz des Universitätsklinikums B. Bei der Sektion Hämostaseologie - Gerinnungsambulanz/ Hämophiliezentrum - handelt es sich - wie das Arbeitsgericht zutreffend herausgearbeitet hat - um eine eigene Sektion innerhalb eines Universitätsklinikums, welche auf einem Spezialgebiet der Medizin tätig ist und von gesetzlichen Versicherten nur mit ärztlicher Überweisung aufgesucht werden kann. Im Fall des Klägers erfolgte die Überweisung im Zusammenhang mit dem im April 2022 erlittenen Schlaganfall. Auch dies zeigt, dass es sich bei der Untersuchung am 29.08.2022 nicht um eine "Routineuntersuchung" ohne besonderen Anlass, sondern um eine Spezialuntersuchung gemäß § 34.4.d MTV nach erfolgter ärztlicher Überweisung an eine spezialisierte Klinik handelte.
dd) Bei der Spezialuntersuchung des Klägers am 29.08.2022 handelte es sich zudem um eine "notwendige" Spezialuntersuchung. Der Begriff "notwendig" ist allgemein im Sinne von "im Zusammenhang mit etwas nicht zu umgehen; von der Sache selbst gefordert; unbedingt erforderlich; unerlässlich" (duden.de) zu verstehen. Die Untersuchung in der Gerinnungsambulanz am 29.08.2022 erfolgte auf Anraten und nach Überweisung der leitenden Oberärztin des Kreisklinikums A im Rahmen der Behandlung und Therapie des vom Kläger erlittenen Schlaganfalls. Dies zeigt, dass die behandelnde Ärztin des Klägers die Untersuchung des Klägers in der Gerinnungsambulanz für medizinisch erforderlich hielt und damit als "notwendig" ansah. Weitere medizinische Einzelheiten musste der Kläger hierzu nicht vortragen.
b) Die notwendige Spezialuntersuchung am 29.08.2022 musste "während der Arbeitszeit des Klägers durchgeführt werden", was der behandelnde Arzt des Klägers "bescheinigt" hat.
aa) Nicht erforderlich ist, dass die in § 34.4.d MTV genannten Untersuchungen aus medizinischen Gründen während der Arbeitszeit durchgeführt werden müssen. Diese haben die Tarifvertragsparteien nicht als Voraussetzung in den Tarifvertrag aufgenommen (insoweit zum MTV in der nordostdeutschen Textilindustrie: LAG Sachsen-Anhalt vom 23.06.2010 - 5 Sa 340/09 - Rn. 37). Es können daher auch andere Gründe sein, die sich aus der Organisation des Diagnosezentrums, Krankenhauses oder der ärztlichen Sprechstunde zwingend ergeben. Der Beschäftigte ist jedoch verpflichtet, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die auszufallende Arbeitszeit gering zu halten. Ein Anspruch nach § 34.4.d MTV kommt deshalb nur in Betracht, wenn die Teilnahme an der Untersuchung während der Arbeitszeit unvermeidbar ist (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 35; zum BRTV-Bau: BAG vom 22.11.1986 - 5 AZR 34/85 - Rn. 25; LAG Sachsen-Anhalt vom 23.06.2010 - 5 Sa 340/09 - Rn. 38 ff.).
Auch wenn in einer ärztlichen Bescheinigung über die Notwendigkeit einer Behandlung zu einem bestimmten Zeitpunkt keine näheren Einzelheiten über die Behandlung aufgeführt sein müssen, so ist eine nähere Konkretisierung der Gründe für die Festlegung des Behandlungstermins gerade während der Arbeitszeit erforderlich und auch zumutbar, wenn aus einer solchen Bescheinigung geschlossen werden soll, dass der Beschäftigte sich vergeblich um einen anderen Termin bemüht hat. Eine ärztliche Bescheinigung, die lediglich die Dauer der Behandlung anfallende Zeit ausweist, ist nicht ausreichend, da sie keinen Hinweis auf die Notwendigkeit einer Behandlung während der Arbeitszeit enthält (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 36).
bb) Vorliegend bescheinigte der behandelnde Arzt Prof. Dr. C, dass der Termin zu keinem anderen Zeitpunkt möglich war. Hieraus folgt, dass die Untersuchung am 29.08.2022 während der Arbeitszeit des Klägers durchgeführt werden musste. Eine nähere Darlegung der Gründe für die zeitliche Festlegung des Termins musste seitens des Klägers nicht erfolgen. Dahinstehen kann insbesondere, ob für den Zeitpunkt des Untersuchungstermins medizinische Gründe oder - was naheliegender ist - organisatorische Abläufe im Universitätsklinikum bzw. der Gerinnungsambulanz ursächlich waren.
Wegen des Inhalts der von Prof. Dr. C erstellten ärztlichen Bescheinigung waren entgegen der Auffassung der Beklagten weitere Ausführungen des Klägers dazu, inwieweit er sich vergeblich um einen anderen Termin bemüht hat, entbehrlich. Ausweislich der ärztlichen Bescheinigung wären Bemühungen des Klägers um einen anderen Termin nicht erfolgversprechend gewesen, da der Termin zu keinem anderen Zeitpunkt möglich war. Wenn sich dieser Umstand schon eindeutig aus der ärztlichen Bescheinigung ergibt, muss der Kläger eigene Bemühungen um einen anderen Termin außerhalb seiner Arbeitszeit nicht darlegen.
c) Die weiteren Voraussetzungen gemäß § 34.4 MTV für einen Anspruch des Klägers auf Weiterzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts für die unvermeidliche Ausfallzeit während der Schicht - hier in Form einer Zeitgutschrift - liegen vor.
aa) Da dem Kläger für den 29.08.2022 kein Anspruch auf Weiterzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts im Krankheitsfall, Krankengeld, Übergangsgeld oder Verletztengeld zustand, ist der Anwendungsbereich für einen Anspruch nach § 34.4 MTV eröffnet. Insbesondere war der Kläger nicht arbeitsunfähig erkrankt.
bb) § 34.4 MTV umfasst auch den vom Kläger verfolgten Anspruch auf Gutschrift von Stunden auf seinem Arbeitszeitkonto. Entgegen der Auffassung der Beklagten war der Anspruch des Klägers nach § 34.4 MTV auf "Weiterzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts" nicht auf die Geltendmachung von Zahlungsansprüchen beschränkt.
(1) Ein Arbeitszeitkonto hält fest, in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer seine Hauptleistungspflicht nach § 611a Abs. 1 S. 1 BGB erbracht hat oder aufgrund eines Entgeltfortzahlungstatbestands nicht erbringen musste und deshalb Vergütung beanspruchen kann bzw. in welchem Umfang er noch Arbeitsleistung für die vereinbarte und gezahlte Vergütung erbringen muss. Es drückt damit - in anderer Form - den Vergütungsanspruch aus (vgl. BAG vom 19.05.2021 - 5 AZR 318/20 - Rn. 19, BAG vom 23.02.2021 - 5 AZR 304/20 - Rn. 15).
(2) Die Beklagte zahlte dem Kläger für den Monat August 2022 entsprechend der im Betrieb geltenden Betriebsvereinbarung seine regelmäßige Vergütung und nahm wegen der nicht geleisteten Arbeitsstunden am 29.08.2022 einen Abzug von 7,25 Stunden von dem Saldo seines Arbeitszeitkontos vor. Mit diesem Abzug hat die Beklagte zum Ausdruck gebracht, dass nach ihrer Auffassung keine Entgeltfortzahlungspflicht für den 29.08.2022 bestand und hiermit den fehlenden Vergütungsanspruch des Klägers für diesen Tag im Arbeitszeitkonto festgehalten. In einem solchen Fall kann der Arbeitnehmer - wie hier der Kläger - die "Weiterzahlung des regelmäßigen Arbeitsentgelts" in Form einer Zeitgutschrift auf dem Arbeitszeitkonto beanspruchen, die seinen Vergütungsanspruch in anderer Form wiedergibt.
cc) Die "unvermeidliche Ausfallzeit" belief sich am 29.08.2022 jedoch lediglich auf 6,25 Stunden, so dass das erstinstanzliche Urteil teilweise abzuändern und die Klage insoweit abzuweisen war.
(1) Nach dem Wortlaut von § 34.4 MTV soll nicht stets Vergütung für die gesamte Schicht gezahlt werden, wenn der Beschäftigte in dieser nicht arbeitet, sondern nur für die Ausfallzeit, die der Arbeitnehmer nicht hätte vermeiden können. Die "unvermeidliche Ausfallzeit" umfasst dabei die zur Behandlung erforderliche Zeit, die Wartezeit beim Arzt oder der Einrichtung, die die Behandlung durchführt, sowie eine notwendige Wegezeit (vgl. Weiss u.a., Komm. MTV Metall NRW, 6. Aufl. 2023, § 34, Anm. 27).
(2) Die Wahrnehmung des Untersuchungstermins während der Schicht am 29.08.2022 führte nicht unabhängig von seiner Dauer dazu, dass der Ausfallzeit im gesamten Schichtzeitraum von 6.00 Uhr bis 13.45 Uhr unvermeidbar war. Die Parteien haben dazu in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend erklärt, dass es im Arbeitsbereich des Klägers in der manuellen Fertigung möglich ist, auch in Teil-Zeiträumen der Schichten die Arbeitsleistung zu erbringen.
Unter Berücksichtigung der Dauer des Untersuchungstermins von 9.00 bis 12:30 Uhr in der Gerinnungsambulanz in B, der notwendigen Fahrtzeit unter Berücksichtigung möglicher Verkehrsbehinderungen, einer rechtzeitigen Ankunft zur Parkplatzsuche und zum Aufsuchen der zentralen Patientenannahme, ist nicht die gesamte Schicht am 29.08.2022 "unvermeidliche Ausfallzeit". Vielmehr wäre es dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts möglich gewesen, zu Beginn der Schicht am 29.08.2022 noch eine Stunde zu arbeiten und sich vom Betrieb aus auf den Weg zum Universitätskliniken B zu begeben.
Vom Wohnort des Klägers zum Universitätsklinikum B beträgt die Fahrtzeit mit dem PKW bei einer Strecke von 88,9 km ausweislich des Routenplaners Google Maps eine Stunde und acht Minuten. Diese liegt deutlich unter der vom Kläger veranschlagten Fahrzeiten von 1,5 bis 1,75 Stunden, bei der der Kläger jedoch mögliche Verkehrshindernisse einkalkulierte. Von der Arbeitsstätte des Klägers, die sich auf dem Weg befindet, bis zum Universitätsklinikum beträgt die Fahrtzeit laut Google Maps eine Stunde bei einer Strecke von 79,7 km. Da der Schichtbeginn um 6.00 Uhr ist, wäre es dem Kläger möglich gewesen, zunächst zum Schichtbeginn den Betrieb aufzusuchen, bis 7.00 Uhr in der manuellen Fertigung zu arbeiten und sich vom Betrieb aus auf den Weg nach B zu machen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Fahrtzeit nach B unter Berücksichtigung einer Zeitreserve im Hinblick auf etwaige Verkehrsbehinderungen. Auch wenn für diese Umstände ein ausreichender Zeitpuffer eingeplant werden musste, um ein pünktliches Erscheinen zum Untersuchungstermin sicherzustellen, stand dies nicht der Erbringung der Arbeitsleistung bis 7.00 Uhr entgegen. Vielmehr spricht für eine unvermeidbare Ausfallzeit erst ab 7.00 Uhr, dass der Kläger am 29.08.2022 nach eigenen Angaben um kurz vor 7 mit dem PKW von seinem (weiter entfernten) Wohnort aus nach B losfuhr.
Aufgrund der bescheinigten Dauer des Arztbesuchs bis 12.30 Uhr sowie einer Fahrtdauer der Rückfahrt von B zum Betrieb der Beklagten von (mindestens) einer Stunde sowie eines weiteren Zeitaufwands, um sich von der Gerinnungsambulanz zum Parkplatz bzw. am Betriebsort zum Arbeitsplatz zu begeben, war es dem Kläger nicht möglich, bis zum Schichtende um 13.45 Uhr die Arbeit wiederaufzunehmen.
(c) Von daher lag am 29.08.2022 von 7.00 Uhr bis 13.45 Uhr eine "unvermeidliche Ausfallzeit" im Sinne von § 34.4 MTV vor, so dass die Beklagte dem Arbeitszeitkonto des Klägers 6,25 Stunden gutzuschreiben hat. Darüber hinaus ist die Klage unbegründet.
III. Die hilfsweise Anschlussberufung des Klägers fiel nicht zur Entscheidung an, da sie unter der Bedingung stand, dass das Gericht § 34.4 MTV dahingehend versteht, dass dieser ausschließlich einen Anspruch auf Zahlung des Arbeitsentgelts, nicht jedoch auf eine Zeitgutschrift, beinhaltet.
IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 S. 1 2. Fall ZPO. Hiernach ergibt sich entsprechend dem Obsiegen und Unterliegen beider Parteien die ausgeurteilte Kostenquote.
V. Wegen grundsätzlicher Bedeutung war die Revision gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.