Beschluss vom 17.10.2023 · IWW-Abrufnummer 238693
Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz - Aktenzeichen 8 Sa 181/23
Der bloße Umstand eines im Berufungsverfahren vom Arbeitgeber gestellten Auflösungsantrags rechtfertigt es für sich genommen noch nicht, die Zwangsvollstreckung aus einem Weiterbeschäftigungstitel einzustellen.
Tenor:
Der Antrag der Beklagten, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 19. Juni 2023, Az. 5 Ca 44/22, hinsichtlich Ziffer 3 (Weiterbeschäftigungsanspruch) bis zum Erlass des Urteils in der Berufungsinstanz einstweilen einzustellen, wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
Die Beklagte begehrt die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem erstinstanzlichen Weiterbeschäftigungstitel. Mit Urteil vom 19. Juni 2023 hat das Arbeitsgericht (unter anderem) festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien weder durch die außerordentliche noch durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 11. März 2022 beendet wird (Ziff. 1 und 2 des Urteilstenors), und die Beklagte zugleich verurteilt, die Klägerin zu unveränderten Arbeitsbedingungen als Leiterin im Vertrieb International weiterzubeschäftigen (Ziff. 3 des Urteilstenors). Gegen dieses ihr am 3. August 2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 14. August 2023 Berufung eingelegt und mit Schriftsatz vom 12. September 2023 hilfsweise einen Auflösungsantrag gestellt.
Die Klägerin betreibt die Zwangsvollstreckung aus dem Weiterbeschäftigungstitel. Auf ihren Antrag wurde ihr am 15. August 2023 eine vollstreckbare Ausfertigung desselben erteilt. Mit Schriftsatz vom 12. September 2023 hat die Beklagte die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragt. Zur Begründung verweist sie auf ihren zwischenzeitlich gestellten Auflösungsantrag, mit dem sie eine Ungewissheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses herbeigeführt habe, die derjenigen entspreche, die vor Verkündung des erstinstanzlichen Urteils bestanden habe. Damit entfalle der materiell-rechtliche Weiterbeschäftigungsanspruch der Klägerin. Ihren Auflösungsantrag begründet sie damit, die Klägerin habe versuchten Prozessbetrug begangen, indem sie in der erstinstanzlichen Kammerverhandlung vom 12. April 2023 auf Nachfrage der Vorsitzenden bzgl. der geltend gemachten Annahmeverzugslohnansprüche erklärt habe, sich nicht bei anderen Unternehmen beworben zu haben. Diese Erklärung sei bewusst grob wahrheitswidrig gewesen, da die Klägerin selbst im erstinstanzlichen Verfahren einen ihr von der Z. GmbH (im Folgenden: Z.) im März 2022 angebotenen Arbeitsvertrag mit Wirkung ab 1. Juni 2022 eingereicht habe. Das Stellenangebot der Z. sowie ihre Bewerbung habe die Klägerin bewusst verschwiegen, um ihre Annahmeverzugslohnansprüche in ungekürzter Höhe durchzusetzen. Zudem habe sie den Sachverständigen belogen. Schließlich sei es unverfroren, dass sie ihr (der Beklagten) vorwerfe, bewusst unvollständig und damit wahrheitswidrig vorzutragen. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Klägerin sei nicht mehr möglich.
Die Klägerin ihrerseits hat mit Schriftsatz vom 20. September 2023 Zurückweisung sowohl des Auflösungsantrags wie auch des Antrags auf Einstellung der Zwangsvollstreckung beantragt. Zur Begründung führt sie aus, die Vorwürfe der Beklagten träfen nicht zu. Die erstinstanzliche Kammervorsitzende habe sie seinerzeit nicht gefragt, ob sie sich irgendwann um eine anderweitige Stelle bemüht habe, sondern, ob sie sich nach Ausspruch der Kündigung zur Reduzierung des Annahmeverzugslohns um eine Beschäftigung bemüht habe. Letzteres habe sie wahrheitsgemäß verneint, da ihr Bewerbungsschreiben an die Z. vom 3. März 2022 datiere und damit vor Ausspruch der urteilsgegenständlichen Kündigung der Beklagten vom 11. März 2022 verfasst worden sei. Dies wisse die Beklagte auch. Seinerzeit habe sie sich aus einem ungekündigten Arbeitsverhältnis beworben, weshalb es nicht um die Erzielung von Zwischenverdienst gegangen sei.
II.
1. Der Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist nach § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG iVm §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ihm steht insbesondere nicht entgegen, dass die Beklagte im ersten Rechtszug keinen Schutzantrag nach § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG gestellt hat. Die Anträge nach § 62 Abs. 1 Satz 2 und § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG sind unabhängig voneinander, insbesondere lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen, dass der Antrag nach § 62 Abs. 1 Satz 2 ArbGG vorrangig wäre (LAG Hamm 15.05.2023 - 18 Sa 1195/22 - Rn. 9; LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 11; LAG Düsseldorf 31.08.2020 - 4 Sa 480/20 - Rn. 12, juris; GMP/Schleusener, ArbGG, 10. Aufl. 2022, § 62 Rn. 40).
2. Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
a) Voraussetzung für die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist gemäß § 62 Abs. 1 Satz 3 ArbGG iVm §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO, dass die Vollstreckung dem Vollstreckungsschuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. Daran fehlt es hier. Ein nicht zu ersetzender Nachteil ist mehr als ein lediglich schwer zu ersetzender Nachteil und nur dann anzunehmen, wenn die Zwangsvollstreckung zu einem nicht wiedergutzumachenden Schaden führen würde, ein solcher also bei Wegfall des Vollstreckungstitels nicht mehr rückgängig gemacht oder durch Geld oder andere Mittel ausgeglichen werden kann (BAG 27.02.1985 - GS 1/84 - Rn. 80; LAG Düsseldorf 31.08.2020 - 4 Sa 480/20 - Rn. 14; LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 14; LAG München 05.03.2018 - 4 Sa 823/17 - Rn. 40, juris; BeckOK-ArbR/Hamacher, 01.09.2023, § 62 ArbGG Rn. 15; GMP/Schleusener, § 62 Rn. 19). Die vorläufige Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Bestandsschutzklage stellt für sich allein regelmäßig noch keinen unersetzbaren Nachteil im vorgenannten Sinne dar, und zwar selbst dann nicht, wenn später die Wirksamkeit der Kündigung festgestellt werden sollte. Ebenso wenig genügt der Umstand, dass eine erfolgte Beschäftigung nicht mehr rückabwickelbar ist (BAG 27.02.1985 - GS 1/84 - Rn. 80; LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 14 f.; 29.03.2023 - 12 Sa 3/23 - Rn. 19; LAG Düsseldorf 31.08.2020 - 4 Sa 480/20 - Rn. 15; LAG Rheinland-Pfalz 05.01.1981 - 3 Sa 688/80 - LS Nr. 3; LAG Berlin 26.09.1980 - 12 Sa 63/80 - LS Nr. 1, juris; GMP/Schleusener, § 62 Rn. 22; Schwab/Weth/Walker, ArbGG, 6. Aufl. 2022, § 62 Rn. 19; BeckOK-ArbR/Hamacher, § 62 ArbGG Rn. 21). Ansonsten wäre ein titulierter Weiterbeschäftigungsantrag faktisch nicht vollstreckbar (LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 15; 29.03.2023 - 12 Sa 3/23 - Rn. 19, juris). Dies liefe nicht zuletzt auch der in § 62 Abs. 1 Satz 1 ArbGG zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Konzeption zuwider, nach der arbeitsgerichtliche Titel schnell und unkompliziert durchsetzbar sein sollen. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsmittels offenkundig sind, das erstinstanzliche Urteil also offenkundig falsch ist (vgl. LAG Düsseldorf 31.08.2020 - 4 Sa 480/20 - Rn. 19; LAG Baden-Württemberg 29.03.2023 - 12 Sa 3/23 - Rn. 22, juris). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
b) Die Zwangsvollstreckung ist auch nicht im Hinblick auf den von der Beklagten im Berufungsverfahren gestellten Auflösungsantrag einstweilen einzustellen.
aa) Zwar ist die in der Berufungsinstanz beantragte Auflösung des Arbeitsverhältnisses grundsätzlich geeignet, wegen der durch sie begründeten Ungewissheit über den Ausgang des Kündigungsschutzprozesses ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers zu begründen (BAG 16.11.1995 - 8 AZR 864/93 - Rn. 66; 05.12.2019 - 2 AZR 240/19 - Rn. 123; 28.02.2023 - 8 AZB 17/22 - Rn. 27; LAG Rheinland-Pfalz 18.07.2016 - 5 Sa 271/16 - Rn. 8; LAG Hamm 27.02.2015 - 13 Sa 166/15 - Rn. 3; LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 18, juris). Allerdings gilt es zu beachten, dass alle dem Arbeitsgericht bei seiner Entscheidung über die beantragte Weiterbeschäftigung bis zum Urteilszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu berücksichtigen sind (LAG Rheinland-Pfalz 18.07.2016 - 5 Sa 271/16 - Rn. 8; LAG Hamm 27.02.2015 - 13 Sa 166/15 - Rn. 4; iE auch LAG Baden-Württemberg 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 17, juris).
bb) Danach erscheint es hier trotz des Auflösungsantrags der Beklagten nicht gerechtfertigt, die Zwangsvollstreckung einzustellen.
aaa) Das bloße Stellen eines Auflösungsantrags in der Berufungsinstanz rechtfertigt es für sich genommen noch nicht, die Zwangsvollstreckung aus einem Weiterbeschäftigungstitel einzustellen, da andernfalls dessen Sinn ebenso entwertet würde wie die bereits erwähnte gesetzliche Konzeption der nur im Ausnahmefall ("nicht zu ersetzender Nachteil") zu durchbrechenden Sicherung und Beschleunigung der nach § 62 Abs. 1 Satz 1 ArbGG grundsätzlich gegebenen vorläufigen Vollstreckbarkeit arbeitsgerichtlicher Urteile (vgl. LAG Rheinland-Pfalz 18.07.2016 - 5 Sa 271/16 - LS sowie Rn. 9; LAG Hamm 27.02.2015 - 13 Sa 166/15 - Rn. 5 f.; ferner LAG Baden-Württemberg 22.03.2006 - 13 Sa 22/06 - Rn. 11, 13; 14.12.2017 - 17 Sa 84/17 - Rn. 25, juris).
bbb) Zur Begründung ihres Auflösungsantrags stützt sich die Beklagte auf Vorbringen, welches sie schon im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens eingebracht hatte und das daher bereits Gegenstand der arbeitsgerichtlichen Prüfung war.
(1) Ihren Vorwurf, die Klägerin habe im Kammertermin am 12. April 2023 auf Frage der Kammervorsitzenden bewusst wahrheitswidrig erklärt, sich nicht bei anderen Unternehmen beworben zu haben, hat die Beklagte - worauf sie selbst hinweist - bereits erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 3. Mai und 7. Juni 2023 erhoben und dort das der Klägerin vorgeworfene Verhalten als "grob wahrheitswidrig" / "bewusst wahrheitswidrig" bezeichnet (Schriftsatz vom 03.05.2022 S. 4, 5). Auch ihren weiteren Vorwurf, die Klägerin habe den Sachverständigen angelogen, hatte sie bereits mit Schriftsatz vom 3. Mai 2023 (dort S. 5) erhoben. Damit lagen dem erstinstanzlichen Gericht bei seiner Entscheidung über den Weiterbeschäftigungsantrag die Tatsachen bereits vor, die dokumentieren sollen, dass eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit mit der Klägerin nicht zu erwarten sei (§ 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG). Gleichwohl hat das Gericht den Antrag ausgeurteilt und die Weiterbeschäftigung der Klägerin offenkundig für der Beklagten zumutbar gehalten.
(2) Sinn und Zweck des Zwangsvollstreckungsverfahrens ist es nicht, unter Heranziehung desselben Sachverhalts aus dem Erkenntnisverfahren erster Instanz einen dort bejahten Anspruch nunmehr in Abrede zu stellen. Vielmehr folgt aus der Trennung von Erkenntnis- und Zwangsvollstreckungsverfahren, dass der Gegenstand des Zwangsvollstreckungsverfahrens auf die Überprüfung der Zulässigkeit der Zwangsvollstreckung auf der Grundlage des vollstreckbaren Titels reduziert ist (BAG 15.04.2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 25; LAG Baden-Württemberg 29.03.2023 - 12 Sa 3/23 - Rn. 22 ff. [sogar für den Fall einer "äußerst lückenhaften oder gar vollkommen unzureichenden Begründung des erstinstanzlichen Urteils"]; LAG Rheinland-Pfalz 18.07.2016 - 5 Sa 271/16 - Rn. 10; Hessisches LAG 22.01.2014 - 12 Ta 366/13 - Rn. 9 f., juris). Aus der erstinstanzlich titulierten Weiterbeschäftigung folgt, dass die im Erkenntnisverfahren bereits angeführten Gründe dem Weiterbeschäftigungsantrag für den Erlass des kraft gesetzlicher Wertung vorläufig vollstreckbaren Urteils aus Sicht des entscheidenden Arbeitsgerichts nicht entgegenstanden und daher im Rahmen des Zwangsvollstreckungsverfahrens unbeachtlich sind (BAG 15.04.2009 - 3 AZB 93/08 - Rn. 25; LAG Baden-Württemberg 09.11.2015 - 17 Ta 23/15 - Rn. 39; Hessisches LAG 22.01.2014 - 12 Ta 366/13 - Rn. 9 f., juris). Etwas anderes kann nur gelten, wenn die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels ganz offenkundig sind (LAG Baden-Württemberg 29.03.2023 - 12 Sa 3/23 - Rn. 22, juris), was hier nicht der Fall ist.
(3) Nichts anderes gilt für den weiteren von der Beklagten angeführten Auflösungsgrund, die Klägerin habe ihr unverfrorenerweise bewusst unvollständigen und damit wahrheitswidrigen Vortrag vorgeworfen. Zwar wurde der betreffende Klägerschriftsatz erst im Rahmen des Berufungsverfahrens verfasst. Gleichwohl stellt er sich inhaltlich als Fortsetzung des erstinstanzlichen wechselseitigen Vortrags zu dem Vorwurf der Beklagten dar, die Klägerin habe bewusst und gezielt gelogen, indem sie behauptet habe, sich nicht bei anderen Unternehmen beworben zu haben. Dass in einem streitigen Verfahren eine Partei ihren eigenen Sachvortrag als zutreffend und damit den Vortrag der Gegenseite als unzutreffend darstellt, ist nicht ungewöhnlich. Dies kann tatsächliche Umstände wie auch aus solchen abgeleitete rechtliche Wertungen betreffen. Ob der Vorwurf der Beklagten, die Klägerin habe gelogen, berechtigt ist oder nicht, obliegt der Würdigung des Gerichts im Erkenntnisverfahren. Durch die Wiederholung der Vorwürfe und den darauf erwidernden Vortrag der Gegenseite, die ihrerseits die "Richtigkeit" ihrer Darstellung für sich in Anspruch nimmt, wird kein neuer, erst im Berufungsverfahren aufgetretener Sachverhalt begründet, der erstinstanzlich noch nicht vorgelegen hätte (vergleichbar einer nach der erstinstanzlichen Entscheidung ausgesprochenen Folgekündigung des Arbeitgebers, die den ausgeurteilten Weiterbeschäftigungsanspruch nur entfallen lassen kann, wenn sie auf einen neuen Lebenssachverhalt gestützt wird [vgl. BAG 19.12.1985 - 2 AZR 190/85 - Rn. 31 f.; LAG Rheinland-Pfalz 11.12.2012 - 10 Sa 422/12 - Rn. 15; LAG Hamburg 20.03.2014 - 3 Sa 2/14 - Rn. 4, juris; GMP/Schleusener, § 62 Rn. 22a; KR/Rinck, 12 Aufl. 2019, § 102 BetrVG Rn. 379]).
3. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 62 Abs. 1 Satz 5 ArbGG).
Verkündet am 17.10.2023