05.09.2006 · IWW-Abrufnummer 062647
Bundesgerichtshof: Urteil vom 05.07.2006 – IV ZR 105/05
§ 19 (1) Satz 3 VHB 98 räumt dem Versicherungsnehmer das unbefristete Recht ein, vom Versicherer einseitig die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens auch zu den tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchsgrundes zu verlangen.
Solange der Versicherungsnehmer dieses Recht noch nicht verloren hat, ist es dem Versicherer verwehrt, die Leistungsablehnung mit einer Belehrung zu verbinden, die die Frist des § 12 Abs. 3 VVG in Lauf setzt.
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 105/05
Verkündet am:
5. Juli 2006
in dem Rechtsstreit
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter Terno, die Richter Dr. Schlichting, Seiffert, die Richterin Dr. Kessal-Wulf und den Richter Dr. Franke auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2006
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen vom 15. März 2005 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin verlangt Versicherungsleistungen aus einer bei der Beklagten genommenen Hausratversicherung wegen eines Brandschadens in ihrer Wohnung. Dem Versicherungsvertrag liegen die Allgemeinen Hausratversicherungsbedingungen (VHB 98) zugrunde.
Mit einem der Klägerin am 21. Mai 2003 zugegangenen Schreiben lehnte die Beklagte die Leistung einer Entschädigung mit der Begründung ab, diese habe den Brand grob fahrlässig verursacht. Gleichzeitig belehrte sie die Klägerin über die Rechtsfolgen einer nicht fristgerechten gerichtlichen Geltendmachung des Anspruchs (§ 12 Abs. 3 VVG). Einen Hinweis auf das in § 19 (1) VHB 98 vorgesehene Sachverständigenverfahren enthielt dieses Schreiben nicht. Diese Klausel lautet:
"Versicherungsnehmer und Versicherer können nach Eintritt des Versicherungsfalles vereinbaren, daß die Höhe des Schadens durch Sachverständige festgestellt wird. Das Sachverständigenverfahren kann durch Vereinbarung auf sonstige tatsächliche Voraussetzungen des Entschädigungsanspruches sowie der Höhe der Entschädigung ausgedehnt werden. Der Versicherungsnehmer kann ein Sachverständigenverfahren auch durch einseitige Erklärung gegenüber dem Versicherer verlangen."
Zur Durchführung des Rechtsstreits beantragte die Klägerin zunächst Prozesskostenhilfe. Ihrem beim Landgericht am 10. November 2003 eingegangenen Gesuch war ein Klageentwurf beigefügt. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2003 teilte der Rechtsschutzversicherer der Klägerin mit, er habe für die beabsichtigte Klage mit Wirkung vom 4. Dezember 2003 Rechtsschutz übernommen. Die Klägerin reichte am 16. Januar 2004 Klage ein und erklärte ihren Prozesskostenhilfeantrag für erledigt. Die Beklagte hat sich auf die Versäumung der Frist des § 12 Abs. 3 VVG berufen.
Das Landgericht hat die Klage auf Zahlung einer Entschädigung, hilfsweise auf Feststellung der Eintrittspflicht der Beklagten, abgewiesen. Die Beklagte habe zu Recht die Versäumung der Frist des § 12 Abs. 3 VVG geltend gemacht. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel hat Erfolg. Es führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. 1. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe die Frist des § 12 Abs. 3 VVG mit ihrem der Klägerin am 21. Mai 2003 zugegangenen Ablehnungsschreiben in Lauf gesetzt. Der Wirksamkeit der Fristsetzung stehe die nach § 19 (1) VHB 98 vorgesehene Möglichkeit eines Sachverständigenverfahrens nicht entgegen. Zwar habe eine Leistungsablehnung des Versicherers regelmäßig nicht die Wirkungen des § 12 Abs. 3 VVG, solange nach den vereinbarten Versicherungsbedingungen über die den Anspruch begründenden Voraussetzungen eine Sachverständigenkommission zu entscheiden habe. Das in § 19 (1) Satz 3 VHB 98 vorgesehene Recht des Versicherungsnehmers, durch einseitige Erklärung gegenüber dem Versicherer ein Sachverständigenverfahren zu verlangen, betreffe aber nur den Fall eines Streits um die Höhe des Schadens im Sinne des Satzes 1 der Klausel. Seien andere Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs bestritten, insbesondere der Anspruchsgrund, erfordere die Durchführung des Sachverständigenverfahrens eine Vereinbarung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer. Der Versicherungsnehmer könne dies nicht einseitig verlangen; die Klägerin habe dies im Übrigen hier auch nicht getan.
2. Das Prozesskostenhilfegesuch der Klägerin habe die Klagefrist nicht gewahrt. Dazu müsse der Versicherungsnehmer, der zunächst Prozesskostenhilfe beantragt, alles tun, damit die Klage "demnächst" im Sinne von § 167 ZPO zugestellt werden könne. Diesen Anforderungen habe die Klägerin, die sich insoweit das Verhalten ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen müsse, nicht genügt. Nach Eingang der Deckungszusage des Rechtsschutzversicherers bei ihrem Prozessbevollmächtigten hätte sie unverzüglich, spätestens aber innerhalb einer Frist von zwei Wochen Klage erheben müssen. Berechtigte Entschuldigungsgründe für die eingetretene Verzögerung bis zur Einreichung der Klageschrift am 16. Januar 2004 habe die Klägerin nicht dargetan.
II. Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten rechtlicher Nachprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand.
1. Das Ablehnungsschreiben der Beklagten vom 20. Mai 2003 hat die Frist des § 12 Abs. 3 VVG nicht in Lauf gesetzt.
a) § 12 Abs. 3 VVG eröffnet dem Versicherer eine dem übrigen Zivilrecht unbekannte Möglichkeit leistungsfrei zu werden. Er kann seine teilweise oder vollständige schriftliche Leistungsablehnung mit einer Belehrung des Versicherungsnehmers verbinden, dass dieser binnen sechs Monaten ab Zugang der ablehnenden Entscheidung seinen Anspruch auf Leistung gerichtlich geltend machen müsse; anderenfalls kann sich der Versicherer mit Erfolg darauf berufen, dass er allein durch den Ablauf der ungenutzt gelassenen Frist leistungsfrei geworden ist. Enthalten die Allgemeinen Versicherungsbedingungen Abweichungen von dieser gesetzlichen Regelung zum Nachteil des Versicherungsnehmers, versagt ihnen § 15a VVG die Wirksamkeit. Ein solcher Nachteil ist nicht schon dann gegeben, wenn die Versicherungsbedingungen für den Fall der Leistungsablehnung die Anrufung eines Sachverständigengremiums zur Prüfung von Grund und/oder Höhe des vom Versicherungsnehmer geltend gemachten Anspruchs vorsehen. Das gilt unabhängig davon, ob im Streitfall ein solches Verfahren zwingend vorgesehen ist (vgl. Senatsurteil vom 30. April 1981 - IVa ZR 92/80 - VersR 1981, 828 unter I 2 m. zust. Anm. Sieg, VersR 1981, 1093, 1094), eine Partei es für die den Anspruch begründenden Umstände oder Teile davon verlangen kann (Senatsurteil vom 7. November 1990 - IV ZR 201/89 - VersR 1991, 90 unter 2 c und d) oder das Einverständnis beider Seiten für die Durchführung eines solchen Verfahrens vorausgesetzt wird (Senatsurteil vom 17. Mai 2006 - IV ZR 230/05 - zur Veröffentlichung bestimmt). Der Senat hat jedoch entschieden, dass eine Belehrung mit der Wirkung des § 12 Abs. 3 VVG, deren Nichtbeachtung also die Sanktion des Anspruchsverlustes für den Versicherungsnehmer nach sich zieht, dem Versicherer erst zu einem Zeitpunkt erlaubt ist, in dem nach erklärter Leistungsablehnung für den Versicherungsnehmer allein die gerichtliche Geltendmachung in Betracht kommt, wenn er sich mit der ablehnenden Entscheidung nicht abfinden will (Senatsurteil vom 5. Januar 1991 aaO unter 2 d).
b) Dieser Zeitpunkt war im vorliegenden Fall noch nicht eingetreten, da die Klägerin gemäß § 19 (1) Satz 3 VHB 98 nach Leistungsablehnung berechtigt war, zur Frage der grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalles im Sinne von § 61 VVG die Durchführung eines Sachverständigenverfahrens zu verlangen. Der vom Berufungsgericht insoweit vorgenommenen (ebenso Kollhosser in Prölss/Martin, VVG 27. Aufl. § 15 AFB 30 Rdn. 2 f.; Martin, Sachversicherungsrecht 3. Aufl. Y I Rdn. 47 zu § 23 VHB 84) Auslegung der Klausel, bei der es auf das Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse ankommt (st. Rspr.; vgl. BGHZ 123, 83, 85) folgt der Senat nicht.
c) § 19 (1) Satz 1 VHB 98 weist den Versicherungsnehmer zunächst drauf hin, dass die Parteien des Versicherungsvertrages nach Eintritt des Versicherungsfalles ein Sachverständigenverfahren zur Höhe des Schadens vereinbaren können. Im Folgesatz wird klargestellt, dass sie - wiederum durch Vereinbarung - das Sachverständigenverfahren unter anderem auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs erstrecken können, also auf die tatsächlichen Voraussetzungen zum Grund des Anspruchs. In beiden Fällen wird demnach eine Vereinbarung der Vertragsparteien als Grundsatz beschrieben, dieser Grundsatz aber in Satz 3 zugunsten des Versicherungsnehmers durchbrochen, wenn es dort hei ßt, dass der Versicherungsnehmer ein Sachverständigenverfahren "auch durch einseitige Erklärung gegenüber dem Versicherer verlangen" kann.
Dass sich diese Abkehr von der grundsätzlich vorausgesetzten Vereinbarung nur auf das in Satz 1 vorgesehene Sachverständigenverfahren zur Höhe des Schadens beziehen soll, erschließt sich dem um Verständnis bemühten Versicherungsnehmer nicht. Die Wendung in Satz 3 enthält keine Differenzierung im Hinblick auf den Gegenstand des Sachverständigenverfahrens, wie er zum einen in Satz 1, zum anderen in Satz 2 beschrieben worden ist. Eine solche drängt sich dem Versicherungsnehmer auch nicht auf, weil er nicht erkennen kann, dass das einseitige Verlangen nur in dem einen Fall Sinn machen soll, nicht aber in dem anderen. Er wird die Regelung daher als einseitige, zeitlich unbefristete Begünstigung hinsichtlich der Einleitung des Sachverständigenverfahrens schlechthin verstehen, während der Versicherer, will er seinerseits den Weg des Sachverständigenverfahrens beschreiten, mit der Regelung in § 19 (1) VHB 98 stets auf eine Vereinbarung mit dem Versicherungsnehmer verwiesen wird.
2. § 19 (1) Satz 3 VHB 98 räumte der Klägerin daher im vorliegenden Fall, auch wenn der Streit die tatsächlichen Voraussetzungen des Anspruchsgrundes betraf, das Recht ein, einseitig ein Sachverständigenverfahren zu verlangen. Da § 19 (1) Satz 3 VHB 98 eine Befristung nicht vorsieht, stand der Klägerin diese Möglichkeit auch im Zeitpunkt der Leistungsablehnung der Beklagten unverändert offen. Sie hat dieses Recht aus § 19 (1) Satz 3 VHB 98 weder vor diesem Zeitpunkt noch danach verloren. Der Beklagten war es daher verwehrt, die Leistungsablehnung mit einer Belehrung mit der Wirkung des § 12 Abs. 3 VVG zu verbinden; die Frist des § 12 Abs. 3 VVG ist daher nicht wirksam in Lauf gesetzt worden.
III. Danach kommt es auf die vom Berufungsgericht zutreffend verneinte Frage nicht mehr an, ob die Klägerin alles ihr Zumutbare getan hat, damit die Zustellung der Klage "demnächst" im Sinne von § 167 ZPO erfolgen konnte. Es wird nunmehr zu prüfen sein, ob sich die Beklagte zu Recht auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalles im Sinne des § 61 VVG berufen hat.