03.02.2015 · IWW-Abrufnummer 143742
Oberlandesgericht Koblenz: Urteil vom 30.04.2014 – 5 U 1504/13
1. Tritt ein Richterwechsel zwischen der Beweisaufnahme und dem Urteil ein, leidet das Verfahren an einem zur Aufhebung und Zurückverweisung führenden Mangel, falls wegen des fehlenden persönlichen Eindrucks auszuschließen ist, dass die neu hinzugetretenen Richter das Beweisergebnis sachgemäß gewürdigt haben. Eine Heilung des Verfahrensmangels nach § 295 ZPO scheidet im schriftlichen Verfahren nach § 128 Abs. 2 ZPO aus, wenn erst das schriftliche Urteil den Richterwechsel offenbart.
2. Im Arzthaftungsprozess ist ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG gegeben, wenn besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist. Bei einem komplexen Behandlungsgeschehen (hier: Geburtsleitung und postnatale Betreuung) mit mehreren beteiligten Ärzten ist es insbesondere erforderlich, die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Verursachungsbeiträge differenziert zu prüfen und zu würdigen.
Oberlandesgericht Koblenz
Urt. v. 30.04.2014
Az.: 5 U 1504/13
In dem Rechtsstreit
1. Krankenhaus ...
2. Dr. med. ...
3. Dr. med. ...
- Beklagte und Berufungskläger -
Prozessbevollmächtigte:
gegen
- Klägerin und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Koblenz
durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Kaltenbach, den Richter am Oberlandesgericht Dr. Menzel und den Richter am Oberlandesgericht Goebel
am 30.04.2014 mit Zustimmung der Parteien gemäß § 128 Abs. 2 ZPO
aufgrund des Sach- und Streitstandes vom 15. April 2014
für Recht erkannt:
Tenor:
1.
Das Urteil des Landgerichtes Trier vom 18.11.2013 wird aufgehoben und der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
2.
Für das Berufungsverfahren werden gerichtliche Kosten und Auslagen nicht erhoben. Im Übrigen bleibt die Entscheidung über die Kosten der Schlussentscheidung vorbehalten.
3.
Die Revision wird nicht zugelassen.
4.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 750.000 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
I. Der Kläger begehrt von den gesamtschuldnerisch in Anspruch genommenen Beklagten immateriellen Schadensersatz von zumindest 500.000 € sowie die Feststellung der materiellen Schadensersatzpflicht für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wegen einer behaupteten unzureichenden Schwangerschaftsbetreuung, einer fehlerhaften Geburtshilfe und postnatalen Versorgung in der Zeit von November 2003 bis Juli 2004.
Die Beklagte zu 1) ist Rechtsträgerin des Krankenhauses in dem der Kläger entbunden wurde. Die Beklagten zu 2) und 3) betreiben eine gynäkologische Praxis und sind Belegärzte am Krankenhaus der Beklagten zu 1), das nicht über ein Perinatalzentrum verfügt.
Der Beklagte zu 2) betreute die Mutter des Klägers in der Schwangerschaft. Ihm wirft der Kläger vor, seine Mutter trotz erkennbarer Geburtsrisiken nicht in ein Krankenhaus mit Perinatalzentrum überwiesen und weitere Untersuchungen unterlassen zu haben. Aufgrund der erhobenen Befunde habe der Beklagte zu 2) nicht davon ausgehen können, dass bei dem Kläger keine Mangelversorgung vorliege.
Der Beklagte zu 3) habe die Geburt grob fehlerhafter geleitet. Erforderliche Befunde seien nicht erhoben, engmaschige Kontrollen und diverse konservative Behandlungen seien unterlassen worden. Die Entscheidung zur Schnittentbindung sei verspätet getroffen und die zulässige Entwicklungszeit sei überschritten worden. Sofort nach der Geburt habe ein Pädiater hinzugezogen werden müssen.
Der Beklagten zu 1) sei vorzuwerfen, dass auf der Entbindungsstation kein Pädiater erreichbar gewesen sei. Die bei ihr angestellte Hebamme hätte den Geburtshelfer früher über die pathologischen Befunde unterrichten müssen. Sie hätte intravenös eine Glykose verabreichen oder eine Verlegung in die Kinderklinik veranlassen müssen.
Der Kläger behauptet, seine schwere Behinderung sei Folge der groben Behandlungsfehler, die vor, während und nach der Geburt vorgekommen seien. Die Dauerschäden bestimmten sein Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Die Beklagten sind dem umfassend entgegengetreten. Sie bestreiten Organisations-, Befunderhebungs- und Behandlungsfehler, hilfsweise deren Einstufung als grob fehlerhaft sowie die Kausalität der behaupteten Fehler für den beklagten Gesundheitszustand. Letztlich sei auch der Kausalitätsgegenbeweis geführt.
Das Landgericht hat nach der Einholung von gynäkologischen, neonatologischen und genetischen Sachverständigengutachten am 28.11.2012 die beauftragten Gutachter angehört und eine Zeugin vernommen. Die Beweisaufnahme wurde von den Richtern K., H. und R. durchgeführt.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht durch die Richter K., S. und Sch. die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger verzinsten immateriellen Schadensersatz von 500.000 € zu leisten und die materielle Schadensersatzpflicht festgestellt. Es sieht die Behandlung des Klägers durch die Beklagten als grob fehlerhaft an. Aufgrund dessen sei der Kausalitätsbeweis geführt.
Hiergegen wenden sich die Beklagten mit ihren Berufungen, mit denen sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrages die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Abweisung der Klage, hilfsweise die Zurückverweisung des Verfahrens, begehren. Sie rügen die Besetzung des Landgerichtes sowie die Begründung der Haftung dem Grunde nach.
Die Beklagten beantragen (jeweils),
unter Änderung des Urteils des Landgerichtes Trier vom 18.11.2013 die Klage abzuweisen;
hilfsweise
das vorgenannte Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufungen der Beklagten zu 1) bis 3) zurückzuverweisen.
Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vortrages.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung, die Darstellung des Streitstandes im angefochtenen Urteil und die zwischen den Parteien im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Der Senat hat darauf hingewiesen, dass auch er davon ausgeht, dass das Urteil nicht in gesetzmäßiger Weise ergangen ist und ein Vorgehen nach § 128 Abs. 2 ZPO angeregt. Dem haben die Parteien zugestimmt. Der Senat hat darauf am 04.04.2014 beschlossen, dass im schriftlichen Verfahren entschieden werden soll und den Zeitpunkt bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, auf den 15.04.2014 bestimmt.
II. Die zulässigen Berufungen haben einen vorläufigen Erfolg. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und - auf die Hilfsanträge - zur Zurückverweisung des Verfahrens an das Landgericht.
Das angefochtene Urteil verstößt gegen § 355 ZPO, wonach die Beweisaufnahme unmittelbar vor dem erkennenden Gericht stattfinden muss.
Wie sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.11.2012 ergibt, haben an der mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme die Richter K., H. und R. teilgenommen. Demgegenüber wurde das angefochtene Urteil von den Richtern K., dem S. und Sch. erlassen. Ein Richterwechsel - hier in doppelter Hinsicht - erfordert zwar nicht grundsätzlich eine Wiederholung der Beweisaufnahme. Anderes gilt aber, wenn es - wie hier vom Landgericht angenommen - auf die Glaubwürdigkeit des vernommenen Zeugen ankommt und sich bei den Akten kein den Parteien vor Erlass des Urteils zugänglicher Glaubwürdigkeitsvermerk befindet (BGH NJW 1997, 1586; BGH WM 1991, 566 [BGH 04.12.1990 - XI ZR 310/89]; BGH NJW 1995, 1292). Eine Heilung durch rügelose Einlassung (hierzu Zöller-Greger, ZPO, 30. Aufl. 2014, § 355 Rn 8) kam aufgrund der Entscheidung im schriftlichen Verfahren nicht in Betracht. Den Parteien ist erst mit der Zustellung der Entscheidung der Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme bekannt geworden.
Das Urteil war danach aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen. Im weiteren Verfahren bedarf es einer erneuten umfassenden Beweisaufnahme, denn das angefochtene Urteil trägt den klagezusprechenden Ausspruch nicht. Für dieses Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
Das Landgericht wird als Ausgangspunkt den für die unterschiedlichen Beklagten maßgeblichen Facharztstandard zu bestimmen haben. Dabei wird es sich hinsichtlich der Beklagten zu 1) auch damit auseinanderzusetzen haben, dass das Belegarztsystem grundsätzlich zulässig ist und ihre Einstandspflicht nur im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit in Betracht zu ziehen ist. Für die jeweils gesondert zu beurteilenden Phasen der Schwangerschaft, der Geburtshilfe und der postnatalen Versorgung ist dann festzustellen, welche Anforderungen aufgrund des jeweiligen Facharztstandards an die Beklagten zu 2 und 3) und die bei der Beklagten zu 1) Beschäftigten zu stellen waren. Die Wertungen der Sachverständigen sind hierzu gesondert und konkret zu hinterfragen.
Das Landgericht wird sich auch mit den erstinstanzlichen Argumenten gegen eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach, die in den Berufungsbegründungen fokussiert wiederholt wurden, auseinanderzusetzen haben. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen und Anträge der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG NJW 87, 485; BVerfG 97, 2310). Es muss sich nicht mit jedem Vorbringen der Prozessbeteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich befassen. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist aber dann gegeben, wenn im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass das Vorbringen der Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist (BGH NJW-RR 2014, 381 [BGH 03.12.2013 - XI ZR 301/11]). Die Gründe des angefochtenen Urteils behaupten weitgehend eine Haftung der Beklagten, ohne sie unter Berücksichtigung der wechselseitigen Argumente zu begründen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten der Beklagten ist zu vermissen.
Kommt das Landgericht nach erneuter Anhörung der Sachverständigen und der Vernehmung der Zeugin zu dem Ergebnis, dass eine Haftung aller oder einzelner Beklagten gegeben ist, ist die Kausalitätsprüfung ebenfalls für jeden Beklagten gesondert durchzuführen. Die von den Sachverständigen bisher getroffenen Feststellungen tragen die Auffassung des Landgerichtes, allen Beklagten seien grobe Behandlungsfehler vorzuwerfen, derzeit nicht. Den Sachverständigen wird die Frage, ob die Beklagten in einer schlechterdings unverständlichen Art und Weise reagiert haben, erneut vorzulegen sein.
Wird hiernach der Kausalitätsbeweis originär oder kraft Beweislastumkehr als geführt angesehen, wird sich das Landgericht auch mit der Frage des Kausalitätsgegenbeweises auseinanderzusetzen haben. Dies gilt in besonderer Weise für den Beklagten zu 2).
Die Beweisaufnahme wird sich also erneut auf alle streitigen Fragen erstrecken müssen.
III.
Gerichtliche Kosten und Auslagen sind für das Berufungsverfahren nicht zu erheben (§ 21 GKG); im Übrigen ist die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorzubehalten.
Gründe die Revision zuzulassen sind nicht ersichtlich und von den Parteien auch nicht vorgetragen.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 3 ZPO.
Verkündet am 30.04.2014