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08.02.2018 · IWW-Abrufnummer 199504

Oberlandesgericht Dresden: Urteil vom 14.07.2015 – 14 U 584/15

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


OLG Dresden

14.07.2015

14 U 584/15

In dem Rechtsstreit

XXX,
vertreten durch den Vorstand
- Verfügungsklägerin und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte
gegen
XXX,
- Verfügungsbeklagte und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte

wegen einstweiliger Verfügung

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. K.,
Richter am Oberlandesgericht Dr. M. und
Richterin am Oberlandesgericht S.

aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14.07.2015

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung der Verfügungsklägerin wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 20.3.2015, Az. 3 O 3021/14 EV, teilweise abgeändert und die Verfügungsbeklagte verurteilt,

es bei Meidung von Ordnungsgeld bis zu 250.000.- EUR - ersatzweise Ordnungshaft - oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten für jeden Fall der Zuwiderhandlung zu unterlassen,

mit vorformulierten, im Internet abrufbaren Schreiben zur Kündigung der Mitgliedschaft Kündigungshilfe für Dritte, insbesondere Mitglieder anderer gesetzlicher Krankenversicherungen, zu leisten, wenn die Kündigungsschreiben die Erklärung enthalten:

"Sämtliche in der Vergangenheit abgegebenen Werbe- und Anruferlaubnisse widerrufe ich hiermit mit sofortiger Wirkung; dies umfasst auch Rückwerbeversuche.",

insbesondere wie in Anlage EV 1 ersichtlich.

Im Übrigen wird der Verfügungsantrag zurückgewiesen.

2. Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Verfügungsklägerin 2/3, die Verfügungsbeklagte 1/3.

Streitwert: 100.000.- EUR

Gründe

Die zulässige Berufung hat teilweise Erfolg. Der Verfügungsklägerin steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1 und 3 Nr. 1 in Verbindung mit §§ 3, 4 Nr. 10 UWG hinsichtlich des Widerrufs der Werbe- und Anruferlaubnisse zu.

1. Zwischen den Parteien steht im Streit, ob die beanstandete Werbemaßnahme der Verfügungsbeklagten nach den Maßstäben des UWG unlauter und damit wettbewerbsrechtlich unzulässig ist. Die Verfügungsklägerin greift an, dass die Verfügungsbeklagte ein vorformuliertes Kündigungsschreiben zur Verfügung stellt, mit dem sie eine Vollmachtserteilung zu ihren Gunsten für sämtliche Tätigkeiten, die mit der Übermittlung und dem Empfang der Kündigungsbestätigung zusammenhängen können, und einen sofortigen Widerruf von Werbe- und Anruferlaubnissen verbindet. Das vorformulierte Kündigungsschreiben ist aus Anlage EV 1 (Bl. 22 dA) ersichtlich.

2. Diese Werbemaßnahme der Verfügungsbeklagten beurteilt sich nach den Vorschriften des UWG unter Berücksichtigung der in der Richtlinie 2005/29/EG enthaltenen Vorgaben. Die Verfügungsbeklagte hat mit dem beanstandeten Überlassen vorformulierter Schreiben als Unternehmerin eine geschäftliche Handlung vorgenommen.

Insbesondere handelt es sich bei der beanstandeten Maßnahme um eine geschäftliche Handlung der Verfügungsbeklagten im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG. Indem die Verfügungsbeklagte vorformulierte Schreiben der angegriffenen Art zur Verfügung stellt, zielt sie auf eine Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidungen von Versicherungsnehmern, insbesondere auf einen Wechsel der Krankenkasse und eine Inanspruchnahme der von der Verfügungsbeklagten angebotenen Versicherungsleistungen ab. Nach §§ 173, 175 SGB V haben Versicherungspflichtige und Versicherungsberechtigte das Recht, unter verschiedenen Anbietern den von ihnen bevorzugten Träger einer Krankenkasse zu wählen. Das ermöglicht auch einen - eingeschränkten - Preis- und Qualitätswettbewerb unter den gesetzlichen Krankenkassen durch die Erhebung von Zusatzbeiträgen, die Gewährung von Beitragsrückerstattungen oder das Angebot von Wahltarifen. Machen die gesetzlichen Krankenkassen von diesen Handlungsmöglichkeiten Gebrauch und treten sie mit anderen Krankenkassen in einen Wettbewerb um Mitglieder, handeln sie unternehmerisch.

Eine Auslegung von § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 6 UWG, nach der die beanstandete Werbemaßnahme als Geschäftspraktik im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern anzusehen ist und die Verfügungsbeklagte, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung erfüllt, bei Vornahme der beanstandeten Maßnahme als Gewerbetreibende gehandelt hat, steht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. b und d der Richtlinie 2005/29/EG (BGH GRUR 2014, 1120 Rn 16 [BGH 30.04.2014 - I ZR 170/10] - Betriebskrankenkasse II).

3. Grundsätzlich ist bei der Abwerbung von Kunden eine systematische Kündigungshilfe zur ordnungsgemäßen Auflösung von Versicherungsverträgen nicht wettbewerbswidrig, sofern nicht unlautere Mittel eingesetzt werden (Köhler in Köhler/Bornkamm, UWG 33. Aufl. 2015, § 4 Rn 10.47).

Aus wettbewerbsrechtlicher Sicht besteht grundsätzlich kein Anspruch auf den Fortbestand eines einmal begründeten Vertragsverhältnisses. Das Abwerben von Kunden ist zulässiger Teil des Wettbewerbs, auch wenn die Kunden noch an den Mitbewerber gebunden sind (vgl. BGH, GRUR 1966, 263, 264 - Bau-Chemie). Deshalb ist die Leistung von Kündigungshilfe durch bloße Hinweise auf Notwendigkeit, Frist und Form einer Kündigung grundsätzlich wettbewerbskonform (BGH GRUR 2002, 548 Rn 27 [BGH 08.11.2001 - I ZR 124/99] - Mietwagenkostenersatz).

Entsprechendes gilt, wenn - wie hier - einem vertraglich noch anderweitig gebundenen Kunden ein vorbereitetes Kündigungsschreiben zur Verfügung gestellt wird, das nach Einfügung des Kündigungstermins nur noch zu unterschreiben ist; ein durchschnittlich informierter und verständiger Verbraucher wird allein durch eine solche Dienstleistung nicht unsachlich zum Abschluss eines Vertrages mit einem Mitbewerber veranlasst (BGH GRUR 2005, 603 Rn 19 [BGH 07.04.2005 - I ZR 140/02] - Kündigungshilfe).

Zulässig ist es auch, sich zur Übersendung des Kündigungsschreibens bevollmächtigen zu lassen (Köhler in Köhler/Bornkamm, a.a.O. § 4 Rn 10.39). Es begegnet deshalb keinen wettbewerbsrechtlichen Bedenken, dass sich die Verfügungsbeklagte in dem Formular eine Vollmacht für den Empfang der Kündigungsbestätigung erteilen lässt. Dass diese Vollmacht "sämtliche Tätigkeiten umfasst, die mit der Übermittlung und dem Empfang der Kündigungsbestätigung zusammenhängen können, insbesondere die Anforderung und Erinnerung an die Zusendung", ist vor dem Hintergrund der Regelungen zum Krankenkassenwechsel zu bewerten.

Nach § 175 Abs. 4 S. 4 SGB V wird die Kündigung wirksam, wenn das Mitglied innerhalb der Kündigungsfrist eine Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse durch eine Mitgliedsbescheinigung oder das Bestehen einer anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall nachweist. Hat innerhalb der letzten 18 Monate vor Beginn der Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung eine Mitgliedschaft bei einer anderen Krankenkasse bestanden, kann nach § 175 Abs. 2 S. 2 SGB V die Mitgliedsbescheinigung nur ausgestellt werden, wenn die Kündigungsbestätigung nach Absatz 4 Satz 3 vorgelegt wird. Nach § 175 Abs. 4 S. 3 SGB V hat die Krankenkasse dem Mitglied unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von zwei Wochen nach Eingang der Kündigung eine Kündigungsbestätigung auszustellen.

Bedarf der Kunde damit einer Kündigungsbestätigung, um eine wirksame Kündigung vorzunehmen, kann sich die Verfügungsbeklagte zur Dienstleistung der Anforderung, Erinnerung an die Zusendung und des Empfangs formularmäßig bevollmächtigen lassen, zumal die Kündigungsbestätigung ihr vorzulegen ist, wenn der Interessent zu ihr wechselt. Er wird ihr auch nur in einem solchen Fall die Vollmacht erteilen. Ob die Verfügungsbeklagte im Zuge der Vollmachtserteilung weitergehende Tätigkeiten wie eine Berechnung von Kündigungsfristen vornimmt, kann hier dahinstehen, da dies von den Anträgen nicht erfasst wird.

4. Allerdings führt der Einsatz von unlauteren Mitteln zur Unlauterkeit einer Abwerbungsmaßnahme.

Nach den "Gemeinsamen Wettbewerbsgrundsätzen"(i.d.F. v. 9.11.2006) für die gesetzlichen Krankenkassen haben die Aufsichtsbehörden in Nr. 37 festgehalten, dass eine Kündigungshilfe, die nach den allgemeinen Grundsätzen des UWG rechtswidrig ist, zu unterlassen ist. Nach Nr. 38 liegt eine solche unzulässige Kündigungshilfe vor, wenn die Kasse das zu werbende Mitglied irreführt, überrumpelt oder sonst unangemessen unsachlich in seiner Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt. Für die lauterkeitsrechtliche Beurteilung sind diese Wettbewerbsrichtlinien zwar nicht bindend (Köhler in Köhler/Bornkamm, a.a.O. § 4 Rn 10.45). Sie spiegeln aber hier den Stand der Rechtsprechung und herrschenden Meinung in der Literatur wider (BGH GRUR 2005, 603 Rn 19 [BGH 07.04.2005 - I ZR 140/02] - Kündigungshilfe; Köhler a.a.O. § 4 Rn 10.47), zumal die Aufzählung nicht abschließend ist und etwa auch das Herabsetzen der Leistungen des Mitbewerbers erfasst wird.

Wird der Mitbewerber nach den allgemeinen Voraussetzungen von §§ 3, 4 Nr. 10 UWG gezielt behindert, ist dies unlauter, gleich ob dies im Zuge einer Kündigungshilfe erfolgt oder eine Kundenabwerbung damit verbunden ist. Eine unlautere Behinderung von Mitbewerbern nach §§ 3, 4 Nr. 10 UWG setzt eine Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltungsmöglichkeiten der Mitbewerber voraus, die über die mit jedem Wettbewerb verbundene Beeinträchtigung hinausgeht und bestimmte Unlauterkeitsmerkmale aufweist. Das betreffende Verhalten muss bei objektiver Würdigung der Umstände in erster Linie auf die Beeinträchtigung der wettbewerblichen Entfaltung des Mitbewerbers und nicht auf die Förderung des eigenen Wettbewerbs gerichtet sein. Unlauter ist auch eine gezielte Behinderung, die dazu führt, dass der beeinträchtigte Mitbewerber seine Leistung am Markt durch eigene Anstrengung nicht mehr in angemessener Weise zur Geltung bringen kann (BGH GRUR 2011, 1018 Rn 65 [BGH 22.06.2011 - I ZR 159/10] - Automobil-Onlinebörse mwN; Ohly/Sosnitza, UWG, 6. Aufl., § 4 Rn. 10.9).

Hier widerruft der Versicherte nach dem vorformulierten Schreiben "sämtliche in der Vergangenheit abgegebenen Werbe- und Anruferlaubnisse mit sofortiger Wirkung; dies umfasst auch Rückwerbeversuche." Dies führt insbesondere dazu, dass der vorherigen Krankenversicherung bzw. Betriebskrankenkasse jede telefonische Kontaktaufnahme mit ihrem kündigenden Mitglied untersagt wird, sogar noch vor Wirksamwerden der Kündigung und damit gegenüber ihrem derzeitigen Vertragspartner. Indem die Verfügungsbeklagte mit dem vorformulierten Widerruf Nachfragen verhindert, kann sie die Interessen der Verbraucher beeinträchtigen. Wäre ein Mitglied über die möglichen Anlässe für eine solche Kontaktaufnahme informiert, würde es möglicherweise von einem solchen telefonischen Kontaktverbot absehen. So können nach einer Kündigung zur Abwicklung des Versicherungsverhältnisses beispielsweise die Klärung von Leistungsansprüchen, Beitragsrückständen oder der Weiterversicherung bei Arbeitgeberwechsel oder Arbeitslosigkeit, eine rückwirkende Beitragseinstufung von Selbständigen, Beitragsbescheinigungen für die einkommenssteuerliche Veranlagung, die Rückforderung der elektronischen Gesundheitskarte erforderlich werden.

Das beanstandete Verhalten hat auch erhebliche nachteilige Auswirkungen auf das Wettbewerbsgeschehen. Die Verfügungsbeklagte errichtet eine Marktverhaltensschranke für aktuelle Mitbewerber (vgl. dazu Ohly/Sosnitza, a.a.O. § 4 Rn. 10.10.). Eigene schutzwürdige Interessen hat sie dafür nicht angeführt. Sie schottet sich mit ihren abgeworbenen Versicherten ab und verhindert zulässige, den Wettbewerb fördernde Anstrengungen der Verfügungsklägerin, die abgeworbenen Versicherten doch noch bei sich zu halten. Damit gesteht die Verfügungsbeklagte ihren Mitbewerbern das nicht zu, was sie bei der Kündigungshilfe für sich in Anspruch nimmt: die im Grundsatz zulässige Abwerbung von Kunden. Die Verfügungsklägerin braucht eine solche Beeinträchtigung nicht hinzunehmen. So kann ihr die Verfügungsbeklagte insbesondere nicht abverlangen, mit einem Versicherten, der noch Kunde der Verfügungsklägerin ist, nicht mehr telefonieren zu dürfen - und sei es auch nur zum Zweck der Abwicklung des Versicherungsverhältnisses.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Der Senat bemisst den stattgebenden Teil mit 1/3.

RechtsgebietUWGVorschriften§ 3 UWG; § 4 Nr. 10 UWG; § 8 Abs. 1 UWG; § 8 Abs. 3 Nr. 1 UWG

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