17.03.2020 · IWW-Abrufnummer 214790
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 26.02.2020 – IV ZR 220/19
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende Richterin Mayen, die Richterin Harsdorf-Gebhardt, den Richter Lehmann, die Richterinnen Dr. Brockmöller und Dr. Bußmann
am 26. Februar 2020
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 11. Juli 2019 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: bis 65.000 €
Gründe
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I. Der Kläger macht Leistungsansprüche aus einer bei d er Beklagten seit 2009 bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung geltend.
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Der Kläger war selbständiger Marktleiter zweier Supermarktfilialen. Im Oktober 2010 stellte er einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen. Nachdem die Beklagte ihre Leistungspflicht zunächst anerkannt hatte, leitete sie ab 2012 mehrere Nachprüfungsverfahren ein und stellte schließlich aufgrund eines im April 2014 erstatteten psychiatrischen Gutachtens des von ihr beauftragten Sachverständigen Dr. S. mit Schreiben vom 12. August 2014 ihre Leistungen zum 30. November 2014 ein, da der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei.
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Der Kläger hat die weitere Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente zuzüglich Überschussbeteiligung (diesbezüglich hat er zusätzlich einen Auskunftsantrag gestellt) sowie die Beitragsbefreiung für die Zeit ab Januar 2015 - zum Teil im Wege der Feststellung, zum Teil durch Erstattung gezahlter Beiträge - und die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten begehrt. Er hat sich hierzu auf ein von ihm in Auftrag gegebenes fachpsychiatrisches Gutachten der Frau Dr. H. vom 2. Februar 2015 berufen, die ihm darin eine weiter bestehende Berufsunfähigkeit von mindestens 50% attestiert hat.
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II. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. Se. abgewiesen; das Oberlandesgericht hat ihr nach persönlicher Anhörung des Klägers und ergänzender Vernehmung des gerichtlichen Sachverständigen in vollem Umfang stattgegeben.
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Es hat ausgeführt, der Beklagten sei der ihr obliegende Beweis, dass der Kläger wieder berufsfähig sei, nicht gelungen. Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts beruhe auf Gehörsverletzungen und Fehlern bei der Beweiswürdigung.
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So habe das Landgericht den Kläger nicht persönlich angehört. Die im Berufungsverfahren durchgeführte Anhörung des Klägers habe Erhellung gebracht und - neben den Feststellungen des Sachverständigen wesentlich zur Überzeugung des Gerichts beigetragen. Sie habe die Schwierigkeiten des Klägers, in seinem zuletzt ausgeübten Beruf tätig zu sein und seinen Lebensalltag zu bewältigen, aufgezeigt.
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Zu Recht rüge der Kläger, dass der gerichtliche Sachverständige die Gegenüberstellung des Zustandes des Klägers bei Anerkenntn is und den geänderten Zustand außer Acht gelassen habe. Sein Ergebnis, dass bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nicht vorliege, sei nicht schlüssig. Eine hinreichend konkrete Auseinandersetzung mit den Feststellungen der Privatgutachterin Dr. H. sei weder im schriftlichen Gutachten noch bei der Anhörung vor dem Landgericht erfolgt und auch die Anhörung vor dem (OLG-)Senat habe diesbezüglich keine Erhellung gebracht.
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Insgesamt enthielten seine Ausführungen keine nachvollziehbare Erklärung, warum er von der Einschätzung der Frau Dr. H. abweiche. Sie habe die vom Kläger im zuletzt ausgeübten Beruf benötigten Fähigkeiten differenziert aufgeschlüsselt und jeweils prozentual eingeschätzt. Eine konkrete Würdigung dieser Einschätzung und Aussagen dazu, warum der Sachverständige diese nicht teile, fehlten. Seine Ausführungen, dass der Kläger allein infolge der langjährig in Anspruch genommenen Psychotherapie nunmehr in der Lage sein müsse, in seiner ursprünglichen Tätigkeit zu arbeiten, könnten nicht überzeugen. Ihnen fehle jeder Bezug zu den konkreten Angaben, die der Kläger bei den jeweiligen Gutachtern und auch umfassend vor dem (OLG-)Senat getätigt habe.
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Danach stehe im Ergebnis außer Frage, dass der Kläger zu einer Leitungsfunktion wie zuvor jedenfalls in den zurückliegenden Jahren und derzeit nicht in der Lage und damit berufsunfähig sei. Denn ganz maßgeblich für seine Tätigkeit sei die Fähigkeit, eigenverantwortlich unternehmerische Entscheidungen zu treffen sowie das Personal zu führen und anzuleiten. In diesen Bereichen liege eine deutlich über 50% eingeschränkte Fähigkeit des Klägers vor.
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Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
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III. Die Beschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs ( Art. 103 Abs. 1 GG ). Die Beklagte rügt mit Recht, dass das Berufungsgericht den Beweisantrag der Beklagten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dem von ihr behaupteten Wegfall der Berufsunfähigkeit nur unvollkommen entsprochen und die Ausführungen in dem von der Beklagten eingeholten Privatgutachten nicht berücksichtigt hat.
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1. Legt eine Partei ein medizinisches Gutachten vor, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter besondere Sorgfalt gefordert. Er darf in diesem Fall - wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger - den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gibt. Einwände, die sich aus einem Privatgutachten gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergeben, muss das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären. Dazu kann es den Sachverständigen zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen. Insbesondere bietet sich die mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen gemäß § 411 Abs. 3 ZPO an. Ein Antrag der beweispflichtigen Partei ist dazu nicht erforderlich. Gegebenenfalls hat das Gericht den Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatgutachter anzuhören, um dann entscheiden zu können, wieweit es den Ausführungen des Sachverständigen folgen will. Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen auszuräumen vermag, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (st. Rspr.; Senatsbeschlüsse vom 12. Januar 2011 - IV ZR 190/08 , VersR 2011, 552 Rn. 5; vom 18. Mai 2009 - IV ZR 57/08 , VersR 2009, 575 Rn. 7; jeweils m.w.N.).
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2. Diese Vorgaben hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet.
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a) Nicht zu beanstanden ist allerdings, dass es das Gutachten des Dr. Se. in Anbetracht der gegenteiligen Ausführungen der Privatgutachterin Dr. H. für nicht ausreichend gehalten hat.
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Insoweit ist es seiner Aufgabe der kritischen Würdigung des Gerichtsgutachtens unter Berücksichtigung eines Privatgutachtens gegenteiligen Inhalts gerade nachgekommen. Im Übrigen ist die Würdigung erhobener Beweise und damit auch die von Sachverständigengutachten grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten. Das Revisionsgericht prüft lediglich nach, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt ( Senatsurteil vom 19. Juli 2017 - IV ZR 535/15 , VersR 2017, 1134 Rn. 24 m.w.N.).
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Derartige Verstöße sind hier nicht feststellbar. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht davon auszugehen, dass das Berufungsgericht aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ersichtliche Aggravationstendenzen beim Kläger unberücksichtigt gelassen hätte. Da es das Gutachten aus anderen, hiervon unabhängigen Gründen für unzureichend hielt, um die sich aus dem Privatgutachten Dr. H. ergebenden Bedenken gegen das Ergebnis des Gutachtens auszuräumen, war es vom Standpunkt des Berufungsgerichts aus nicht erforderlich, auf diesen Gesichtspunkt einzugehen.
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b) Auf Grundlage dieser Annahme hätte das Berufungsgericht aber seiner Entscheidung nicht alleine das Privatgutachten der Frau Dr. H. sowie die Angaben des Klägers ohne weitere sachverständige Überprüfung zugrunde legen dürfen, sondern hätte ein weiteres Gutachten einholen müssen (vgl. oben unter Ziff.1 a.E.).
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Bei dem vom Kläger vorgelegten Privatgutachten handelte es sich unbeschadet der Verpflichtung des Gerichts, ein solches Gutachten ernst zu nehmen und ebenfalls kritisch zu würdigen, nicht um ein Beweismittel; ein Privatgutachten ist vielmehr als besonders substantiierter Parteivortrag einzuordnen, der seinerseits Gegenstand einer Beweisaufnahme sein kann (vgl. Senatsbeschluss vom 13. November 2013 - IV ZR 224/13 , VersR 2014, 104 Rn. 8). Beweispflichtig für den Wegfall der Berufsunfähigkeit ist hier allerdings die Beklagte, deren Beweisantritt aber mit der Einholung eines nach der eigenen Auffassung des Berufungsgerichts unzureichenden Gutachtens nicht erschöpft war.
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c) Zudem hat sich das Berufungsgericht nicht mit dem von der Beklagten eingeholten Privatgutachten auseinandergesetzt. Soweit es zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Wegfall der Berufsunfähigkeit des Klägers nicht bewiesen sei, bestand auch insoweit die Verpflichtung, sich mit dagegen bestehenden Einwänden aus einem Privatgutachten - hier demjenigen des Dr. S. - auseinanderzusetzen. Dieses war, anders als der Kläger meint, nicht schon deshalb entbehrlich, weil sich das Berufungsgericht mit dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen befasst hat, der zum selben Ergebnis wie Dr. S. gelangt ist. Denn vom Berufungsgericht wird nicht dargelegt, dass das Gutachten von Dr. S. denselben Bedenken begegnet, aufgrund derer es das Gerichtsgutachten für nicht überzeugend hielt. Es ist vielmehr auf dieses Gutachten gar nicht eingegangen.
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Das wird das Berufungsgericht auch zu beachten haben, sollte es nach der Einholung eines weiteren Gutachtens erneut zum selben Ergebnis kommen.
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3. Schließlich liegt eine weitere Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beklagten durch das Berufungsgericht darin, dass es dem Kläger einen Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten zugesprochen hat, ohne auf die zahlreichen von der Beklagten hiergegen vorgebrachten Einwände eingegangen zu sein. Die bloße Nennung des § 280 BGB als Anspruchsgrundlage genügte insoweit nicht.
Mayen
Harsdorf -Gebhardt
Lehmann
Dr. Brockmöller
Dr. Bußmann