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05.05.2020 · IWW-Abrufnummer 215494

Hessisches Finanzgericht: Urteil vom 29.01.2020 – 9 K 182/19

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Hessisches Finanzgericht
9. Der Senat

29.01.2020

Aktenzeichen:    9 K 182/19

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 04.12.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 09.01.2019 wird aufgehoben.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Kindergeldberechtigung des Klägers für sein Kind A, geboren am 15.11.1998.

Das Kind Ina besuchte bis zum 31.08.2017 ein Gymnasium in B (vgl. Bl. 70 der Kindergeldakte). Sie begann am 01.09.2017 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) bei der C in D (vgl. Bl. 69, 100 der Kindergeldakte). Diese setzte das Kind in einer Schule in E ein. Das Kind leidet seit ca. dem Jahr 2016 an Bulimie und Anorexie. Im Mai 2018 verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Kindes derart, dass es das Freiwillige Soziale Jahr zum Ende des Monats kündigte (vgl. Bl. 84 der Kindergeldakte). Ab dem 04.07.2018 befand sich das Kind praktisch durchgängig bis zum 11.12.2018 in stationärer Behandlung in der F Klinik (vgl. Bl. 85 der Kindergeldakte). Ab dem 15.01.2019 war das Kinder wieder im Rahmen eines FSJ in einer Behindertenwerkstatt in E eingesetzt (das Enddatum wird dabei einerseits mit dem 14.04.2019, andererseits mit dem 14.07.2019 angegeben, vgl. Bl. 125 und 165 der Kindergeldakte).

Im Hinblick auf die Ableistung des FSJ bei den C erhielt der Kläger zunächst ab August 2017 Kindergeld für das Kind Ina (vgl. Bl. 74 der Kindergeldakte). Da die Dauer dieses FSJ bis zum 31.08.2018 geplant war (vgl. Bl. 69 der Kindergeldakte), hob die beklagte Familienkasse --Familienkasse-- die Kindergeldfestsetzung zunächst mit Bescheid vom 31.07.2018 ab September 2018 auf (vgl. Bl. 77 der Kindergeldakte). Daraufhin teilte der Kläger der Familienkasse mit, dass seine Tochter das FSJ krankheitsbedingt am 31.05.2018 habe abbrechen müssen und seither auf einen Klinikplatz gewartet habe, den sie am 04.07.2018 habe antreten können. Nach ihrer Genesung sei beabsichtigt, dass seine Tochter die restlichen drei Monate des FSJ noch ableiste (vgl. Bl. 82 f., 106 der Kindergeldakte). Der Kläger legte diesbezüglich auch eine Bescheinigung der F Klinik vor, nachdem ein Ende der Erkrankung zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung am 12.11.2018 nicht absehbar sei (vgl. Bl. 99 der Kindergeldakte).

Die Familienkasse hob im Anschluss mit Bescheid vom 04.12.2018 die Festsetzung des Kindergeldes für das Kind ab dem Monat Juni 2018 auf (vgl. Bl. 113 der Kindergeldakte). Das Kind habe das FSJ wegen Krankheit abgebrochen und befinde sich somit nicht mehr in Ausbildung. Die Berücksichtigung einer Erkrankung komme lediglich für die Zukunft und ab dem Zeitpunkt der Mitteilung des Kindergeldberechtigten in Betracht. Überdies sei das Ende der Erkrankung nicht absehbar.

Der Kläger legte hiergegen am 19.12.2018 Einspruch ein. Er teilte der Familienkasse mit, dass das Kind in der Zwischenzeit genesen sei und es ab dem 15.01.2019 die begonnene Bildungsmaßnahme fortführen könne. Somit sei vorliegend von einer vorübergehenden Erkrankung auszugehen, die nach der Rechtsprechung zu einem Kindergeldanspruch auch für die Zeit der Erkrankung führe (vgl. Bl. 120 ff. der Kindergeldakte).

Mit Einspruchsentscheidung vom 09.01.2019 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück. Es liege keine Unterbrechung einer Ausbildung vor, vielmehr habe das Kind das FSJ zum 31.05.2018 abgebrochen. Im Hinblick auf das spätere FSJ könne das Kind auch nicht unter dem Gesichtspunkt einer Ausbildungssuche berücksichtigt werden, da es sich gerade nicht um eine Ausbildung, sondern um einen FSJ-Platz bemüht habe. Eine Berücksichtigung als behindertes Kind scheide schließlich deswegen aus, weil diesbezüglich keine Unterlagen eingereicht worden seien (vgl. Bl. 148 ff. der Kindergeldakte).

Der Kläger stellte am 14.01.2019 einen weiteren Antrag auf Kindergeld (vgl. Bl. 154 ff. der Kindergeldakte), woraufhin die Familienkasse mit Bescheid vom 22.01.2019 Kindergeld für das Kind Ina ab dem Monat Januar 2019 festsetzte (vgl. Bl. 169 der Kindergeldakte).

Der Kläger hat am 11.02.2019 gegen den Bescheid vom 04.12.2018 Klage erhoben. Er hält an seiner Auffassung fest, dass das Kind sein am 01.09.2017 begonnenes FSJ am 31.05.2018 nicht abgebrochen, sondern krankheitsbedingt nur unterbrochen habe. Gegen eine Beendigung des FSJ spreche auch, dass das Kind das FSJ fortführen könne und nicht nochmals für zwölf Monate ein neues beginnen müsse. Die Kündigung bei der C sei deswegen erfolgt, weil das zuvor privat krankenversicherte Kind im Rahmen des FSJ gesetzlich versichert gewesen sei, was jedoch zu einer langen Wartezeit auf einen Klinikplatz geführt hätte. Durch die Kündigung habe das Kind wieder privat krankenversichert werden können. Eine Fortführung des FSJ bei den C sei nach der Genesung nicht möglich gewesen, da es dort an einer Schule beschäftigt gewesen sei und das dortige Schuljahr im Zeitpunkt der Genesung schon wieder begonnen gehabt habe. Ein Wiedereinstieg mitten im Schuljahr sei nicht möglich gewesen. Deshalb habe das Kind eine neue Stelle gesucht, die es ihm ermöglicht habe, die noch für vier Monate zu absolvierende Tätigkeit im Rahmen des FSJ durchzuführen.

Der Kläger beantragt,

den Aufhebungsbescheid vom 04.12.2018 in Form der Einspruchsentscheidung vom 09.01.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, für das Kind A, geboren am 15.11.1998, ab Juni 2018 monatlich Kindergeld festzusetzen und zu leisten.

Die Familienkasse beantragt,

die Klage abzuweisen,

die Kosten des Verfahrens dem Kläger aufzuerlegen.

Der Kläger verkenne, dass die Berücksichtigung als krankes Kind während einer Unterbrechung eines anspruchsbegründenden Tatbestands kein Berücksichtigungstatbestand im Sinne des Einkommensteuergesetzes sei. Es handele sich vielmehr um eine verwaltungsinterne Billigkeitsregelung, nach der erkrankte Kinder während einer Unterbrechung unter bestimmten Voraussetzungen berücksichtigt werden könnten. Diese Voraussetzungen lägen jedoch nicht vor, da zum einen eine nachträgliche Geltendmachung ausscheide und zum anderen das FSJ tatsächlich abgebrochen worden sei. Das Vertragsverhältnis zu dem früheren Träger, den C, habe während der Krankheitsphase nicht weiter bestanden, sondern sei gekündigt worden. Auf mehr komme es nicht an.

Termin zur mündlichen Verhandlung hat am 29.01.2020 stattgefunden. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Dem Senat hat ein Band Kindergeldakten vorgelegen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Der Bescheid der Familienkasse vom 04.12.2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung --FGO--.

1. Das Gericht geht zunächst davon aus, dass im Rahmen einer Antragsauslegung, nach der im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist (vgl. nur Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 02.07.2012 - III B 101/11, BFH/NV 2012, 1628), der Kläger Kindergeld nur für den Zeitraum Juni bis Dezember 2018 begehrt. Ab dem Monat Januar 2019 setzte die Familienkasse mit Bescheid vom 22.01.2019 erneut Kindergeld fest, sodass ab diesem Zeitpunkt ein Rechtschutzbedürfnis nicht erkennbar wäre.

2. Gemäß §§ 62 Abs. 1 Satz 1, 63 Abs. 1 Satz 2, 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d Einkommensteuergesetz --EStG-- wird Kindergeld u.a. gezahlt für Kinder, die das 18., aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet haben und ein FSJ leisten.

Im Hinblick auf den Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG, der die Berücksichtigung von Kindern in Ausbildung regelt, ist allgemein anerkannt, dass für die Zeit einer Erkrankung grundsätzlich weiterhin Anspruch auf Kindergeld besteht (vgl. nur Wendl, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 32 EStG Rn. 95 m.w.N.). Dies ist entgegen der Auffassung der Familienkasse keine verwaltungsinterne Billigkeitsregelung (vgl. Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz --DA-KG-- A 15.11 Abs. 1), sondern von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angewandte Gesetzesauslegung. Der BFH hat zu den Gründen dieser Auslegung Folgendes ausgeführt:

„In Fällen einer Erkrankung hat ein Kind den Willen, sich der Ausbildung zu unterziehen. Es ist aber aus objektiven Gründen daran gehindert, weil ihm die Durchführung der Ausbildungsmaßnahmen nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Bei dieser Sachlage ist es geboten, ein solches Kind, das einen Ausbildungsplatz hat und ausbildungswillig ist, aus objektiven Gründen aber zeitweise nicht in der Lage ist, sich der Ausbildung zu unterziehen, nicht anders zu behandeln, als ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht, einen solchen aber nicht findet und das deshalb nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG berücksichtigt wird“ (BFH-Urteil vom 15.07.2003 - VIII R 47/02, BStBl. II 2003, 848 Rn. 22).

a) Diese Ansicht, nämlich dass die Erkrankung eines Kindes während seiner Ausbildung den Kindergeldbezug nicht unterbricht, kann auf den Fall einer Erkrankung während eines Freiwilligendienstes i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG übertragen werden.

Dagegen spricht zwar die gerade zitierte Begründung des BFH, da dieser sich maßgeblich auf die Gleichbehandlung von kranken Kindern in Ausbildung mit solchen Kindern, die eine Ausbildung mangels Ausbildungsplatz nicht durchführen können (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG), stützt. Einen dem § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG vergleichbaren Tatbestand gibt es jedoch für Freiwilligendienste nicht. Der BFH hat sogar ausdrücklich entschieden, dass eine analoge Anwendung von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG auf Fälle, in denen ein Kind auf eine Stelle zur Ableistung eines FSJ warten muss, mangels Gesetzeslücke ausscheide und auch verfassungsrechtlich nicht geboten sei (vgl. BFH, Urteil vom 15.07.2003 - VIII R 78/99, BStBl. II 2003, 841).

Gleichwohl ist aus teleologischen Gründen auch im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d EStG eine Unterbrechung des FSJ durch Krankheit als für die Kindergeldberechtigung unschädlich anzusehen. Denn in einem solchen Fall kann ‒ anders als im vom BFH entschiedenen Fall, in dem ein FSJ mangels Platz zunächst nicht angetreten werden kann ‒ keine Erwerbsobliegenheit des Kindes angenommen werden, sodass im Ergebnis eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern besteht, zu deren Ausgleich gerade das Kindergeld dient. Von der grundsätzlichen Übertragbarkeit der geschilderten Grundsätze für kranke Kinder in Ausbildung auf kranke Kinder, die einen Freiwilligendienst ableisten, scheint im Übrigen selbst auch die Familienkasse stillschweigend auszugehen. Soweit ersichtlich, ist dieses Thema bisher weder in Rechtsprechung noch Literatur behandelt worden.

b) Für die Kindergeldberechtigung des Klägers ist es des Weiteren unschädlich, dass das Kind des Klägers den ersten Abschnitt des FSJ gekündigt hatte und den zweiten Abschnitt später bei einem anderen Träger fortsetzte. Laut der Dienstanweisung der Familienkasse kommt eine anspruchsunschädliche Unterbrechung zwar nur dann in Betracht, solange während einer Erkrankung die rechtliche Bindung zur Ausbildungsstätte fortbesteht (DA-KG A 15.11 Abs. 1 Satz 1). Diese Voraussetzung wird in der Kommentarliteratur teilweise wörtlich übernommen (vgl. Wendl, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 32 EStG Rn. 95). Sie lässt sich so der Rechtsprechung aber nicht entnehmen. Der BFH hat vielmehr entschieden, dass es für die Frage der Unterbrechung einer Ausbildung nur darauf ankommt, ob auf die Ausbildung gerichtete Maßnahmen tatsächlich durchgeführt werden; hingegen kommt es nicht entscheidend darauf an, ob das Ausbildungsverhältnis formal weiterbesteht (vgl. BFH, Urteile vom 15.07.2003 - VIII R 47/02, BStBl. II 2003, 848, vom 20.07.2006 - III R 69/04, BFH/NV 2006, 485 und vom 23.01.2013 - XI R 50/10, BStBl. II 2013, 916). Der Rechtsprechung des BFH lässt sich somit nicht entnehmen, dass in solchen Fällen ein formal fortgesetztes Ausbildungsverhältnis vorliegen muss, das lediglich tatsächlich unterbrochen wurde (wie hier ausdrücklich Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.02.2018 - 2 K 2487/16, Rn. 21, juris).

Im vorliegenden Fall ist im Übrigen zu beachten, dass der Kläger plausible Gründe vorgebracht hat, wieso das Kind das FSJ bei dem ersten Träger von sich aus gekündigt hatte (Wiedererlangung des privaten Versicherungsschutzes) und es später nicht wieder bei ihm fortsetzte (kein Wiedereinstieg im laufenden Schuljahr möglich).

c) Unbeachtlich ist auch das von der Familienkasse vorgebrachte Argument, dass die Berücksichtigung einer krankheitsbedingten Unterbrechungszeit ausscheide, wenn die Krankheit erst nachträglich vom Kindergeldberechtigten angezeigt worden sei. Dies mag eine verwaltungsinterne Vorgabe sein (vgl. V 6.1 Abs. 1 Satz 8 DA-KG), die vom BFH jedoch als unbeachtlich beurteilt wird: „Zwar kann der Zeitpunkt, zu dem der Familienkasse ein Sachverhalt unterbreitet worden ist, ein Indiz für und gegen die Glaubhaftigkeit des Vortrages sein, ebenso, dass ein Sachverhalt nicht oder falsch dargestellt wurde, weil die Rechtslage unzutreffend beurteilt worden war. Entscheidend ist indessen nicht, was erklärt oder nicht erklärt wurde, sondern die tatsächliche Lage. Denn es handelt sich insoweit nicht um eine rechtsgestaltende Erklärung, sondern um eine im Wege der Glaubhaftmachung zu würdigende Tatsachenbehauptung“ (vgl. BFH-Urteil vom 10.04.2019 - III R 48/18, BFH/NV 2019, 1104, betreffend die mehraktige Ausbildung).

Vorliegend ist für das Gericht nicht zweifelhaft, dass das Kind ‒ wie es der Kläger bereits im September 2018 der Familienkasse mitgeteilt hatte (vgl. Bl. 83 der Kindergeldakte) ‒ stets die Absicht hatte, die verbliebene Zeit des FSJ nach Genesung noch abzuleisten. Dass die behandelnde Klinik noch im November 2018 von einem nicht absehbaren Ende der Erkrankung sprach, ändert hieran nichts, da es nach der geschilderten BFH-Rechtsprechung darauf ankommt, wie sich die tatsächliche Lage aus Sicht des Finanzgerichts im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellt.

3. Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 135 Abs. 1, 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung. Die Revision ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.

RechtsgebietEStGVorschriften32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. d EStG

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