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12.05.2021 · IWW-Abrufnummer 222316

Arbeitsgericht Emden: Teilurteil vom 09.11.2020 – 2 Ca 399/18

1) Fortführung von Arbeitsgericht Emden, Urteil vom 24.09.2020 – 2 Ca 144/20, Juris sowie BeckRS 2020, 28054):
a) Insbesondere aus § 618 Abs. 1 BGB folgt (in europarechtskonformer Auslegung) eine arbeitgeberseitige Verpflichtung zur Messung, Aufzeichnung und Kontrolle der Arbeitszeiten der Arbeitnehmer. Hilfsweise besteht eine entsprechende vertragliche Nebenpflicht jedenfalls gemäß § 241 Abs. 2 BGB.
b) Durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14.05.2019, Rs. C-55/18 [CCOO], Juris, wird die Darlegungslast im Überstundenprozess modifiziert.
c) Dem Einwand, Folgerungen für vergütungsrechtliche Fragen könnten sich aus dem Urteil des EuGHs vom 14.05.2019, a. a. O., [CCOO] nicht ergeben, weil die Europäische Union in vergütungsrechtlichen Fragen keine Regelungskompetenz habe, ist nicht zu folgen (vgl. zu Einzelheiten EuGH, Urteile vom 15.4.2008 - C-268/06, „Impact“, Juris Rn. 121 bis 126, sowie vom 21.02.2018, C-518/15, „Matzak“, Rn. 24 bis 26).
d) Arbeitszeitaufzeichnungen, die (jedenfalls in erster Linie) den Zweck haben, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften zu dokumentieren und zu überwachen, können auch vergütungsrechtliche Bedeutung entfalten (vgl. BAG, Urteil vom 28.08.2019 - 5 AZR 425/18, Juris Rn. 16 bis 30).
e) Im Regelfall ist von einer Deckungsgleichheit der arbeitszeitrechtlich dokumentierten sowie der vergütungspflichtigen Arbeitszeiten auszugehen. Diese stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Die in Erfüllung arbeitszeitrechtlicher Vorgaben angefertigte Dokumentation von Arbeitszeiten wird, von besonders gelagerten und zu begründenden Ausnahmefällen abgesehen, regelmäßig ein aussagekräftiges Indiz dahingehend darstellen, dass während der dokumentierten Arbeitszeit auch tatsächlich gearbeitet worden ist.
2) Kommt die Arbeitgeberin ihrer aus § 618 BGB folgenden Verpflichtung zur Erfassung und Kontrolle der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers nicht nach, reichen im Vergütungs- und insbesondere im Überstundenprozess die vom Arbeitnehmer vorgetragenen Indizien gegebenenfalls für die Annahme aus, dass die von ihm geltend gemachten Arbeitszeiten zutreffend sind. Als solche Indizien kommen insbesondere Ausdrucke der bei der Arbeitgeberin geführten Zeiterfassung in Betracht.
3) Wendet die Arbeitgeberin im Vergütungsprozess ein, bei der von ihr geführten Zeiterfassung handele es sich nicht um die Erfassung der Arbeitszeiten im Sinne der Arbeitszeitrichtlinie 2003/EG/EG, sondern um reine „Kommens“- und „Geht“-Zeiten, hat die Arbeitgeberin ihre aus dem Urteil des EuGHs vom 14.05.2019, Rs. C-55/18, [CCOO], folgende Verpflichtung zur „objektiven“, „verlässlichen“ und „zugänglichen“ Zeiterfassung nicht erfüllt. Dann stellt die Nichterfassung der Arbeitszeiten des Arbeitnehmers allerdings eine Beweisvereitelung durch die Arbeitgeberin dar. Auch wenn eine solche Beweisvereitelung noch keine vollständige Umkehr der Beweislast nach sich zieht, kann sie eine erhebliche Erleichterung der Beweisführungslast für den Arbeitnehmer bedeuten. Im Ergebnis kann dies einer Beweislastumkehr nahekommen. Dies gilt insbesondere angesichts der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in seinem Urteil vom 14.05.2019, Rs. C-55/18, [CCOO], Juris Rn. 53 bis 55, zur Bedeutung eines Systems zur Arbeitszeiterfassung als wirksames Beweismittel.
4) Sind vom Arbeitnehmer im Vergütungs- bzw. Überstundenprozess vorgelegte Zeiterfassungsbögen aus der Zeiterfassung der Arbeitgeberin als hinreichende Indizien dafür anzusehen, dass der Arbeitnehmer im Rahmen der erfassten Zeiten auch tatsächlich gearbeitet hat, hat die Arbeitgeberin das durch die Zeiterfassung begründete Indiz, der Arbeitnehmer habe zu den angegebenen Zeiten gearbeitet, durch substantiierten Gegenvortrag zu erschüttern.
5) Die von einer bei der Arbeitgeberin installierten Zeiterfassung automatisch vorgenommenen „Rundungen“ der Beginn- und Endzeiten sind unbeachtlich. Auf diese kann die Arbeitgeberin im Vergütungs- bzw. Überstundenprozess eine Kürzung der Ansprüche des Arbeitnehmers nicht stützen. Eine automatisch von einem Zeiterfassungsprogramm vorgenommene „Rundung“ der Arbeitszeiten, die auf eine Kürzung der Arbeitszeiten hinausläuft, entspricht nicht der Vorgabe aus dem Urteil des EuGHs vom 14.05.2019 [CCOO], dass die Arbeitszeiten „objektiv“ und „verlässlich“ festzustellen sind (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019, Rs. C-55/18, Rn. 47, 49, 50, 54, 56, 57, 60, 62, 65).
6) Eine arbeitsvertragliche Regelung, die die Kürzung einer Gratifikation um 1/60 je Fehltag vorsieht, ist wegen Verstoßes gegen § 4 a Satz 2 EFZG gemäß §§ 134 BGB, 12 EZFG nichtig. Zusätzlich ergibt sich die Unwirksamkeit einer solchen Regelung auch aus § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Nach § 4 a Satz 2 EFZG darf die Kürzung von Sondervergütungen für jeden Tag der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit ein Viertel des Arbeitsentgelts, das im Jahresdurchschnitt auf einen Arbeitstag entfällt, nicht überschreiten (Abgrenzung zu LAG Niedersachsen, Urteil vom 17.01.2019 – 7 Sa 490/18, Juris).
7) Verlangt die Arbeitgeberin die Rückzahlung von Vergütungsüberzahlungen mit der Begründung, der Arbeitnehmer habe rechtsgrundlos in Anspruch genommene reguläre Pausen von arbeitstäglich 45 Minuten sowie zusätzliche Raucherpausen von arbeitstäglich 50 Minuten vergütet erhalten, und bestreitet der Arbeitnehmer diesen Vortrag, ist von der Arbeitgeberin im Einzelnen konkret darzulegen, an welchen Tagen der Arbeitnehmer zu jeweils welchen Uhrzeiten Pausen gemacht habe. Andernfalls ist der Vortrag unsubstantiiert. Für unsubstantiierten Vortrag aufgebotene Zeugen sind auf Grund des Verbotes der Ausforschung von Zeugen nicht zu vernehmen.


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