07.01.2022 · IWW-Abrufnummer 226776
Landgericht Baden-Baden: Beschluss vom 19.09.2021 – 3 T 28/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Aktenzeichen: 3 T 28/21
M 275/21 AG Bühl
Landgericht Baden-Baden
In Sachen
XXX
- Gläubiger und Beschwerdegegner -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt XXX
gegen
XXX
- Schuldnerin und Beschwerdeführerin -
wegen Zwangsvollstreckung
hier: Zwangsvollstreckung
hat das Landgericht Baden-Baden - Zivilkammer III - durch die Richterin am Landgericht XXX als Einzelrichterin am 19.09.2021 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Bühl vom 12.04.2021, Az. M 275/21, aufgehoben.
2. Der Gläubiger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
I.
Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsvollzieherakte und die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
Auch die Schuldnerin könnte ihren Arbeitsort in der XXX grundsätzlich ohne Auto erreichen, obwohl sie nach ihrer Vermögensauskunft nicht über ein Fahrrad verfügt: Die Arbeitsstätte liegt in XXX und laut Google Maps zu Fuß nur rund XXX Minuten vom Wohnort entfernt.
Es ist hierbei zu berücksichtigen, dass die Schuldnerin XXX Stunden pro Woche in Schichtarbeit tätig ist. Sie hat außerdem zwei schulpflichtige Kinder, die sie gemeinsam mit ihrem Ehemann zu betreuen und versorgen hat. Die Familie wohnt zudem in XXX und damit im ländlichen Raum.
M 275/21 AG Bühl
Landgericht Baden-Baden
Beschluss
In Sachen
XXX
- Gläubiger und Beschwerdegegner -
Prozessbevollmächtigter:
Rechtsanwalt XXX
gegen
XXX
- Schuldnerin und Beschwerdeführerin -
wegen Zwangsvollstreckung
hier: Zwangsvollstreckung
hat das Landgericht Baden-Baden - Zivilkammer III - durch die Richterin am Landgericht XXX als Einzelrichterin am 19.09.2021 beschlossen:
1. Auf die sofortige Beschwerde der Schuldnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts Bühl vom 12.04.2021, Az. M 275/21, aufgehoben.
2. Der Gläubiger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe:
I.
Die Parteien streiten über die Pfändbarkeit eines im Eigentum der Schuldnerin stehenden PKW.
Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichtes Bühl vom 28.07.2020 (Az.: 3 C 487/17) wegen einer Forderung in Höhe von 5.175,91 €. Er erteilte dem Gerichtsvollzieher Auftrag zur Pfändung in die bei der Schuldnerin befindlichen körperlichen Sachen. Die Schuldnerin ist nach der Vermögensauskunft vom 02.02.2021 Eigentümerin eines Fahrzeugs Ford Kuga 2,0 Diesel, Baujahr 2014, amtliches Kennzeichen XXX. Die Pfändung des Fahrzeugs hat der Gerichtsvollzieher mit Hinweis auf § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO abgelehnt.
Die Schuldnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bühl vom 12.04.2021, mit dem der Gerichtsvollzieher angewiesen wurde, im Auftrag des Gläubigers den PKW der Schuldnerin zu pfänden und zu verwerten. Zur Begründung führt die Schuldnerin an, dass die vierköpfige Familie auf das Auto angewiesen sei. Sie habe schulpflichtige Kinder im Alter von X und X Jahren. Im Notfall könne man die Kinder nicht mehr zur Schule fahren oder davon abholen. Auch Einkäufe und Arztfahrten seien ohne Auto nicht mehr möglich, da sie selbst zweimal und ihr Ehemann bereits dreimal am Knie operiert worden sei.
Mit Schreiben vom 01.06.2021 hat die Schuldnerin zudem mitgeteilt, dass sie seit dem 25.05.2021 bei der Firma XXX angestellt sei und im Zwei-Schicht-Betrieb arbeite.
Der Beschwerdegegner begehrt die Zurückweisung der Beschwerde, da die Voraussetzungen des § 811 ZPO nicht vorlägen: Die Beschwerdeführerin könne auf den in Bühl vorhandenen funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr zurückgreifen.
Das Amtsgericht Bühl hat der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 27.04.2021 nicht abgeholfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.
Der PKW der Schuldnerin ist der Pfändung nicht unterworfen, da er gemäß § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit der Schuldnerin erforderlich erscheint.
Zwar ist dem Amtsgericht zuzugeben, dass der PKW zum bloßen Erreichen der Arbeitsstätte des Ehemannes nicht erforderlich erscheint. Da dieser über ein Fahrrad verfügt, kann er seine Arbeitsstelle mit dem Rad aufsuchen. Dass Operationen am Knie in der Vergangenheit diese Fortbewegungsart entgegen stehen würden ist nicht ausreichend dargetan.
Trotzdem erscheint der PKW der Schuldnerin zur Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit erforderlich. Erforderlich im Sinne des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO bedeutet dabei nicht unentbehrlich; es ist ausreichend, wenn der Gegenstand zur Erreichung des Normzwecks nötig ist (Gruber in: MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, § 811 Rn. 40). Die Vorschriften über den Pfändungsschutz sollen dem Schuldner und seinen Familienangehörigen die Grundlagen seiner wirtschaftlichen Existenz erhalten, damit er ‒ unabhängig von staatlichen Leistungen ‒ ein bescheidenes, der Würde des Menschen entsprechendes Leben führen kann (Musielak/Voit/Flockenhaus, 18. Aufl. 2021 Rn. 1, ZPO § 811 Rn. 1).
Die Grundlage der wirtschaftlichen Existenz der Familie ist zwischenzeitlich auch wieder die konkrete Erwerbstätigkeit der Schuldnerin. Vorliegend ist das Gericht nach Betrachtung der Umstände in diesem Einzelfall zur Überzeugung gelangt, dass die Schuldnerin ohne ein Auto zeitlich nicht die Möglichkeit hätte, ihre Vollzeit-Tätigkeit weiter auszuüben. Das Fahrzeug ermöglicht ihr daher diese konkrete Erwerbstätigkeit, weshalb es nicht gepfändet werden darf.
Gerichtsbekannt sind in XXX nicht alle Geschäfte zur Deckung des täglichen Bedarfs vorhanden, so dass die Schuldnerin ihre Einkäufe nicht in kurzer Distanz erledigen können würde. Ohne Auto oder Fahrrad, sondern unter Zuhilfenahme öffentlicher Verkehrsmittel, würde die Erledigung der Einkäufe eine erhebliche Zeit in Anspruch nehmen: Um den täglichen Bedarf einer vierköpfigen Familie ohne Auto zu transportieren müsste die Schuldnerin zu Fuß und mit dem Bus nahezu täglich zum Einkaufen fahren. Auch erforderliche Arztbesuche, welche die Schuldnerin nicht nur selbst, sondern auch mit ihren Kindern zusammen bewerkstelligen muss, wären mit dem Bus deutlich zeitintensiver. Auch ohne eine (nicht ausreichend dargelegte) Einschränkung durch Knieoperationen in der Vergangenheit ist der erforderliche Zeitaufwand durch entsprechende Wege offensichtlich groß.
Da schließlich (zumindest) die jüngere Tochter der Schuldnerin, welche die Grundschule besucht, betreuungsbedürftig ist, dürfte dies ebenfalls einen erheblichen Teil der der Schuldnerin am Tag zur Verfügung stehenden Zeit in Anspruch nehmen. Noch nicht berücksichtigt sind hierbei die auch von der Schuldnerin ins Feld geführten Gelegenheiten, zu denen ein Kind krankheitsbedingt abgeholt werden muss.
Nach den konkreten Umständen ermöglicht erst die Nutzung des PKW der Schuldnerin ihre Vollzeit-Erwerbstätigkeit, weshalb dieser unter § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO fällt und die Entscheidung des Amtsgerichts aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
Rechtsgebiet Pkw-PfändungVorschriften§ 811 ZPO