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21.01.2022 · IWW-Abrufnummer 227090

Oberlandesgericht Stuttgart: Beschluss vom 12.10.2021 – 4 Rb Ss 25 Ss 1023/21

Diese Entscheidung enhält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Beschluss
vom 12. Oktober 2021

in dem Bußgeldverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

Rechtsanwältin ................................

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

durch den Richter am Oberlandesgericht pp. als Einzelrichter:

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Bad Saulgau vom 10. August 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts
zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen auf dessen zulässigen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der Stadt Bad Saulgau vom 9. März 2020 am 10. August 2020 wegen einer fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der Höchstgeschwindigkeit außerorts um 73 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 640,- Euro sowie einem drei-monatigen Fahrverbot verurteilt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner auf die Beanstandung der Verletzung förmlichen und materiellen Rechts gestützten Rechtsbeschwerde.

Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart hat am 20. November 2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als offensichtlich unbegründet zu verwerfen. Hierzu hat die Verteidigerin am 8. Dezember 2020, 23. März 2021 und am 26. Mai 2021 jeweils (ergänzende) Gegenerklärungen abgegeben, in denen sie an der Rechtsbeschwerde festhält bzw. eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG anregte. Die Generalstaatsanwaltschaft stimmte einer solche Einstellung mit Schreiben vom 5. Mai 2021 nicht zu.

Das nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat bereits (vorläufig) Erfolg, soweit es mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grund-satzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden „Messreihe" sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden (§ 338 Nr. 8 StPO). Die Verfahrensrüge, mit der der Betroffene eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) beanstandet, greift vorliegend durch und führt zur Aufhebung der an-gegriffenen Entscheidung. Einer Erörterung der weiteren Verfahrens- und Sachrügen bedarf es daher nicht.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Nach Erlass des Bußgeldbescheids gegen den Betroffenen beantragte seine Verteidigerin am 11. Mai 2020 bei der Verwaltungsbehörde u. a. die Einsicht in die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe. Dies lehnte die Verwaltungsbehörde mit Schreiben vom 15. Mai 2020 ab. Nachdem sich die Verteidigerin am 18. Mai 2020 mit einem solchen Antrag auch an das mit der Sache bereits befasste Amtsgericht gewandt hatte, wies dieses mit Beschluss vom 15. Juni 2020 den Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet ab, da der Betroffene dar-auf keinen Anspruch habe. Im Hauptverhandlungstermin vom 20. Juli 2020 beantragte der in Untervollmacht anwesende Verteidiger des Betroffenen erneut u a., die digitalen Falldatensätze der gesamten Messreihe mit Statistikdateien durch die Verwaltungsbehörde zur Verfügung stellen zu lassen und die Hauptverhandlung auszusetzen. Weder in der Hauptverhandlung am 20. Juli 2020 noch in der am 3. oder am 10. August 2020 wurde dieser Antrag beschieden. Um auszuführen, was sich aus den beantragten Messunterlagen ergeben hätte und für den Betroffenen geltend gemacht worden wäre, versuchte die Verteidigerin mit Schriftsatz vom 16. Oktober 2020 nochmals, über die Verwaltungsbehörde Einsicht in die fehlenden Unterlagen zu erhalten, was nicht gelang.

2. Die Rüge der Verletzung des fairen Verfahrens ist vorliegend erfolgreich. Die nicht gewährte Einsichtsmöglichkeit in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Messtages an dem fraglichen Messort durch das Amtsgericht ist basierend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Recht auf ein faires Verfahren nicht vereinbar (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18, Rn. 51; Kammerbeschluss vom 4. Mai 2021 - 2 BvR 868/20, juris Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 - 1 Rb 10 Ss 291/19, juris Rn. 28; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17. März 2021 - 1 OLG 331 SsBs 23/20, juris Rn. 15 mwN; Senat, Beschl. v. 3. August 2021 — 4Rb 12 Ss 1094/20 - juris).

Das Amtsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde zur Verfügungsstellung der Daten der gesamten Messreihe, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch Beschluss zurückgewiesen bzw. in der Hauptverhandlung nicht mehr beschieden und damit die Verteidigung unzulässig gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i. V. mit § 338 Nr. 8 StPO beschränkt.

Der Betroffene ist durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. mit Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt worden. Aus diesem Recht ergibt sich für den Betroffenen ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang. Das Recht gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen, um Übergriffe staatlicher Stellen angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfG NVZ 2021, S. 43). Er darf nicht zum bloßen Objekt eines Verfahrens gemacht werden, sondern muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (BVerfGE 65, 171-174). Dazu gehört das Recht auf möglichst frühen und umfassenden Zugang zu Ermittlungsvorgängen und Beweismitteln, die zum Zwecke der Untersuchung anlässlich des Verfahrens entstanden sind, jedoch nicht zur Akte genommen worden sind und deren Beiziehung unter Aufklärungsgesichtspunkten vom Tatgericht nicht für erforderlich erachtet wurde. Dabei kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens gegenüber der Verwaltungsbehörde auch ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Messfehler verlangen, Einsicht in bei ihr existierende weitere Unterlagen zur eigenen Überprüfung der Messung zu erhalten, da er ohne diese nicht beurteilen kann, ob - gerade im standardisierten Messverfahren - Beweisanträge zu stellen sind. Dass nach Auffassung der Physikalisch-Technischen-Prüfbehörde der Erkenntniswert durch die Statistikdatei, die gesamte Messreihe sowie die Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung gering sei, (vgl.https://www.ptb.de/cms/fileadminfinternet/fachabteilungen/abteilung_1/1.3_ki-nematik/1.31/downloads/PTB Stellungnahme_Statistikdatei_DOLpdf), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu, da bestimmte Auffälligkeiten der Messungen für einen Betroffenen bzw. den von diesem beauftragten Sachverständigen nur bei Betrachtung aller Aufnahmen und Daten ermittelbar sind (vgl. Cierniak, ZfS 2012, 664, 772). Im Übrigen unterliegt es allein der Einschätzung des Betroffenen und seiner Verteidigung, ob bestimmte Informationen für seine Recherchen von Bedeutung sein könnten (Thüringer OLG, aaO Rn. 21). Erst nach deren Erlangung kann er entscheiden, ob er seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid aufrechterhalten und die weiteren Kosten und Gebühren des gerichtlichen Verfahrens einschließlich anwaltlichen Beistands auf sich nehmen will.

b) Soweit Bedenken bestehen, dass bei einer Einsicht in die gesamte Messreihe des Messtages Daten Dritter betroffen sind, kann dem durch eine Anonymisierung der Daten Rechnung getragen werden. Außerdem werden diese Messdaten lediglich an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben und damit datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert, da zu erwarten ist, dass die diesen übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden. Daher muss bei dieser Verfahrensweise das Interesse der in den Falldateien der Messreihe er-fassten weiteren Verkehrsteilnehmer gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch begründeten Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen (vgl. zum Ganzen auch BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Januar 1983 - 2 BvR 864/81, zitiert nach juris; OLG Karlsruhe, aaO Rn. 28; Thüringer Oberlandesgericht, aaO Rn. 25). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschrift der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden.

3. Zwar kann ein Betroffener mit der Rüge unzulässiger Informationsbeschränkung im gerichtlichen Verfahren nur durchdringen, sofern er den Zugang zu nicht zur Akte genommener Unterlagen schon frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragt und im Verfahren nach § 62 Abs. 1 OWiG weiter verfolgt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18, Rn. 60 und 66, juris; Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 25. Mai 2020 - VGH B 17/20, S. 4; OLG Karlsruhe, aaO Rn. 30; Cierniak/Niehaus, DAR 2018, 541, 544), dies ist allerdings vorliegend durch den Betroffenen und seine Verteidigerin noch rechtzeitig und ausreichend geschehen. Zwischen dem ersten Antrag an die Verwaltungsbehörde und dem Urteilstag lagen noch drei Monate, in denen die Verteidigung mit den Unterlagen, sofern sie sie bekommen hätte, eine eigene Überprüfung der Messung — gegebenenfalls mit Hilfe eines Sachverständigen — hätte vornehmen und nötigenfalls Beweisanträge stellen können.

4. Wegen des dargelegten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.

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