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01.03.2022 · IWW-Abrufnummer 227790

Finanzgericht Münster: Urteil vom 25.01.2022 – 15 K 3554/18 U

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Finanzgericht Münster


Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 8.9.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 verpflichtet, die Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2011 vom 5.2.2013 und den Umsatzsteuerbescheid 2012 vom 7.2.2013 dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer 2009 auf 2.778,67 €, die Umsatzsteuer 2010 auf 2.726,36 €, die Umsatzsteuer 2011 auf 2.775,63 € und die Umsatzsteuer 2012 auf 2.549,57 € festgesetzt wird.

Der Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 7.8.2015 und der Umsatzsteuerbescheid 2014 vom 23.5.2016, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018, werden dahingehend abgeändert, dass die Umsatzsteuer 2013 auf 3.174,75 € und die Umsatzsteuer 2014 auf 3.182,51 € festgesetzt wird.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.

1
Tatbestand:

2
Die Beteiligten streiten darüber, ob die von der Klägerin erbrachten Leistungen (ohne Vermietungsleistungen) im Zusammenhang mit dem sogenannten betreuten Wohnen von der Umsatzsteuer befreit sind.

3
Die Klägerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die die Seniorenresidenz T bestehend aus einem Pflegeheim und sieben Wohnungen des betreuten Wohnens betreibt. Die Wohnungen weisen eine Größe zwischen 40 m² und 65 m² auf, verfügen über jeweils eine eigene Einbauküche, ein Notrufsystem und befinden sich im Gebäude des Pflegeheims.

4
Dem Betrieb des Pflegeheims liegt ein am 25.9.2003 abgeschlossener Versorgungsvertrag nach § 72 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) über vollstationäre Pflege und Kurzzeitpflege und eine am 26.6.2013 abgeschlossene und bis zum 30.6.2014 gültige Vereinbarung gemäß §§ 84, 85 und 87 SGB XI über die Leistung, Qualität und Vergütung der vollstationären Pflegeleistungen und Kurzzeitpflegeleistungen zugrunde. Ausweislich dieser Vereinbarungen, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, erbringt die Klägerin Leistungen der Kurzzeitpflege und der vollstationären Pflege an Pflegebedürftige im Sinne des SGB XI und betreibt xxx Plätze in der vollstationären Pflege und xxx Plätze der Kurzzeitpflege als eingestreute Plätze innerhalb der vollstationären Pflegeeinrichtung. In den Jahren 2009 bis 2014 entfielen hierbei ausweislich der von Seiten der Klägerin vorgelegten Berechnungen, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen wird, nicht mehr als 10 % der gesamten Belegungstage auf die Bewohner des betreuten Wohnens und Bewohner des Pflegeheims, denen allein die Pflegestufe 0 zuerkannt worden war.

5
Mit den Bewohnern des betreuten Wohnens schloss die Klägerin neben einem Mietvertrag Betreuungsverträge ab, die einem Mustervertrag folgten und diverse Leistungen einer Grundversorgung, einer erweiterten Grundversorgung und Wahlleistungen einschließlich eines insoweit obligatorischen Notrufsystems umfassen. Wegen der Einzelheiten wird auf den von der Klägerin exemplarisch vorgelegten Vertrag verwiesen. Die Leistungen wurden durch das im Pflegeheim eingesetzte Personal erbracht. Buchhalterisch verbuchte die Klägerin die Entgelte für im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Dienstleistungen auf dem Konto Nr. 5222 (2009-2011) bzw. Nr. 4910 (2011-2014) und für Speisen und Getränke auf dem Konto Nr. 5556 (2009-2011) bzw. Nr. 4920 (2011-2014); wegen der Einzelheiten wird auf den klägerischen Schriftsatz vom 6.1.2022 Bezug genommen.

6
Die Klägerin erklärte für die Jahre 2009 und 2010 zunächst unter Verweis auf die Kleinunternehmerregelung des § 19 des Umsatzsteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (UStG) eine Umsatzsteuer i.H. von jeweils 0,00 € an. Mit Steueranmeldungen vom 5.2.2013 und vom 7.2.2013 meldete die Klägerin für die Jahre 2009 bis 2012 jeweils eine positive, festzusetzende Umsatzsteuer an. Mit weiteren ab dem 14.1.2014 eingereichten Umsatzsteueranmeldungen kehrte die Klägerin für das Jahr 2012 zur Anwendung der Kleinunternehmerregelung zurück und erklärte für die Jahre 2013 und 2014 erstmals eine festzusetzende Umsatzsteuer i.H. von jeweils 0,00 €. Dem folgend beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 9.4.2014 (Eingang: 11.4.2014) unter Beifügung entsprechender Umsatzsteuererklärungen auch für die Jahre 2009 bis 2011, die Umsatzsteuer jeweils auf einen Betrag i.H. von 0,00 € festzusetzen. Zur Begründung führte die Klägerin an, die im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Umsätze seien steuerfrei. Bei den Leistungen des betreuten Wohnens handele es sich um eng mit der Pflege und Betreuung hilfsbedürftiger Personen zusammenhängende Leistungen.

7
Beginnend im August 2014 führte der Beklagte bei der Klägerin eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung durch. Ausweislich des Berichtes der Umsatzsteuer-Sonderprüfung vom 3.9.2014 seien die im Zusammenhang mit dem betreuten Wohnen erbrachten Umsätze der Klägerin, die betreffend die erbrachten Dienstleistungen (ohne Vermietungsleistungen) und die geleistete Verpflegung auf jeweils einem Konto verbucht würden, insgesamt nicht steuerfrei. Soweit die Klägerin auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8.6.2011 XI R 22/09 verweise, sei dieses nicht über den entschiedenen Streitfall hinaus anzuwenden.

8
Dem folgend lehnte der Beklagte eine Änderung der Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 mit Bescheid vom 8.9.2014 ab und setzte die Umsatzsteuer 2013 mit Bescheid vom 18.6.2015 und die Umsatzsteuer 2014 mit Bescheid vom 23.5.2016 abweichend von den Erklärungen der Klägerin fest.

9
Die Klägerin legte gegen die Ablehnung der Änderung der Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 am 6.10.2014, gegen den Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 18.6.2015 am 13.7.2015 und gegen den Umsatzsteuerbescheid 2014 vom 23.5.2016 am 14.6.2016 Einspruch ein. Der Beklagte erließ am 7.8.2015 einen geänderten Umsatzsteuerbescheid (Teilabhilfebescheid) für 2013, in dem er aus den zuvor als Nettoumsätzen behandelten Beträge, bei denen es sich tatsächlich um Bruttoentgelte handelte, die Umsatzsteuer herausrechnete. Der Beklagte wies im Übrigen die Einsprüche mit Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 als unbegründet zurück.

10
Dagegen hat die Klägerin am 19.11.2018 Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, die Umsätze aus dem betreuten Wohnen seien steuerfrei, soweit sie gegenüber hilfsbedürftigen Personen erbracht würden. Die Bewohner B1, B2, B3, B4, B5, B6, B7, B8, B9 und B10 seien als hilfsbedürftig anzusehen, weil diese in unterschiedlichem Maße auf regelmäßig wiederkehrende Hilfe zur Bewältigung des Alltags angewiesen gewesen seien. Nicht erforderlich sei eine Pflegebedürftigkeit, die Hilfsbedürftigkeit reiche darüber hinaus. Entsprechend könne sich die Hilfsbedürftigkeit beispielsweise auch darin zeigen, dass eine Person einen Rollator oder Rollstuhl zur Fortbewegung benötige oder unter einer Sehbehinderung oder psychischen Erkrankung leide. In diesem Sinne bilde das Beziehen einer Wohnung des betreuten Wohnens ebenso ein erstes deutliches Indiz für das Vorliegen einer Hilfsbedürftigkeit. Wenngleich den Personen ein möglichst selbständiges Leben ermöglicht werden solle, seien die Wohnungen mit Blick auf den bereits bestehenden Hilfsbedarf auch darauf ausgelegt, von Personen, die auf Hilfsmittel wie Rollatoren oder Rollstühle angewiesen seien, bewohnt zu werden. Ziel der Bewohner sei es, im Bedarfsfall jederzeit Hilfestellungen zu erhalten. Dass es sich bei der Hilfsbedürftigkeit um ein sich graduell entwickelndes Merkmal handele, belege auch die Abstufung des Pflegebedarfs nach §§ 14, 15 SGB XI der in den Streitjahren maßgeblichen Fassung. Dass § 15 SGB XI aF erst bei Überschreiten einer gewissen Hürde, dem Erreichen der Pflegestufe I, von einer Pflegebedürftigkeit ausgehe, sei für das Umsatzsteuerrecht jedoch unerheblich. Schließlich sei das Alter der Bewohner zu berücksichtigen. Dieses liege zwischen 70 und 93 Jahren. Dabei sei es allgemein bekannt, dass Menschen ab einem Alter von 65 Jahren deutlich vermehrt auf Hilfestellungen im Alltag angewiesen seien.

11
Bei den im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen handele es sich auch um eng mit der Betreuung oder Pflege hilfsbedürftiger Personen verbundene Leistungen. Sämtliche Leistungen, die nach dem Betreuungsvertrag im Zuge des betreuten Wohnens erbracht würden und die ein einheitlich zu beurteilendes Leistungsbündel bildeten, unterfielen der Altenhilfe nach § 71 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und könnten damit von den Sozialhilfeträgern vergütet werden. Soweit den Bewohnern eine Pflegestufe zuerkannt sei, seien die Leistungen auch im Rahmen des Pflegegeldes deckungsfähig. Ob tatsächlich eine Kostenübernahme erfolge oder nicht, sei demgegenüber unerheblich.

12
Die Klägerin qualifiziere auch als Einrichtung mit sozialem Charakter. Sie habe als Pflegeheim der Kurzzeitpflege und der vollstationären Pflege Vergütungsvereinbarungen nach dem SGB XI abgeschlossen und erbringe in diesem Rahmen als Einrichtung mit sozialem Charakter steuerfreie Leistungen im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. c) UStG. Es bestehe eine räumliche Nähe zwischen dem Pflegeheim und dem betreuten Wohnen, die Wohnungen des betreuten Wohnens befänden sich im gleichen Gebäude, es handele sich um eine zusammenhängende Einrichtung. Die Leistungen unterfielen insoweit auch nicht § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG, da es sich um Leistungen im Sinne des § 71 SGB XII handele, deren Kosten von den Sozialhilfeträgern übernommen werden könnten. Soweit im Einzelfall im Rahmen des betreuten Wohnens eine Hilfsbedürftigkeit der Bewohner fehle, sei dies unbeachtlich, da dies nicht mehr als 10% der Fälle betreffe.

13
Darüber hinaus handele es sich bei der Klägerin auch um eine Einrichtung, bei der die Betreuungs- oder Pflegeleistungen zu mindestens 40 % bzw. ab dem 1.7.2013 zu mindestens 25 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden seien. In die Berechnung seien die Leistungen des Pflegeheims einzubeziehen. Ausgehend hiervon liege der Anteil der Belegungstage, der auf Personen entfalle, die weder Leistungen der Pflegekasse noch des Sozialamtes erhalten hätten, zwischen 8% und 10%. Unabhängig hiervon handele es sich bei diesem Schwellenwert ohnehin um eine nach dem Unionsrecht unzulässige Voraussetzung.

14
Schließlich könne sich die Klägerin auch unmittelbar auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (Mehrwertsteuersystemrichtlinie ‒ MwStSystRL ‒) und eine hieraus folgende Steuerfreiheit der vorliegend strittigen Leistungen berufen.

15
Die Klägerin beantragt,

16
den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 8.9.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018 zu verpflichten, die Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2011 vom 5.2.2013 und den Umsatzsteuerbescheid 2012 vom 7.2.2013 dahingehend zu ändern, dass die Umsatzsteuer 2009 auf 2.778,67 €, die Umsatzsteuer 2010 auf 2.726,36 €, die Umsatzsteuer 2011 auf 2.775,63 € und die Umsatzsteuer 2012 auf 2.549,57 € festgesetzt wird, und

17
den Umsatzsteuerbescheid 2013 vom 7.8.2015 und den Umsatzsteuerbescheid 2014 vom 23.5.2016, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018, dahingehend abzuändern, dass die Umsatzsteuer 2013 auf 3.174,75 € und die Umsatzsteuer 2014 auf 3.182,52 € festgesetzt wird.

18
Der Beklagte beantragt,

19
die Klage abzuweisen.

20
Der Beklagte meint, die seitens der Klägerin im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen seien nicht von der Umsatzsteuer befreit. Es sei nicht zu erkennen, dass die Klägerin die Betreuungsleistungen im Rahmen des betreuten Wohnens an hilfsbedürftige Personen erbringe. Der Hilfsbedarf im Sinne des § 4 Nr. 16 UStG ergebe sich insbesondere aus den §§ 14, 15 SGB XI, d.h. aus dem Bestehen einer Pflegestufe. Die Hilfsbedürftigkeit sei für jeden Bewohner festzustellen und beleg- und buchmäßig nachzuweisen. Entsprechende Nachweise seien nicht erbracht worden. Allein eine Schwerbehinderung führe nicht zu einer Hilfsbedürftigkeit, hierfür sehe das Schwerbehindertenrecht das Merkzeichen „H“ vor. Ebenso wenig sei auf Grund der Nutzung eines Rollators, das Bestehen einer Krankheit oder auf Grund eines gewissen Alters zwingend von einer Pflege- oder Hilfsbedürftigkeit auszugehen. Vorgelegten Berichten über erbrachte Leistungen könne ebenfalls keine Hilfsbedürftigkeit entnommen werden. Eine Pflegestufe sei nur für einzelne Bewohner nachgewiesen. Es sei jedoch nicht zu erkennen, welche Umsätze in diesem Rahmen erbracht worden seien. Bewohner des betreuten Wohnens seien schließlich nicht typischerweise hilfsbedürftig, sondern führten mit geringfügigen Hilfen ein weitgehend unabhängiges Leben.

21
Die von der Klägerin erbrachten Leistungen zählten nicht zu den steuerbefreiten Leistungen. Die Steuerbefreiung erfasse insbesondere Leistungen der ambulanten Pflege. Solche Leistungen umfasse die von der Klägerin angebotene Grundversorgung jedoch gerade nicht. Vielmehr biete die Klägerin ein Beratungsangebot an, ohne jedoch die ambulante Pflege zu übernehmen.

22
Es sei auch nicht zu erkennen, dass die Klägerin die Betreuungsleistungen als Einrichtung mit sozialem Charakter im Sinne der Steuerbefreiung erbringe. Soweit die Klägerin ein Pflegeheim betreibe und demgemäß eine Einrichtung mit sozialem Charakter nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. c) UStG sei, erfasse dies allein die in diesem Rahmen erbrachten Leistungen der vollstationären Pflege und Kurzzeitpflege, nicht aber die Leistungen des betreuten Wohnens. Zwar sei es nach der Verwaltungsauffassung auch nicht zu beanstanden, wenn Pflege- oder Betreuungsleistungen in stationären Einrichtungen in 10 % der Fälle auch an nicht hilfsbedürftige Personen erbracht würden. Vorliegend sei aber weder ein derart geringer Umfang noch eine Erbringung der Leistungen des betreuten Wohnens innerhalb der stationären Einrichtung dargelegt. Die Klägerin habe eine etwaige räumliche Verflechtung dieser Bereiche etwa durch Lagepläne zu substantiieren.

23
Die Klägerin qualifiziere auch nicht deshalb als Einrichtung mit sozialem Charakter, weil die von ihr im vorangegangenen Kalenderjahr erbrachten Betreuungs- oder Pflegeleistungen zu mindestens 40 % bzw. ab dem 1.7.2013 zu mindestens 25 % der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden wären. Die Einrichtung des betreuten Wohnens und das Pflegeheim seien insoweit getrennt zu beurteilen, es handele sich nicht um eine gemeinsame Einrichtung. Mangels entsprechender Darlegungen sei jedoch nicht festzustellen, dass diese Voraussetzungen bei der Klägerin erfüllt seien. Weder seien jenseits des vorgelegten Muster-Betreuungsvertrages der Inhalt und Umfang der im Einzelnen erbrachten Betreuungsleistungen bekannt noch sei dargelegt, wie die erbrachten Leistungen abgerechnet worden seien. Auch sei nicht nachvollziehbar geworden, dass die Leistungen einer Kostenübernahme zugänglich gewesen seien. Lediglich für das Hausnotrufsystem sei in einem Einzelfall eine Kostenübernahme erfolgt. Der vom Gesetzgeber herangezogene Schwellenwert sei auch weder unions- noch verfassungswidrig.

24
Die Klägerin könne sich auch nicht unmittelbar auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL berufen. Die Richtlinienbestimmung sei nicht unmittelbar anwendbar, das Richtlinienrecht eröffne dem nationalen Gesetzgeber in Artt. 133, 134 MwStSystRL einen Umsetzungsspielraum. Es obliege damit allein dem nationalen Gesetzgeber, die Regelungen für die erforderliche Anerkennung der Einrichtungen festzulegen. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gebiete eine Steuerfreiheit der von der Klägerin erbrachten Leistungen nicht. Bereits die Vergleichbarkeit der Leistungen sei mangels Darlegung der Leistungsinhalte nicht zu erkennen.

25
Das von der Klägerin angeführte Urteil des Bundesfinanzhofes vom 8.6.2011, XI R 22/09, sei schließlich nicht auf den Streitfall zu übertragen.

26
Der Senat hat in der Sache am 25.1.2022 mündlich verhandelt. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.

27
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die übersandten Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

28

Entscheidungsgründe:

29
I. Die Klage ist begründet. Der Ablehnungsbescheid hinsichtlich des Antrags auf Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen 2009 bis 2012 vom 8.9.2014, der Umsatzsteuerbescheid für 2013 vom 7.8.2015 und der Umsatzsteuerbescheid für 2014 vom 23.5.2016, jeweils in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.10.2018, sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, §§ 101, 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO), soweit der Beklagte in den Streitjahren einen Teil der gegenüber einzelnen Bewohnern des betreuten Wohnens erbrachten Umsätze entgegen § 4 Nr. 16 UStG als steuerpflichtig behandelt hat.

30
1. Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen sind gemäß § 4 Nr. 16 UStG in den in den Streitjahren maßgeblichen Fassungen die eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelische hilfsbedürftiger Personen verbundenen Leistungen steuerfrei, die von juristischen Personen des öffentlichen Rechts, § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. a) UStG, oder Einrichtungen im Sinne der § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. b) bis k) UStG (mit Wirkung vom 1.7.2013: bis Buchst. l) UStG) erbracht werden. Nach § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG sind Leistungen im Sinne des Satzes 1, die von Einrichtungen nach den Buchst. b) bis k) bzw. l) erbracht werden, befreit, soweit es sich ihrer Art nach um Leistungen handelt, auf die sich die Anerkennung, der Vertrag oder die Vereinbarung nach Sozialrecht oder die Vergütung jeweils bezieht.

31
§ 4 Nr. 16 UStG beruht auf Artt. 132 Abs. 1 Buchst. g), 134 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen, die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden. Die Befreiungsvorschrift dient dem Zweck, die Kosten der Sozialleistungen zu senken und damit, neben den Sozialversicherungsträgern als Kostenträgern für ihre Versicherten, typisierend auch die selbstzahlenden Leistungsempfänger zu entlasten. Dabei sind nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die Begriffe, mit denen die in Art. 132 MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen (statt vieler Europäischer Gerichtshof ‒ EuGH ‒, Urteil vom 8.10.2020 C-657/19 ‒ Finanzamt D ‒, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‒ HFR ‒ 2020, 1205, mit weiteren Nachweisen).

32
Für die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 UStG müssen mehrere Voraussetzungen vorliegen. Die Leistungen müssen gegenüber dem in § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG genannten Personenkreis (nachfolgend unter 2.) erbracht werden, sie müssen eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen verbunden sein (3.) und von einer begünstigten Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. a) bis k) bzw. l) UStG erbracht werden, die die Leistungen nach § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG im Rahmen ihrer Anerkennung ausführt (4.).

33
2. Die Bewohner des betreuten Wohnens zählen ‒ soweit die Klägerin eine Steuerfreiheit der im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen begehrt ‒ zum Kreis der hilfsbedürftigen Personen im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Hs. 1 UStG.

34
a) Hilfsbedürftig im Sinne des 4 Nr. 16 Satz 1 UStG sind Personen, die aufgrund ihres körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes der Betreuung und Pflege bedürfen, weil sie krank, behindert oder von einer Behinderung bedroht sind (BT-Drucksache 16/11108, Seite 37; FG Münster, Urteil vom 25.2.2020 15 K 2427/17 U, Entscheidungen der Finanzgericht ‒ EFG ‒ 2020, 811). Unter Berücksichtigung des Normzwecks, eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen von der Umsatzsteuer zu befreien, ist auch der Begriff der Hilfsbedürftigkeit aus Sicht des Senats in Anlehnung an die sozialrechtliche Definition zu verstehen und erfordert einen Grundpflegebedarf bzw. Bedarf nach Haushaltshilfe gem. § 14 SGB Xl und § 61a SGB XII, eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz gem. § 45a SGB Xl oder altersbedingte Schwierigkeiten, die eine Hilfsbedürftigkeit im Sinne der Altenhilfe nach § 71 SGB XII begründen. Einer besonderen Schwere, die nach § 15 SGB XI für die Feststellung einer Pflegestufe bzw. eines Pflegegrades erforderlich ist, bedarf es jedoch nicht (vgl. zu § 4 Nr. 16 UStG aF BFH-Urteil vom 19.3.2013 XI R 45/10, Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen ‒ BFHE ‒ 241, 79). Diesem Verständnis der Hilfsbedürftigkeit entspricht es, dass der Gesetzgeber den Begriff der sozialen Einrichtung im Rahmen des Auffangtatbestandes des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG an eine überwiegende Kostentragung seitens der gesetzlichen Träger der Sozialversicherung, der Sozialhilfe, der Eingliederungshilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge knüpft.

35
b) Ausgehend hiervon hat die Klägerin für die Bewohner B1, B2, B3, B4, B5, B6, B7, B8, B9 und B10 eine Hilfsbedürftigkeit in den Streitjahren hinreichend dargelegt, sodass entgegen der Ansicht des Beklagten auf die Vorlage weiterer individueller Nachweise wie Arztberichte u.ä. verzichtet werden konnte. Denn bereits auf Grund der umfangreichen und substantiierten Darlegungen der Klägerin steht für diesen Personenkreis zur Überzeugung des erkennenden Senats fest, dass diese Personen der Betreuung und Pflege bedürfen, weil sie an altersbedingten Einschränkungen der Alltagskompetenzen leiden. So legt die Klägerin unter anderem dar, dass teils eine Pflegestufe zuerkannt wurde, erhebliche Einschränkungen des Bewegungsapparates bestehen, die die Benutzung eines Rollators oder Rollstuhls erforderlich machen, oder eine fortwährende Alkoholabhängigkeit festzustellen ist, die Ausdruck oder in Zusammenschau mit dem Alter der betreffenden Bewohner zu altersbedingten Einschränkungen der Alltagskompetenzen führen. Die Folgen dieser altersbedingten Einschränkungen der Alltagskompetenzen finden aus Sicht des Senats Niederschlag in den seitens der Klägerin vorgelegten Pflegeberichten, in denen die Klägerin den Umfang der Pflege- und Betreuungsleistungen detailliert niedergelegt hat. Für den Senat besteht auf Grund dieser Darlegungen unter Berücksichtigung der anzulegenden sozialrechtlichen Maßstäbe insbesondere auch keinerlei Anlass anzunehmen, dass die Einschränkungen derart bedeutungslos sind, dass sie nicht zumindest in sämtlichen vorgenannten Fällen als altersbedingte Schwierigkeiten im Sinne der Altenhilfe nach § 71 SGB XII anzusehen sind (vgl. Bundessozialgericht ‒ BSG ‒ Urteil vom 24.2.2016 B 8 SO 11/14 R, Sammlung amtlich veröffentlichter Entscheidungen ‒ BSGE ‒ 121, 12).

36
3. Soweit die Klägerin eine Steuerfreiheit der von ihr gegenüber hilfsbedürftigen Personen erbrachten Leistungen des betreuten Wohnens begehrt, zählen die Leistungen der Klägerin zu den eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen verbundenen Leistungen.

37
a) Zu den eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen verbundenen Leistungen gehören diejenigen Leistungen, die für die Umsätze im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlich sind und deren Belastung mit Umsatzsteuer daher zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der genannten Umsätze zu erhöhen. Entsprechend der Systematik des § 4 Nr. 16 UStG sind aus Sicht des erkennenden Senats solche Leistungen für den Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlich, die nach den sozialrechtlichen Bestimmungen mit dem Betrieb der in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. b) bis k) bzw. l) UStG bezeichneten Einrichtungen einhergehen. Ausgehend hiervon hat die Rechtsprechung insbesondere die Leistungen der ambulanten Pflege, namentlich die hauswirtschaftliche Versorgung, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung und das Waschen der Kleidung, die Gestellung einer Haushaltshilfe, Leistungen der Kinderbetreuung, Legasthenie-Behandlungen im Rahmen der Eingliederungshilfe, Betreuungsleistungen und die Bereitstellung eines Haus-Notruf-Dienstes als unerlässlich angesehen (BFH-Urteile vom 21.4.2021 XI R 31/20 (XI R 34/18), Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH ‒ BFH/NV ‒ 2021, 1313; vom 7.12.2016 XI R 5/15, BFHE 256, 550, BFH/NV 2017 863; vom 1.12.2010 XI R 46/08, BFHE 232, 232, BFH/NV 2011, 712, jeweils mit weiteren Nachweisen). Dem vorstehenden Leistungskatalog entspricht es, dass nach der Rechtsprechung die im Rahmen des Betrieb eines Heims für betreutes Wohnen erbrachten Leistungen grundsätzlich zu den eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen zählen (EuGH-Urteile vom 21.1.2016 C-335/14 ‒ Les Jardins de Jouvence ‒ , HFR 2016, 287; vom 26.5.2005 C-498/03 ‒ Kingscrest Associates und Montecello ‒ , HFR 2005, 915; BFH-Urteil vom 8.6.2011 XI R 22/09, BFHE 234, 448, HFR 2011, 1132).

38
b) Ausgehend von den vorstehenden Maßstäben ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass die von der Klägerin im Rahmen der mit den hilfsbedürftigen Bewohnern des betreuten Wohnens abgeschlossenen Betreuungsverträge erbrachten Leistungen mit Ausnahme der Wahlleistung für die Bereitstellung eines Telefonanschlusses, deren Steuerfreiheit die Klägerin auch nicht begehrt, zu den eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Leistungen zählen. Denn mit den jeweils gegen ein gesondertes Entgelt erbrachten Leistungen der Grundversorgung und der erweiterten Grundversorgung sowie den einzeln bestimmbaren entgeltlichen Wahlleistungen bietet die Klägerin den Bewohnern des betreuten Wohnens ein breites Angebot an der ambulanten Pflege zugehörigen Leistungen an, die zu der Altenhilfe im Sinne des § 71 SGB XII zu zählen sind. Die von der Klägerin erbrachten Leistungen sind in diesem Sinne auf die Unterstützung und Betreuung von Senioren ausgerichtet und zielen darauf ab, Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, zu verhüten, zu überwinden oder zu mildern und den Bewohnern die Möglichkeit zu erhalten, am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Das Leistungsspektrum der Klägerin umfasst vor diesem Hintergrund zahlreiche verschiedene Betreuungsleistungen im Rahmen der ambulanten Pflege, die im Rahmen eines spezifischen Beratungsangebotes zuvorderst auf die Koordinierung pflegerischer Leistungen und die sozio-kulturelle Teilhabe der Bewohner zur Verhinderung einer alterstypischen Vereinsamung gerichtet sind, aber auch die Bereitstellung eines Notrufdienstes und bedarfsweise die kurzfristige Übernahme pflegerischer Leistungen, die hauswirtschaftliche Versorgung, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung und das Waschen der Kleidung umfassen. Soweit dieses Leistungsspektrum Leistungen umfasst, die auch der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dienen (vgl. BFH-Urteil vom 1.12.2010 XI R 46/08, BFHE 232, 232, BFH/NV 2011, 712), berücksichtigt der Senat, dass diese Leistungen durch den Betreuungsvertrag und die Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls eng mit der Betreuung und Pflege der Bewohner verbunden werden. Sie sind dem entsprechend anders als andere Leistungsangebote zur Befriedigung dieser Grundbedürfnisse spezifisch auf die Behebung altersspezifischer Einschränkungen gerichtet und werden hierdurch geprägt. Dies zeigt sich für den erkennenden Senat insbesondere darin, dass die Leistungen durch das im Pflegeheim eingesetzte und hierfür geschulte Personal sowie insbesondere auch in den Gemeinschaftseinrichtungen und im Rahmen gemeinsamer Angebote für das Pflegeheim und die Bewohner des betreuten Wohnens erbracht werden. Soweit der Beklagte dieser Einordnung hinsichtlich der Bereitstellung eines spezifischen Beratungsangebotes entgegen tritt, ist dem angesichts des Leistungskatalogs der Altenhilfe nach § 71 Abs. 2 SGB XII nicht zu folgen, demgemäß derartige Beratungsleistungen, wie sie von der Klägerin aus Sicht des Senats angeboten werden, ausdrücklich zu den Leistungen der Altenhilfe zählen.

39
4. Schließlich erbringt die Klägerin die von ihr gegenüber den hilfsbedürftigen Bewohnern erbrachten Leistungen des betreuten Wohnens auch als anerkannte Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 UStG. Denn die Klägerin ist insoweit als Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG anzusehen und bei den Leistungen des betreuten Wohnens handelt es sich der Art nach um Leistungen, auf die sich die Qualifikation der Klägerin nach § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG bezieht, § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG.

40
a) Dabei kann unentschieden bleiben, ob dem Beklagten im Ergebnis darin zuzustimmen ist, dass sich die Klägerin im Zusammenhang mit den hier streitigen Leistungen nicht auf ihre Qualifikation als Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. c) UStG berufen kann. Es bedarf insoweit keiner Entscheidung, ob es sich ‒ wie die Klägerin geltend macht und wofür insbesondere die Leistungserbringung durch die Mitarbeiter des Pflegeheims streitet ‒ bei den im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen ihrer Art nach um Leistungen handelt, auf die sich der von der Klägerin abgeschlossene Versorgungsvertrag vom 25.9.2003 über die Versorgung im Rahmen der vollstationären Pflege und Kurzzeitpflege bezieht, § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG (vgl. zu diesem Erfordernis BFH-Urteil vom 24.3.2021 V R 1/19, BFHE 272, 547, HFR 2021, 1034).

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b) Die Klägerin ist nämlich jedenfalls auf Grund der im Rahmen des betreuten Wohnens gegenüber den hilfsbedürftigen Bewohnern erbrachten Leistungen als Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) (mit Wirkung vom 1.7.2013: Buchst. l) UStG anzusehen und erbringt diese Leistungen im Rahmen der durch die Vergütung vermittelten Anerkennung, § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG.

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aa) Nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG sind die eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelisch hilfsbedürftiger Personen verbundenen Leistungen solcher Einrichtungen steuerbefreit, bei denen im vorangegangenen Kalenderjahr die Betreuungs- oder Pflegekosten in mindestens 40 % der Fälle (mit Wirkung vom 1.7.2013: 25 %) von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe oder der für die Durchführung der Kriegsopferversorgung zuständigen Versorgungsverwaltung einschließlich der Träger der Kriegsopferfürsorge ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet worden sind.

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Ob im vorangegangenen Kalenderjahr Betreuungs- oder Pflegekosten in mindestens 40 % bzw. 25 % der Fälle im Sinne von § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil vergütet wurden, entscheidet sich nach Maßgabe sozialversicherungsrechtlicher Regelungen (hierzu und dem folgenden BFH-Urteil vom 3.8.2017 V R 52/16, BFHE 259, 160, HFR 2018, 239). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass diese Vorschrift dem leistenden Unternehmer die Anwendung der Steuerfreiheit ermöglichen will und daher unter praktikablen Bedingungen anwendbar sein muss. Dies gilt umso mehr, als die Inanspruchnahme der Steuerfreiheit gerade in den Fällen ermöglicht werden soll, in denen es an unmittelbaren Vertragsbeziehungen zu z.B. Sozialversicherungsträgern, wie nach § 4 Nr. 16 Satz 1Buchst. b) ff. UStG vorausgesetzt, fehlt. Daher ist § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG insbesondere dann anzuwenden, wenn der Unternehmer die Erstattung der Kosten, die seinen Leistungsempfängern aufgrund seiner Leistung entstanden sind, durch Sozialversicherungsträger konkret nachweisen kann. Darüber hinaus kann die in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG vorgesehene Vergütungsbedingung aber auch in anderer Weise nachgewiesen werden. Steht z.B. fest, dass die Empfänger der durch den Unternehmer erbrachten Leistungen aufgrund der Zuerkennung eines Pflegegrades nach § 15 SGB XI zum Leistungsbezug nach §§ 28, 28a SGB XI berechtigt sind, kann für diese Leistungsempfänger in dem hierdurch vermittelten Rahmen eine Kostentragung durch die Pflegekassen als Sozialversicherungsträger unterstellt werden, zumal für Buchst. k) bzw. l) keine ausschließliche Vergütung durch den Sozialversicherungsträger erforderlich ist.

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bb) Hiernach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen der Klägerin in den Kalenderjahren 2008 bis 2013 in mehr als 40 % der Fälle überwiegend von den Trägern der Sozialversicherung und der Sozialhilfe vergütet worden sind. Ausweislich der seitens der Klägerin vorgelegten Liste der Bewohner des betreuten Wohnens in den Jahren 2009 bis 2014, die auch das Einzugs- und Auszugsdatum der Bewohner bezeichnet und damit hinreichende Feststellungen für das Kalenderjahr 2008 ermöglicht, zählen in den Kalenderjahren 2008 bis 2012 jedenfalls mehr als 40 % und in dem Kalenderjahr 2013 jedenfalls mehr als 30 % der Bewohner des betreuten Wohnens zum Kreis der aus Sicht des Senats hilfsbedürftigen Personen (dazu bereits unter 2.). Aus Sicht des Senats kann für diesen Personenkreis und damit für mehr als 40 % der Fälle unter Berücksichtigung der von der Klägerin mit Schriftsatz vom 6.1.2022 vorgelegten Umsatzübersichten auch ohne (den aus Sicht des Beklagten in jedem Einzelfall erforderlichen, buch- und belegförmig zu führenden) konkreten Nachweis der Vergütung der Kosten für die von der Klägerin erbrachten Leistungen davon ausgegangen werden, dass die Kosten für die von der Klägerin im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen von den Trägern der Sozialversicherung und der Sozialhilfe zu einem überwiegenden Teil vergütet worden sind. Denn zum einen war bei einem Teil des Kreises der hilfsbedürftigen Personen für den Zeitraum des Bewohnens einer Wohnung des betreuten Wohnens, namentlich bei B3, B4, B6, B7, B8, B10 und ab dem 1.6.2012 bei B1, eine Pflegestufe festgestellt worden. Auf Grund dieser Pflegestufe ist der genannte Personenkreis ‒ wie auch die Klägerin in der mündlichen Verhandlung betont hat ‒ zum Leistungsbezug nach §§ 36 ff. SGB XI in der in den Streitjahren maßgeblichen Fassung berechtigt gewesen und konnte hiernach eine Kostendeckung für eine Vielzahl der von der Klägerin erbrachten Leistungen beanspruchen, sodass aus Sicht des Senats für Zwecke des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG eine überwiegende Kostentragung durch die Pflegekassen als Träger der Sozialversicherung zur Überzeugungsgewissheit unterstellt werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 3.8.2017 V R 52/16, BFHE 259, 160, HFR 2018, 239). Zum anderen beruht die Hilfsbedürftigkeit der Bewohner des betreuten Wohnens im vorliegenden Fall auf altersspezifischen Schwierigkeiten im Sinne des § 71 SGB XII, die zum Bezug von Leistungen der Altenhilfe nach § 71 SGB XII berechtigen. Dem Leistungsumfang nach umfasst die Altenhilfe gemäß § 71 SGB XII sämtliche Leistungen, die zum Ausgleich altersspezifischer Schwierigkeiten angezeigt sind, soweit eine Leistungsgewährung nicht bereits nach anderen Vorschriften erfolgt (BSG-Urteil vom 24.2.2016 B 8 SO 11/14 R, BSGE 121, 12). Aus Sicht des Senats betreffen sämtliche von der Klägerin im Rahmen des Betreuungsvertrages erbrachten Leistungen ‒ entsprechend dem Prinzip des betreuten Wohnens ‒ derartige altersspezifische Bedarfe, die der Überwindung altersspezifischer Schwierigkeiten bei der Bestreitung des täglichen Lebens dienen. Infolgedessen kann aus Sicht des Senats auch insoweit davon ausgegangen werden, dass jedenfalls in einem für die Gewährung der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG hinreichendem Umfang eine Vergütung der Kosten durch die Träger der Sozialhilfe erfolgt.

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cc) Da die von der Klägerin im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen zu ihrer Anerkennung als Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG führen, handelt es sich bei den entsprechenden Leistungen auch um solche, auf die sich die Vergütung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG bezieht.

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dd) Angesichts dessen kann offen bleiben, ob das von der Klägerin betriebene Pflegeheim und die Wohneinheiten des betreuten Wohnens als eine gemeinsame Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 16 Satz 1 UStG zu betrachten sind, in dessen Folge die in § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG enthaltenen Schwellenwerte in den Kalenderjahren 2008 bis 2013 bereits deshalb erfüllt wären, weil ausweislich der von der Klägerin vorgelegten Übersicht auf die Bewohner der Pflegestufe 0 und die Bewohner des betreuten Wohnens in den Kalenderjahren 2009 bis 2014 nicht mehr als 10 % der Belegungstage entfielen, für die übrigen Bewohner des Pflegeheims, denen hiernach mindestens die Pflegestufe I zuerkannt war, eine überwiegende Vergütung der Kosten durch die Pflegekassen unterstellt werden kann und keinerlei Anhaltspunkte dafür bestehen, dass dies nicht auch bereits im Kalenderjahr 2008 der Fall gewesen ist.

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5. Da die Leistungen der Klägerin im Zusammenhang mit dem betreuten Wohnen bereits nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG steuerbefreit sind, braucht der Senat auch nicht abschließend darüber zu befinden, ob § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG im vorliegenden Zusammenhang mit dem Unionsrecht unvereinbar ist und die Leistungen der Klägerin aus dem betreuten Wohnen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g) MwStSystRL (vgl. zur unmittelbaren Anwendbarkeit das BFH-Urteil vom 21.4.2021 XI R 31/20 (XI R 34/18), BFH/NV 2021, 723 m.w.N.) steuerfrei wären (vgl. für die Vorgängerregelung der Richtlinie 77/388/EWG im Zusammenhang mit Leistungen des betreuten Wohnens BFH-Urteil vom 8.6.2011 XI R 22/09, BFHE 234, 448, HFR 2011, 1132).

48
5. Auf Grund der in dem vorbezeichneten Umfang bestehenden Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 16 Satz 1 Buchst. k) bzw. l) UStG ist der Beklagte in den Streitjahren 2009 bis 2012 gemäß § 101 Satz 1 FGO zu verpflichten, die Umsatzsteuerbescheide 2009 bis 2012 nach § 164 Abs. 2 Satz 2 AO zu ändern und die Umsatzsteuer 2009 auf 2.778,67 €, die Umsatzsteuer 2010 auf 2.726,36 €, die Umsatzsteuer 2011 unter erstmaliger Berücksichtigung der auf dem Konto Nr. 5556 gebuchten Umsätze auf 2.775,63 € und die Umsatzsteuer 2012 auf 2.549,57 € festzusetzen. In den Streitjahren 2013 und 2014 ist die Umsatzsteuer auf Grund der teilweisen Steuerfreiheit der von der Klägerin im Rahmen des betreuten Wohnens erbrachten Leistungen auf 3.174,75 € (Umsatzsteuer 2013) und auf 3.182,51 € (Umsatzsteuer 2014) festzusetzen, § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO.

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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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IV. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO liegen nicht vor.

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