09.01.2024 · IWW-Abrufnummer 239016
Hessisches Landesarbeitsgericht: Beschluss vom 03.11.2023 – 16 TaBV 72/23
1. Anders als § 5 BetrVG knüpft § 177 Absatz 2 SGB IX nicht an den Arbeitnehmerbegriff, sondern an den Begriff des "Beschäftigten" an. Eine Beschäftigung setzt ein Arbeitsverhältnis nicht zwingend voraus.
2. Behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten, die gemäß § 221 Absatz 1 SGB IX , wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu diesem in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen, sind damit - auch wenn sie einen Werkstattrat wählen - gleichwohl im Betrieb beschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne von § 177 Absatz 2 SGB IX .
3. Der Umstand, dass behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten durch Werkstatträte mitbestimmen, macht eine Interessenwahrnehmung durch die Schwerbehindertenvertretung nicht entbehrlich.
Tenor:
Die Beschwerde des Beteiligten zu 6 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 1. März 2023 - 14 BV 1059/22 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Anfechtung der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung.
Die Antragsteller zu 1 und 2 sowie der Beteiligte zu 5 sind bei dem Beteiligten zu 6 (Arbeitgeber) beschäftigt. Der Antragsteller zu 3 war bis 31. Dezember 2022 beim Arbeitgeber beschäftigt. Die Antragsteller zu 1-3 sind schwerbehindert. Beteiligter zu 4 ist die im Betrieb des Arbeitgebers gewählte Schwerbehindertenvertretung.
Der Arbeitgeber bietet in verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialarbeit Hilfen (ambulante Dienste, teilstationäre Einrichtungen und Wohnstätten) an und beschäftigt etwa 850 Arbeitnehmer. Darüber hinaus bietet er Beschäftigung zur Rehabilitation und beruflichen Teilhabe. Diese Rehabilitanden (insgesamt 200-300 im Betrieb des Arbeitgebers) werden in Werkstätten eingesetzt.
Die Beteiligten sind unterschiedlicher Auffassung darüber, ob die Rehabilitanden wahlberechtigt zur Schwerbehindertenvertretung sind.
Der Wahlvorstand leitete mit Wahlausschreiben vom 6. Oktober 2022 (Bl. 8, 9 der Akte) die Wahl der Schwerbehindertenvertretung am 18. November 2022 ein. Die schwerbehinderten Rehabilitanden setzte er nicht auf die Wählerliste. Deshalb legten die Antragsteller zu 1-3 Widerspruch gegen die Wählerliste ein (Bl. 10-12 der Akte). Unter dem 12. Oktober 2022 wies der Wahlvorstand die Einsprüche zurück (Bl. 16-18 der Akte).
Bei der Wahl der Schwerbehindertenvertretung wurden als Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen der Antragsteller zu 2 mit 42 Stimmen, zum ersten Stellvertreter mit 26 Stimmen der Beteiligte zu 5, zur zweiten Stellvertreterin mit 22 Stimmen die Antragstellerin zu 3 und zum dritten Stellvertreter mit 9 Stimmen der Antragsteller zu 1 gewählt. Das Wahlergebnis wurde am 22. November 2022 bekannt gemacht (Bl. 7 Mitte der Akte).
Mit einem am 1. Dezember 2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz haben die Antragsteller zu 1-3 die Wahl der Schwerbehindertenvertretung angefochten.
Sie haben die Auffassung vertreten, die Wahl sei unwirksam, weil die Rehabilitanden nicht auf die Wählerliste gesetzt wurden. Sie seien gemäß § 177 Abs. 2 SGB IX als "Beschäftigte" wahlberechtigt zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung. Hätten die 200-300 Rehabilitanden mitgewählt, wäre ein anderes Wahlergebnis zumindest möglich gewesen.
Demgegenüber hat der Arbeitgeber gemeint, die Rehabilitanden seien nicht wahlberechtigt für die Schwerbehindertenvertretung, da sie bereits durch einen Werkstattrat gemäß § 222 SGB IX vertreten seien. Hierbei handele es sich um die speziellere Vertretung gegenüber der Schwerbehindertenvertretung.
Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten und der gestellten Anträge wird auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts im Beschluss vom 1. März 2023 unter I. (Bl. 56-58 der Akte) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat die Wahl der Schwerbehindertenvertretung für unwirksam erklärt; wegen der Begründung wird auf die Ausführungen im Beschluss unter II. (Bl. 58-60R der Akte) verwiesen.
Dieser Beschluss wurde dem Arbeitgeber am 28. März 2023 zugestellt, der dagegen am 20. April 2023 Beschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis 28. Juni 2023 am 27. Juni 2023 begründet hat.
Der Arbeitgeber rügt, das Arbeitsgericht habe den Kern der Frage, ob sich behinderte Werkstattbeschäftigte unter den Beschäftigtenbegriff des § 177 Abs. 2 SGB IX subsumieren ließen, verkürzt betrachtet. Zwar lege das Bundesarbeitsgericht den Beschäftigtenbegriff in § 177 SGB IX weit aus, beantworte jedoch nicht die Frage, ob es für schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte eine "doppelte Interessenvertretung" gibt. Es gehe um die Frage, ob die Rehabilitanden im Sinne von § 221 Abs. 1 SGB IX Teil des "Betriebs" im Sinne von §§ 177, 178 SGB IX sind, für den eine Schwerbehindertenvertretung zu wählen ist. Die Interessen der in der Werkstatt beschäftigten behinderten Menschen würden ausschließlich durch den Werkstattrat gemäß § 222 SGB IX vertreten. Eine Gesetzesauslegung ergebe, dass den Rehabilitanden in einer Werkstatt für Behinderte Menschen kein Wahlrecht zur Schwerbehindertenvertretung zustehe. Die Gesetzessystematik spreche für eine ausschließliche Zuständigkeit des Werkstattrats und gegen ein Doppelwahlrecht auch zur Schwerbehindertenvertretung. Die Aufgaben des Werkstattrats und der Schwerbehindertenvertretung seien weitgehend identisch. Für eine ausschließliche Vertretung durch den Werkstattrat spreche auch, dass dieser weiter gehende Kompetenzen als die Schwerbehindertenvertretung besitze.
Der Arbeitgeber legt eine Veröffentlichung der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e. V. vom 5. April 2004 vor (Bl. 121 der Akte), aus der sich folgendes ergibt:
Der Arbeitgeber beantragt,
Die Antragsteller beantragen,
Sie verteidigen die Entscheidung des Arbeitsgerichts als zutreffend. Der Beschäftigtenbegriff des § 177 SGB IX erfasse auch schwerbehinderte Menschen, die nicht in einem Arbeitsverhältnis stehen. Soweit der Arbeitgeber in Abrede stelle, dass schwerbehinderte Menschen im Bildungs- und Arbeitsbereich einer Werkstatt Teil des Betriebs sind, verkenne er, dass die Werkstätten Teile des Betriebs des Arbeitgebers sind. Diese seien über die gesamte Stadt verteilt und erfüllten Aufgaben für den Arbeitgeber, z.B. pflege der "grüne Bereich" die Anlagen aller Werkstätten, die "Druckwerkstatt A" fertige alle Druckerzeugnisse, die "Großküche" versorge die Werkstätten mit Essen und die "Malerei" erledige alle Maler- und Lackiererarbeiten. Hier arbeiteten alle (einschließlich der Werkstattbeschäftigten) für das "Große und Ganze" und damit auch für den Betrieb des Arbeitgebers. Das Arbeitsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass die Regelungen der Werkstätten Mitwirkungsverordnung (WMVO) ungeeignet zur Beantwortung der Frage, ob eine Wahlberechtigung nach § 177 Abs. 2 SGB IX für die Werkstattbeschäftigten bestehe, seien. Vielmehr sei der letzte Satz des § 222 Abs. 1 SGB IX so zu verstehen, dass die Werkstatträte die Interessen der im Eingangs- und Berufsbildungsbereich (der Arbeitsbereich ist nicht ausdrücklich benannt) der in Werkstätten tätigen behinderten Menschen in angemessener und geeigneter Weise zu berücksichtigen haben, solange für diese eine Vertretung nach § 52 SGB IX nicht besteht. In § 52 SGB IX sei geregelt, dass soweit Leistungen in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation ausgeführt werden, die Teilnehmenden nicht in den Betrieb der Einrichtungen eingegliedert sind, weshalb sie keine Arbeitnehmer im Sinne des BetrVG sind und zu ihrer Mitwirkung besondere Vertreter wählen. § 221 Abs. 1 SGB IX regele, dass behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten, wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu den Werkstätten in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis (...) stehen. Bezogen auf den Betrieb des Arbeitgebers stünden nahezu alle Werkstattbeschäftigten im Arbeitsbereich in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis. Der Werkstattrat möge eine spezielle Interessenvertretung für die Werkstattmitarbeiter sein, repräsentiere diese jedoch nicht ausschließlich. Vergleichbar sei dies mit der Co-Existenz des Betriebsrats und der Schwerbehindertenvertretung. § 222 Abs. 1 S. 2 SGB IX lasse gerade keine ausschließliche Zuständigkeit des Werkstattrats erkennen. Eine Gegenüberstellung der Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 1 SGB IX und des Werkstattrats gemäß § 4 Abs. 1 WMVO zeige deutlich, dass die Aufgaben und Befugnisse der Schwerbehindertenvertretung sogar etwas weiter gehen als die des Werkstattrats. Zum einen sei die Schwerbehindertenvertretung berechtigt, eigene Ansprüche gerichtlich geltend zu machen, wogegen der Werkstattrat lediglich die Vermittlungsstelle anrufen kann. Ferner gehe der Zuständigkeitsbereich der Schwerbehindertenvertretung viel weiter als der des Werkstattrats. So sei die Schwerbehindertenvertretung in Bewerbungsverfahren zu beteiligen und in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Die Schwerbehindertenvertretung sei nicht Teil eines Betriebs- oder Personalrats, sondern eine eigene Institution. § 8 Abs. 1 WMVO regele, dass die Werkstatt, ihr Betriebs- oder Personalrat, die Schwerbehindertenvertretung etc. und der Werkstattrat im Interesse der Werkstattbeschäftigten vertrauensvoll zusammenarbeiten. Die Auffassung des Arbeitgebers, der Werkstattrat besitze deutlich weitergehende Beteiligungsrechte und Kompetenzen als die Schwerbehindertenvertretung treffe nicht zu. Es bestehe auch keine Doppelzuständigkeit des Werkstattrats und der Schwerbehindertenvertretung, da nach Schätzung der Antragsteller etwa 25 % der Werkstattbeschäftigten nicht schwerbehindert bzw. schwerbehinderten Menschen gleichgestellt seien. Das Arbeitsgericht habe zu Recht die Entscheidung des BAG vom 16. April 2003 -7 ABR 27/02-herangezogen. Die Unterscheidung, ob es sich um eine Werkstatt für behinderte Menschen oder um eine Einrichtung der beruflichen Rehabilitation handele, rechtfertige keine andere Behandlung der schwerbehinderten Rehabilitanden in der beruflichen Rehabilitation gegenüber den schwerbehinderten Rehabilitanden in einer Werkstatt für behinderte Menschen, da die vertretenen Interessen dieselben seien. Außerdem bildeten die Werkstätten des Arbeitgebers in Teilabschnitten ebenso aus. Das zuständige Ministerium habe in seiner Veröffentlichung im Jahr 2004 ohne Begründung in den Raum gestellt, dass es alleinige Voraussetzung sein müsse, dass eine Vertretung nach dem heutigen § 52 SGB IX die Interessen dem Eingangs- und Berufsbildungsbereich Beschäftigten wahrnimmt. Es sei einfach festgelegt worden, dass dies in Werkstätten nicht der Fall sei. Diese Rechtsansicht sei unzutreffend. Das Arbeitsgericht sei zu Recht davon ausgegangen, dass eine Überrepräsentanz durch die gleichzeitige Existenz von Werkstattrat und Schwerbehindertenvertretung nicht vorliege. Die Aufgaben und Zuständigkeiten dieser Gremien seien ebenso wie die Durchsetzungsmöglichkeiten nicht deckungsgleich. Für den Fall einer Überschneidung sei in § 8 Abs. 1 WMVO der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit geregelt. Auch dies sei mit der Konstellation zwischen Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung vergleichbar. Zusammenfassend sei festzustellen, dass der Werkstattrat die Aufgaben des Betriebsrats ersetze, der deshalb nicht zuständig sei, weil die Rehabilitanden in der Werkstatt für behinderte Menschen keine Arbeitnehmer im Sinne des § 5 BetrVG sind. Demgegenüber habe die Schwerbehindertenvertretung nicht die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte, die dem Werkstattrat zustehen, sondern die Aufgabe, sich um die Belange der schwerbehinderten Menschen zu kümmern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Anhörungsprotokolle Bezug genommen.
II.
1. Die Beschwerde ist statthaft, § 87 Abs. 1 ArbGG, und zulässig, da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet wurde, § 87 Abs. 2 S. 1, § 66 Abs. 1 S. 1, § 89 Abs. 1 und 2 ArbGG, § 594 ZPO.
2. Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Wahl der Schwerbehindertenvertretung vom 18. November 2022 für unwirksam erklärt.
Die Antragsteller zu 1-3 sind als Wahlberechtigte anfechtungsberechtigt, § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 2 BetrVG. Das Ausscheiden des Antragstellers zu 3 aus dem Betrieb ist unerheblich, weil er das Wahlanfechtungsverfahren weiterhin betreibt (BAG 23. Juli 2014 - 7 ABR 23/12 - Rn. 31). Die Antragsteller haben auch gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 3 S. 1 1 BetrVG Einspruch gegen die Richtigkeit der Wählerliste eingelegt (Bl. 10-12 der Akte).
Die 2-wöchige Anfechtungsfrist des § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG wurde gewahrt, indem mit am 1. Dezember 2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz die am 22. November 2022 bekannt gemachte Wahl der Schwerbehindertenvertretung angefochten wurde.
Bei der Wahl der Schwerbehindertenvertretung vom 18. November 2022 wurde gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht verstoßen, indem die Rehabilitanden nicht in die Wählerliste aufgenommen und damit nicht zur Wahl zugelassen wurden, § 177 Abs. 6 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 1 BetrVG.
Wahlberechtigt zur Wahl der Schwerbehindertenvertretung sind alle in dem Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen, § 177 Abs. 2 SGB IX. Anders als § 5 BetrVG knüpft § 177 Abs. 2 SGB IX nicht an den Arbeitnehmerbegriff, sondern an den Begriff des "Beschäftigten" und damit an die "Beschäftigung" an. Eine Beschäftigung setzt ein Arbeitsverhältnis nicht zwingend voraus (BAG 25. Oktober 2017 -7 ABR 2/16- Rn. 20). Der Kreis der Wahlberechtigten ist weit gefasst, indem nicht nur Arbeitnehmer, die Arbeit in persönlicher Abhängigkeit erbringen hierunter fallen, sondern auch eine Beschäftigung von Nichtarbeitnehmern vorliegt, soweit und solange diese aufgrund einer freiwillig eingegangenen rechtlichen Verpflichtung weisungsgebundene Arbeit verrichten (Dau/Düwell/Joussen/Luik - Düwell, SGB IX, § 177 Rn. 13). Für ein solches Verständnis sprechen auch Sinn und Zweck der Vorschrift. Die Einbeziehung aller in dem Betrieb nicht nur vorübergehend Beschäftigten rechtfertigt sich daraus, dass diese Personengruppe aufgrund ihrer Tätigkeit im Einsatzbetrieb von den dort getroffenen Entscheidungen des Betriebsinhabers betroffen ist. Dies trifft auf behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten zu, die gemäß § 221 Abs. 1 SGB IX wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, zu diesen in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis stehen. Auch wenn sie deshalb zu ihrer Mitwirkung gemäß § 52 SGB IX besondere Vertreter wählen -gemeint ist damit der Werkstattrat gemäß § 222 SGB IX-, sind sie gleichwohl im Betrieb beschäftigte schwerbehinderte Menschen im Sinne von § 177 Abs. 2 SGB IX.
Der Begriff des Betriebs bestimmt sich gemäß § 170 Abs. 1 SGB IX nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Daraus folgt, dass Schwerbehindertenvertretungen grundsätzlich in der Organisationseinheit zu wählen sind, in denen auch Betriebsräte gewählt werden. Das ist die Organisationseinheit, in der auch der Betriebsrat besteht (BAG 10. November 2004 -7 ABR 17/04- Rn. 21, 22). Dies schließt es aus, von den im Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Arbeitnehmern diejenigen auszunehmen, die in Werkstätten tätig sind. Die Werkstätten sind Teil des Betriebs des Arbeitgebers.
Der Umstand, dass behinderte Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten (§ 221 Abs. 1 SGB IX) durch Werkstatträte in den ihre Interessen berührenden Angelegenheiten mitbestimmen (§ 222 Abs. 1 S. 1 SGB IX) macht eine Interessenwahrnehmung der schwerbehinderten Rehabilitanden durch die Schwerbehindertenvertretung nicht entbehrlich. Die Werkstatträte sind keine besondere Schwerbehindertenvertretungen in den Werkstätten, da nicht alle Rehabilitanden schwerbehindert sind. Auch die nicht schwerbehinderten Menschen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten wählen die Werkstatträte mit. Diese Vertretungen sind ein Ersatz dafür, dass die Rehabilitanden nicht von dem in der Einrichtung gewählten Betriebsrat vertreten werden. Die zusätzliche Vertretung schwerbehinderter Rehabilitanden durch die Schwerbehindertenvertretung wird dadurch nicht überflüssig (so zu § 36 S. 2 HS 2 SGB IX alte Fassung: BAG 16. April 2003 -7 ABR 97/02- Rn. 23).
Hieran hat sich durch die Neufassung des § 52 S. 2 SGB IX nichts geändert. Die allgemeinen Aufgaben des Werkstattrats und dessen Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte sind in §§ 4 und 5 der Werkstätten-Mitwirkungsverordnung vom 25. Januar 2001, zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 19. Juni 2023 im einzelnen geregelt und beziehen sich auf das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis zwischen den Werkstattbeschäftigten und der Werkstatt. § 5 Abs. 2 WMVO ist § 87 Abs. 1 BetrVG nachgebildet. Dies zeigt, dass die Wahrnehmung der sich für die Werkstattbeschäftigten aus ihrer Schwerbehinderung ergebenden Rechte gerade nicht dem Werkstattrat obliegt. Hierfür bedarf es vielmehr der Schwerbehindertenvertretung. Dies verkennt der Arbeitgeber. Die Schwerbehindertenvertretung ist eine rechtlich vom Betriebsrat (und damit auch vom Werkstattrat) unabhängige Sondervertretung der Gruppe der im Betrieb beschäftigten schwerbehinderten Menschen (Düwell, in: Grobys/Panzer-Heemeier, Stichwort Kommentar Arbeitsrecht, 4. Aufl., "Schwerbehindertenvertretung" Rn. 2; Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben-Jabben, SGB IX, 14. Aufl., § 52 Rn. 3; Kossens/von der Heide/Maaß-Vogt, SGB IX, 5. Aufl., § 52 Rn. 6; Fuchs/Ritz/Rosenow - Conrad-Giese, SGB IX, 7. Aufl., § 52 Rn. 9). Während § 4 Abs. 1 Nr. 1a WMVO dem Werkstattrat die Aufgabe zuweist, darüber zu wachen, dass die zu Gunsten der Werkstattbeschäftigten geltenden Gesetze etc. durchgeführt werden, vor allem dass die auf das besondere arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis zwischen dem Werkstattbeschäftigten und der Werkstatt anzuwendenden arbeitsrechtlichen Vorschriften etc. beachtet werden, fördert die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 1 SGB IX die Eingliederung schwerbehinderter Menschen in den Betrieb und wacht darüber, dass die zu Gunsten schwerbehinderter Menschen geltenden Gesetze etc. erfüllt werden. Diese Differenzierung zeigt, dass die Zuständigkeit des Werkstattrats sich auf das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis bezieht, während die Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung darin liegt, darüber zu wachen, dass die zu Gunsten schwerbehinderter Menschen geltenden Gesetze etc. erfüllt werden. Dies zeigt zugleich, dass es um weit mehr geht, als um die bloße Förderung der Eingliederung schwerbehinderter Menschen, die nach Auffassung des Arbeitgebers (Seite 10 unten, 11 der Beschwerdebegründung, Bl. 113, 114 der Akte) in seiner Einrichtung nicht erforderlich ist. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Aufgaben von Werkstattrat einerseits und Schwerbehindertenvertretung andererseits bestehen auch keine Interessenkonflikte. Jedes Gremium wird im Rahmen seiner Aufgaben tätig und im Übrigen arbeiten beide gemäß § 8 Abs. 1 WMVO im Interesse der Werkstattbeschäftigten vertrauensvoll zusammen. Warum nach der Mitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen e.V. (Bl. 121 der Akte) entgegen der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 16. April 2003 Werkstattbeschäftigte an der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung nicht beteiligt sein sollen, erschließt sich nicht.
Der Verstoß war auch geeignet, das Wahlergebnis zu beeinflussen, § 177 Abs. 6 SGB IX i.V.m. § 19 Abs. 1 HS 2 BetrVG. Es ist nicht auszuschließen, dass eine Aufnahme der schwerbehinderten Rehabilitanden in die Wählerliste zu einem anderen Wahlergebnis geführt hätte. Zwar ist nicht im einzelnen vorgetragen, wie viele der 200-300 Rehabilitanden auch als Schwerbehinderte anerkannt sind. Die Antragsteller schätzen, dass (lediglich) etwa 25% der Werkstattbeschäftigten nicht schwerbehindert sind. Ausgehend davon dürften etwa 150 Rehabilitanden schwerbehindert sein. Dem ist der Arbeitgeber nicht im einzelnen entgegengetreten. Dem Arbeitgeber ist die Schwerbehinderteneigenschaft der Rehabilitanden jedenfalls insoweit bekannt, als diese bei ihm um die Gewährung des Zusatzurlaubs für Schwerbehinderte nachgesucht haben und im Zusammenhang damit (oder aus sonstigen Gründen) ihren Schwerbehindertenausweis vorgelegt haben. Im Hinblick auf das knappe Wahlergebnis einerseits und die hohe Anzahl von Rehabilitanden (200-300) spricht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass jedenfalls mehr als 16 von ihnen als Schwerbehinderte anerkannt sind und somit das Wahlergebnis hätte anders ausfallen können.
III.
Die Zulassung der Rechtsbeschwerde ergibt sich aus §§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.