15.02.2012
Finanzgericht Thüringen: Gerichtsbescheid vom 18.10.2011 – 3 K 868/10
1. In der sich an das Insolvenzverfahren anschließenden Wohlverhaltensphase kann die Finanzbehörde mit Steuerforderungen gegen Steuererstattungsansprüche des Insolvenzschuldners aufrechnen, solange der die Restschuldbefreiung erteilende Beschluss des Insolvenzgerichts aussteht.
2. Die Aufrechnungsbeschränkungen der §§ 95ff. InsO finden nur im offenen Insolvenzverfahren, nicht jedoch in der anschließenden Wohlverhaltensphase Anwendung. § 294 InsO verbietet Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, nicht aber Aufrechnungen in dieser Zeit.
3. Ein Aufrechnungsverbot ergibt sich auch dann nicht, wenn die Einkommensteuererstattung auf Vorschriften zur Sicherstellung des Existenzminimums (hier der Berücksichtigung von durch eine schwerwiegende Erkrankung der Tochter des Klägers verursachten Krankheitskosten als außergewöhnliche Belastungen) beruht.
4. Die Aufrechnung ist selbst dann nicht treu- oder gar sittenwidrig, wenn das dem Kläger für den zurückliegenden Veranlagungszeitraum zustehende Existenzminimum unterschritten wird.
Im Namen des Volkes
Gerichtsbescheid
In dem Rechtsstreit
hat der III. Senat des Thüringer Finanzgerichts … ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid gem. § 90 a Finanzgerichtsordnung (FGO) am 18.10.2011 für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Strittig ist die (anteilige) Aufrechnung des Einkommensteuererstattungsanspruchs 2008 mit Forderungen aus einem Haftungsbescheid gegen den Kläger.
Der Kläger wurde mit bestandskräftigem Haftungsbescheid vom Juni 2002 in Höhe von 25.970 Euro wegen Lohn- und Umsatzsteuerschulden einer GmbH als deren Geschäftsführer gem. § 69 der Abgabenordnung (AO) in Haftung genommen. Die Fälligkeit war im Juli 2002. Ein Antrag auf Erlass der Haftungsschulden wurde abgelehnt.
Im Nov. 2005 wurde das Insolvenzverfahren gegen ihn eröffnet, das im Jan. 2008 aufgehoben wurde. Nov. 2011 wird die sogenannte „Wohlverhaltensperiode” voraussichtlich beendet sein.
Im Dez. 2009 erging ein Einkommensteuerbescheid, aus dem sich ein gemeinsamer Erstattungsanspruch der zusammen veranlagten Kläger i. H. v. 3.166,76 EUR ergab. Diesen teilte der Beklagte auf und überwies der Klägerin den anteiligen Erstattungsanspruch i. H. v. 935,34 EUR. Das anteilige Guthaben des Klägers (2.231,42 EUR) wurde im Dez. 2009 mit Forderungen laut Haftungsbescheid aufgerechnet.
Die Kläger wenden sich gegen die Aufrechnung. Mit Schreiben vom Mai 2010 beantragten sie den nunmehr streitigen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 AO, der im Mai 2010 erteilt wurde. Der Einspruch wurde im Sept. 2010 als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kläger tragen vor, der Einkommensteuererstattungsanspruch hinge mit der schweren Tumorerkrankung ihres mittlerweile verstorbenen Kindes und der damit verbundenen finanziellen Notsituation der Familie zusammen. Der Steuererstattungsanspruch aus dem o. a. Einkommensteuerbescheid 2008 beruhe zu ca. 45 % auf den wegen schwerer Krankheit des Kindes geltend gemachten außergewöhnlichen Belastungen (Behindertenpauschbetrag, Pflegepauschbetrag und Fahrtkosten). Die krankheitsbedingten Mehraufwendungen erhöhten den zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes notwendigen Bedarf, so dass eine Aufrechnung in der Wohlverhaltensphase ausnahmsweise unzulässig sei. Daher sei die Aufrechnung nicht nur unmoralisch, sondern auch unzulässig.
Die Kläger beantragen,
den Abrechnungsbescheid vom Mai 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom September 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die noch zu erstattende Einkommensteuer in Höhe von 2.231,42 Euro
nebst den gesetzlichen Verzugszinsen ab dem Eintritt der gesetzlichen Voraussetzungen zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält die Aufrechnung für zulässig.
Der Berichterstatter fragte im Apr. 2011 an, ob die Klage aufrecht erhalten werde oder gerichtsgebührenreduziert zurückgenommen werde. Die Kläger teilten mit, dass an der Klage festgehalten werde.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet, die Aufrechnung war rechtmäßig.
I. Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis i. S. v. § 37 AO betreffen, entscheidet die Finanzbehörde durch eigenständigen Verwaltungsakt in Form eines Abrechnungsbescheides, § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Dies gilt auch, wenn die Streitigkeit einen Erstattungsanspruch betrifft, welcher mit einer Forderung gegen den Erstattungsberechtigten aufgerechnet wurde. Für die Aufrechnung mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sowie für die Aufrechnung gegen diese Ansprüche gelten gem. § 226 Abs. 1 AO die Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Voraussetzung für eine wirksame Aufrechnung ist das Vorliegen der Aufrechnungslage. Sie ist gem. §§ 387 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegeben, wenn die Voraussetzungen der Gleichartigkeit und Gegenseitigkeit der Forderungen, Erfüllbarkeit der Hauptforderung und Fälligkeit der Gegenforderung vorliegen.
Es handelt sich bei den aufzurechnenden Forderungen um Geldansprüche, so dass die Gleichartigkeit der Forderungen gegeben ist. Der Freistaat Thüringen, vertreten durch das Finanzamt, ist Gläubiger der Haftungsschulden des Klägers und Schuldner des anteiligen Erstattungsanspruches aus dem Einkommensteuerbescheid 2008. Der Kläger ist dem gegenüber Gläubiger des steuerlichen Erstattungsanspruches und Haftungsschuldner aus dem Haftungsbescheid vom Juni 2002. Die Voraussetzung der Gegenseitigkeit der Forderungen ist somit ebenfalls erfüllt. Zum Zeitpunkt der Aufrechnung waren die Haftungsschulden bereits entstanden und fällig und somit die Erfüllbarkeit der Hauptforderung gegeben sowie die Gegenforderung des Klägers auf die Einkommensteuererstattung 2008 fällig. Im Streitfall waren die Voraussetzungen für eine Aufrechnung gem. § 226 AO somit erfüllt. Dies scheinen auch die Kläger nicht in Abrede stellen zu wollen.
II. Es bestand insbesondere kein gesetzliches Aufrechnungsverbot nach der Insolvenzordnung (1.) oder aus anderen Erwägungen (2.) heraus.
1. Das im Nov. 2005 über das Vermögen des Ehemannes eröffnete Insolvenzverfahren wurde im Jan. 2008 aufgehoben, die Wohlverhaltensperiode wird voraussichtlich im Nov. 2011 enden.
Die Aufrechnungsbeschränkungen der §§ 95 ff Insolvenzordnung (InsO) finden nur im offenen Insolvenzverfahren, nicht jedoch in der anschließenden Wohlverhaltensphase Anwendung. Der von den Klägern zitierte § 294 InsO verbietet Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, nicht aber Aufrechnungen in dieser Zeit. Daher kann die Finanzbehörde mit Steuerforderungen gegen Steuererstattungsansprüche des Insolvenzschuldners aufrechnen (vgl. Loose in Tipke/Kruse, Komm. zur AO § 226 Tz. 43b). Auch das von den Klägern zitierte BGH-Urteil vom 21.07.2005 (IX ZR 115/04, BGHZ 163, 391) widerspricht dieser Rechtsauffassung nicht. Nach diesem Urteil schließt in dem Zeitraum nach Ankündigung der Restschuldbefreiung (§ 291 Abs. 1 InsO) und Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 289 Abs. 2 S. 2, § 200 Abs. 1 InsO), der sogenannte „Wohlverhaltensperiode”, das Gesetz in § 294 Abs. 3 InsO die Aufrechnung durch Insolvenzgläubiger gegen Forderungen aus, die gem. § 287 Abs. 2 InsO von der Abtretung an den Treuhänder erfasst sind. Im Streitfall liegt jedoch gar keine an einen Treuhänder abgetretene Forderung der Kläger vor, vielmehr war der Kläger Forderungsinhaber des anteiligen Steuererstattungsanspruchs. Die Aufrechnung ist daher nicht nach § 294 Abs. 3 InsO ausgeschlossen.
Nach den Urteilen des BFH (Urteile vom 21.11.2006 VII R 1/06, BFHE 216, 1, BStBl II 2008, 272, und VII R 66/05, BFH/NV 2007, 1066) sowie des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 21.07.2005 aaO.) besteht in der Wohlverhaltensphase kein allgemeines Aufrechnungsverbot für Insolvenzgläubiger und hindert auch § 294 Abs. 3 InsO nicht die Aufrechnungserklärung des Finanzamts als Insolvenzgläubiger gegen einen Steuererstattungsanspruch des Insolvenzschuldners (aktuell hierzu BFH, Beschluss vom 07.01.2010, VII B 118/09, BFH/NV 2010, 950). Die Restschuldbefreiung erlangt der Insolvenzschuldner im Übrigen nicht mit dem Ablauf der sog. Wohlverhaltensphase, sondern erst mit dem die Restschuldbefreiung erteilenden Beschluss des Insolvenzgerichts. Solange dieser aussteht, kann das Finanzamt gegen einen Erstattungsanspruch des Insolvenzschuldners die Aufrechnung mit Steuerforderungen erklären (ebenso Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.08.2010, 12 K 2060/08, DStRE 2011, 589, wonach kein allgemeines Aufrechnungsverbot nach Abschluss des Insolvenzverfahrens während der Restschuldbefreiung besteht.
2. Der Senat verkennt nicht die besonders schwierige persönliche Situation der Kläger und die Tatsache, dass zum großen Teil die außergewöhnlichen Belastungen zum strittigen Steuererstattungsanspruch führten. Hieraus ergibt sich aber keine andere Rechtsauffassung bezüglich der vorhandenen Aufrechnungslage im Zeitpunkt der Aufrechnung. Woraus sich ein Anspruch oder der Gegenanspruch ergeben, ist regelmäßig nicht entscheidend. Gem. § 226 Abs. 1 AO sind alle Vorschriften des BGB sinngemäß anwendbar, soweit nichts anderes bestimmt ist. Der Gesetzgeber hat im BGB besondere Vorschriften geschaffen, die ein Aufrechnungsverbot begründen z. B. die Aufrechnung gegen eine unpfändbare Forderung, §§ 394 BGB, 319 AO. Er hat also bewusst bestimmte Regelungen vorgesehen. Diese Vorschriften greifen aber nicht ein und eine erweiternde Auslegung durch Analogie verbietet sich mangels Regelungslücke.
Ein Anspruch auf Erstattung von Lohnsteuer ist kein Arbeitseinkommen im Sinne von § 850 ZPO. Es besteht deshalb kein Pfändungsverbot und Aufrechnungsverbot. Dies gilt selbst dann, wenn das betreffende Arbeitseinkommen unter den Pfändungsgrenzen gelegen haben sollte (BFH, Beschluss vom 29.01.2010, VII B 192/09 BFH/NV 2010, 1856).
Der BFH hat bereits entschieden, dass die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung des subjektiven Existenzminimums etwa mit der Berücksichtigung des Behindertenpauschbetrages bei der Einkommensteuerfestsetzung vollzogen ist. Die Verschonung des Steuererstattungsanspruchs ist dem Fiskus von Verfassungswegen dagegen nicht auferlegt (BFH, Beschluss vom 10.04.2006, VII B 199/05, BFH/NV 2006, 1447). Dass die Steuererstattung zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil auf der nachträglichen Berücksichtigung außergewöhnlicher Belastungen beruht, ist daher nicht maßgebend.
Zwar mögen die Kläger einwenden, dass mit der Aufrechnung des Erstattungsanspruchs gegen die Haftungsrückstände der Steuervorteil aufgehoben wird, der ihnen wegen der schweren Krankheit ihrer Tochter zusteht und deshalb der dem Pfändungsschutz nach § 54 Abs. 3 Nr. 3 SGB I zugrunde liegende Rechtsgedanke, Forderungen, die der Existenzsicherung dienen, vor dem Zugriff des Staates oder Dritter zu schützen, die analoge Anwendung des Aufrechnungsverbots nach § 226 AO, § 394 BGB i.V.m. § 54 Abs. 3 Nr. 3 SGB I gebiete. Nach dieser Vorschrift sind Ansprüche auf Geldleistungen, die dafür bestimmt sind, den durch einen Körper- oder Gesundheitsschaden bedingten Mehraufwand auszugleichen, unpfändbar. Der Erstattungsanspruch fällt aber auch dann nicht darunter, wenn er dem Kläger wegen der Behinderung bzw. Krankheit seines Kindes zusteht.
Der BFH hat es im Beschluss vom 26.09.1995 (VII B 117/95, BFH/NV 1996, 281) zu Recht grundsätzlich abgelehnt, die vom Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 25. September 1992 2 BvL 5, 8, 14/91, BVerfGE 87, 153, BStBl II 1993, 413) postulierte staatliche Verpflichtung, das zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs benötigte Einkommen steuerfrei zu belassen, nicht nur auf die Einkommensteuerfestsetzung, sondern darüber hinaus auch auf das Erhebungsverfahren zu beziehen (vgl. auch BFH, Beschluss vom 10.04.2006, VII B 199/05, BFH/NV 2006, 1447).
Dem Staat ist die Verschonung des Erstattungsanspruchs von Verfassungswegen nicht auferlegt, weil dieser als rechnerischer Saldo der gezahlten Lohnsteuer und der festgesetzten Einkommensteuer eine von den zivil- und sozialrechtlichen Pfändungsverboten nicht erfasste und damit dem Zugriff von Privatgläubigern ungeschützt ausgesetzte Geldforderung ist (vgl. BFH, Beschluss vom 19.01.2006, VII S 4/06 (PKH), BFH/NV 2006, 1044.
Ein Aufrechnungsverbot ergibt sich auch nicht deshalb, weil die Einkommensteuererstattung auf Vorschriften zur Sicherstellung des Existenzminimums beruht. Der BFH hat z.B. zu § 32d EStG, der ebenfalls das Existenzminimum der Bezieher kleiner Einkommen sichern will, entschieden, dass dieser nur im Steuerfestsetzungsverfahren gilt. Eine Anwendung auch im Erhebungsverfahren ginge über das vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Ziel, dass kein Steuerpflichtiger infolge einer Besteuerung seines Einkommens darauf verwiesen wird, seinen existenznotwendigen Bedarf durch Inanspruchnahme von Staatsleistungen zu decken, hinaus (BFH, Beschluss vom BFH 26.09.1995, VII B 117/95, BFH/NV 1996, 281).
Durch die Anwendung der Vorschriften über die außergewöhnlichen Belastungen ergibt sich ein Steuerguthaben, das der Höhe nach zumindest zum Teil zum steuerlichen Existenzminimum gehört. Dies besagt aber nicht, dass die Schutzwirkung dieser Vorschriften über die Steuerfestsetzung hinaus reicht und in Höhe des Erstattungsguthabens auch die alten Haftungsschulden des Klägers erfasst. Würde man auch solche alten Forderungen in den Schutzbereich einbeziehen, würde man dem Finanzamt untersagen, Gegenrechte geltend zu machen und den Fiskus gegenüber anderen Gläubigern benachteiligen, da diese keinem Pfändungsverbot nach BGB oder ZPO unterliegen.
3. Zwar könnte eine Aufrechnung auch nach dem Rechtsgedanken des § 242 BGB ausgeschlossen sein, wenn sie als mit Treu und Glauben unvereinbar erschiene (hierzu Palandt, Kommentar zum BGB § 387 Anm. 15). Ein treuwidriges Verhalten des Beklagten ist aber nicht erkennbar, eine unzulässige Rechtsausübung liegt nicht vor. Die Aufrechnung ist selbst dann nicht treu- oder gar sittenwidrig, wenn das dem Kläger für den zurück liegenden Veranlagungszeitraum zustehende Existenzminimum unterschritten wird (vgl. BFH, Beschluss vom 26.09.1995, VII B 117/95 aaO).
Den Vorwurf eines unmoralischen Handelns der Finanzbehörden kann der Kläger, der als Geschäftsführer einer GmbH wegen Nichtabführens der Umsatz- und Lohnsteuer in Haftung genommen worden war, nicht erheben.
Der vorliegende Abrechnungsbescheid ist mithin formell und materiellrechtlich rechtmäßig ergangen.
Der Senat entscheidet durch Gerichtsbescheid gem. § 90 a FGO, um den Beteiligten weiteren Zeit- und Kostenaufwand zu ersparen, zumal nur eine Rechtsfrage streitigist ist. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO. Für eine Zulassung der Revision sieht der Senat keinen Anlass.
Der Streitwert beträgt entsprechend des streitigen aufgerechneten Betrages 2.231,42 Euro. Die geltend gemachten Zinsen bleiben gem. § 43 GKG außer Betracht.