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06.04.2011 · IWW-Abrufnummer 111158

Finanzgericht Münster: Urteil vom 13.10.2010 – 7 K 4838/08

1) Beruht eine Einkommensteuerfestsetzung auf der fehlerhaften rechtlichen Würdigung der doppelten Abziehbarkeit von Entferungskilometern für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte durch den Steuerpflichtigen, liegt keine zur Korrektur des bestandskräftigen Bescheids berechtigende offenbare Unrichtigkeit gem. § 129 AO vor, sondern ein Ermittlungsfehler des Finanzamts.



2) Hat das Finanzamt gewusst, dass die Fahrten zwischen Zweitwohnsitz in der Nähe der Arbeitsstätte und der Arbeitsstätte mit einem Dienstwagen durchgeführt wurden, bedeutet dies auch, dass die Familienheimfahrten mit dem Dienstwagen durchgeführt worden sind, sofern kein abweichender Sachverhalt festgestellt ist. Deshalb liegt keine „neue” Tatsache vor, die zur Änderung des bestandskräfigen Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigte.


FG Münster v. 13.10.2010
7 K 4838/08 E
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte Änderungsbescheide nach § 129 bzw. § 173 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (AO) erlassen durfte.
Die Kläger sind Ehegatten, die zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Der Kläger ist als Niederlassungsleiter einer Spedition nichtselbständig tätig. Er führt einen beruflich veranlassten doppelten Haushalt. Neben seinem Wohnsitz in M-Stadt unterhält er am Beschäftigungsort in C-Stadt seit November 2003 eine Zweizimmerwohnung. Die Entfernung zwischen M-Stadt und C-Stadt beträgt 281 km.
Für die Streitjahre 2004 und 2005 beantragte der Kläger, Aufwendungen für tägliche Fahrten zwischen der Zweitwohnung und der Arbeitsstätte sowie für wöchentliche Fahrten zwischen der Erstwohnung und der Arbeitsstätte (Fahrten Wohnung und Arbeitsstätte sowie Familienheimfahrten im Rahmen von Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung) als Werbungskosten zu berücksichtigen. Im Einzelnen:
In der Steuererklärung für das Streitjahr 2004 gab der Kläger auf Seite 2 der Anlage N, Zeile 32, an, für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte einen Firmenwagen genutzt zu haben. Weiterhin erklärte er, an 221 Tagen im Jahr eine Strecke von 5 Kilometern (Zeile 36) und an 48 Tagen im Jahr eine Strecke von 281 Kilometern (Zeile 37) als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegt zu haben. Darüber hinaus erklärte der Kläger auf der selben Seite seiner Steuererklärung Fahrtkosten als Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung in Höhe von 4.047,00 Euro (48 Fahrten × 281 km). Als Anlage zur Anlage N reichte der Kläger eine Excel-Tabelle ein, mit welcher er die Familienheimfahrten (unterteilt in „Hinreise” und „Rückreise”) aufschlüsselte. Nach seinen Ausführungen ergaben sich in der Summe 48 „Hinreisen” und 48 „Rückreisen”.
Für das Streitjahr 2005 gaben die Kläger eine elektronische Steuererklärung (ELSTER) ab. Hinsichtlich der Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gab der Kläger an, sowohl mit einem privaten Pkw als auch mit einem Firmenwagen gefahren zu sein. Er erklärte weiterhin, an 238 Tagen im Jahr eine Strecke von 5 Kilometern (Zeile 45) und an 47 Tagen im Jahr eine Strecke von 281 Kilometern (Zeile 46) als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegt zu haben. Darüber hinaus erklärte er u. a. 47 Familienheimfahrten (á 281 km) als Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung. In Ergänzung zur Anlage N reichte er wiederum eine Excel-Tabelle ein, aus welcher sich sämtliche Fahrten (Hin- und Rückfahrten) zwischen Erstwohnung und Arbeitsstelle ergeben. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die für die Streitjahre eingereichten Steuererklärungen nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.
Der Beklagte veranlagte die Kläger wie erklärt und übernahm dabei die Angaben zu den Werbungskosten des Klägers ungeprüft. Die Einkommensteuerbescheide vom 06.05.2005 (2004) sowie vom 19.10.2006 (2005) wurden bestandskräftig.
Der für die Veranlagung 2006 zuständige Sachbearbeiter bemerkte schließlich, dass die Fahrten zwischen M-Stadt und C-Stadt doppelt, d. h. die tatsächlich gefahrenen Kilometer und nicht die Entfernungskilometer berücksichtigt worden waren. Der Beklagte erließ daraufhin am 30.07.2007 nach § 129 AO berichtigte Änderungsbescheide.
Mit den hiergegen am 07.08.2007 eingelegten Einsprüchen vertraten die Kläger die Auffassung, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 129 AO nicht vorlägen. Die ursprünglichen Bescheide vom 06.05.2005 bzw. 19.10.2006 enthielten weder einen Schreibfehler noch einen Rechenfehler und auch keine einem Schreib- oder Rechenfehler „ähnliche offenbare Unrichtigkeit”. Auch seien die Angaben der Kläger aus den Steuererklärungen fehlerfrei erfasst worden. Es sei keine Angabe übersehen, doppelt erfasst oder versehentlich bei Eingabe in die EDV falsch zugeordnet worden. Soweit der Kläger unzutreffende Angaben zu den Fahrtkosten gemacht habe, sei das nicht ohne genauere Prüfung aller erforderlichen Angaben zu den Fahrten zu erkennen gewesen. Es sei nämlich nicht ausgeschlossen, dass die angegebenen Fahrtkosten bei irgendeinem Steuerpflichtigen so entstanden sein könnten. Einzelne Angaben des Kläger habe man nicht ohne Sach- und Rechtsprüfung zu den Fahrtkosten als offensichtlich falsch verwerfen können. Dies liege schon daran, dass die Fahrtkosten unterschiedlich zu ermitteln, unterschiedlich hoch und verschieden zu erklären seien. Um die Entscheidung treffen zu können, hätte der verantwortliche Sachbearbeiter die Sachlage aufklären und entscheiden, d.h. typische Veranlagungstätigkeit ausüben müssen. Die „offenbare Flüchtigkeit” der Veranlagungstätigkeit sei keine dem Schreib- und Rechenfehler ähnliche Unrichtigkeit. Als steuerlicher Laie habe er – der Kläger – unter Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte verstanden, dass er jede einfache Fahrt von der jeweils bei Fahrtantritt genutzten Wohnung zur Arbeitsstätte steuerlich geltend machen könne. Die umgekehrte Fahrt von der Arbeitsstätte zur Wohnung sei nach seinem bisherigen Verständnis die Heimfahrt, die ebenfalls steuerlich geltend gemacht werden könne. Damit habe bei ihm ein Verständnisfehler vorgelegen, den der Beklagte nicht als offenbare Unrichtigkeit habe wiederholen können.
Im Rahmen der Gesamtüberprüfung der angefochtenen Bescheide im Einspruchsverfahren stellte der Beklagte fest, dass der Kläger für die wöchentlichen Familienheimfahrten das vom Arbeitgeber gestellte Kfz genutzt hatte. In der Arbeitgeberbescheinigung vom 24.07.2007 bestätigte dieser, dass der Kläger generell im Rahmen einer doppelten Haushaltsführung keinerlei Kostenerstattung erhalten habe und er die Fahrten mit einem Firmenwagen durchgeführt habe, welcher im Rahmen der 1%-Regelung lohnversteuert werde. Auf ein Auskunftsersuchen des Beklagten wurde ergänzend mitgeteilt, dass in den Jahren 2003 bis 2006 5 km für die Entfernung Wohnung – Arbeitsstätte bei der Rechnung zugrunde gelegt worden seien. Bei dem Kläger seien in den Streitjahren 4.829,40 Euro (2004) sowie 4.581,60 Euro (2005) als geldwerter Vorteil versteuert worden. Eine Pauschalversteuerung sei nicht vorgenommen worden.
Daraufhin kündigte der Beklagte den Klägern eine weitergehende Änderung der angefochtenen Bescheide zu ihrem Nachteil an, weil ihm nachträglich bekannt geworden sei, dass die wöchentlichen Familienheimfahrten mit dem Firmenwagen durchgeführt worden seien. Trotz der dagegen erhobenen Einwendungen der Kläger erließ der Beklagte am 09.05.2008 auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützte Änderungsbescheide, welche nach § 365 Abs. 3 Satz 1 AO Gegenstand der Einspruchsverfahren wurden. Die Einsprüche der Kläger wies er mit Einspruchsentscheidung vom 21.11.2008 als unbegründet zurück. Er vertrat die Auffassung, die Bearbeiter der Steuererklärungen hätten die Angaben offenbar ungeprüft übernommen. Dass die Fahrten zwischen M-Stadt und C-Stadt doppelt erklärt worden seien, sei aufgrund der Angaben der Kläger und der vorliegenden Fahrtkostenberechnungen (Excel-Tabellen) auf den ersten Blick erkennbar, ohne dass die Sachbearbeiter in eine wie auch immer geartete Ermittlungstätigkeit hätten einsteigen müssen. Es sei offensichtlich, dass mit den unter der Rubrik „Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte” erklärten Fahrten dieselben gemeint seien wie die im Rahmen der Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung angegebenen „Familienheimfahrten”. Der Einwand des Kläger, er sei rechtsirrig der Ansicht gewesen, er habe die Erklärungen richtig ausgefüllt, sei für die Bewertung des Fehlers als offenbar unrichtig irrelevant. Es komme für die Bewertung des Fehlers als offenbar unrichtig nicht auf einen – behaupteten – Sach- oder Rechtsirrtum des Steuerpflichtigen an, sondern darauf, ob die Unrichtigkeit für einen objektiven Dritten offenbar, d.h. ohne weiteres erkennbar gewesen sei. Wenn der Kläger aus seinem eigenen Denkfehler ableite, dass die unterbliebene Richtigstellung seines Fehlers durch die Veranlagungssachbearbeiter auf „nicht hinreichender Sachaufklärung” beruhe, so seien diese Erwägungen hypothetischer Natur. Für einen unvoreingenommenen Dritten könne sich ebenso wenig wie für einen Bearbeiter des Beklagten ernsthaft die Frage stellen, ob die identischen Angaben zu Fahrtkosten in derselben Anlage N unter der Überschrift der Entfernungspauschale sich auf den Entfernungskilometer beziehe oder auf den Fahrkilometer. Ebenso wenig könnten in Bezug auf die Angaben zur ersten und zweiten Wohnung Zweifel im Hinblick auf die rechtliche Einordnung der Fahrtkosten zwischen M-Stadt und C-Stadt als Familienheimfahrten aufkommen. Das konkrete Verhalten der Veranlagungssachbearbeiter spreche ersichtlich für einen Übernahmefehler, der zustande gekommen ist, weil sie eben keine eigenen Überlegungen angestellt, sondern im steuerlichen Masseverfahren die Angaben wie erklärt übernommen hätten.
Auch die Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist nach Auffassung des Beklagten rechtmäßig. Vorliegend sei neu gewesen, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zur Durchführung der wöchentlichen Familienheimfahrten einen PKW unentgeltlich überlassen habe. Diese Tatsache habe gem. § 9 Abs. 2 Satz 7 EStG (2004) bzw. § 9 Abs. 2 Satz 6 EStG (2005) zur Folge, dass ein Werbungskostenabzug für die wöchentlichen Familienheimfahrten ausscheide, weil dafür auch kein geldwerter Vorteil als Lohn angesetzt worden sei. Ermittlungsfehler von Seiten des Beklagten lägen nicht vor. Wie der Kläger selbst vortrage, sei es nicht ausgeschlossen, dass die angegebenen Fahrtkosten bei irgendeinem Steuerpflichtigen so entstanden sein könnten. Aber selbst wenn er – der Beklagte – einen Ermittlungsfehler begangen hätte, fiele das nachträgliche Bekannt – werden in den Verantwortungsbereich des Klägers, weil dieser ebenfalls seiner Mitwirkungspflicht nicht in vollem Umfang nachgekommen sei.
Mit der am 23.12.2008 erhobenen Klage vertreten die Kläger weiterhin die Auffassung, dass ein mechanisches Versehen bei der Übernahme der erklärten Zahlen nicht möglich sei. Eine Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO scheide aus, da bereits keine neue Tatsache vorliege. Wenn der Beklagte behaupte, die Nutzung eines Firmenfahrzeugs sei erst im Jahre 2008 bekannt geworden, so stelle sich die Frage, wovon er in Ansehung der ihm vorliegenden Erklärungen für die Streitjahre ausgegangen sei. Es bleibe ja nur die einzig mögliche Erklärung, dass er bis Anfang 2008 der Meinung gewesen sei, dass der Kläger ein privates Fahrzeug genutzt habe. Dies könne aber in Anbetracht der Angaben in den Steuererklärungen ausgeschlossen werden. Darüber hinaus liegt nach Auffassung der Kläger kein nachträgliches Bekanntwerden vor, wenn das Finanzamt einen Steuerfall halbherzig bearbeite, dann einen Bescheid bekanntgebe und danach den Steuerfall ohne äußeren Anlass komplett in aller Gründlichkeit überprüfe, also das Veranlagungsverfahren nochmals wiederhole. Dieses Vorgehen sei von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht gedeckt.
Die Kläger beantragen,
die Einkommensteuerbescheide 2004 und 2005 jeweils vom 30.07.2007 und 09.05.2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21.11.2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Seiner Auffassung nach liegt die neue Tatsache darin, dass der Kläger für Familienheimfahrten unentgeltlich bzw. steuerfrei den Firmenwagen benutzt habe und nicht darin, dass er überhaupt einen Firmenwagen benutzt habe. Im Übrigen verweist der Beklagte auf seine Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.
Die Einzelrichterin hat die Streitsache am 18.02.2010 mit den Beteiligten erörtert. Im Erörterungstermin baten die Beklagtenvertreter um eine streitige Entscheidung, „da es für die Arbeitsweise der Finanzverwaltung (Stichwort „risikoorientierte Arbeitsweise”) wichtig sei, wie die Gerichte hinsichtlich der Anwendung von Berichtigungsvorschriften entscheiden würden”.
Die Streitsache ist am 13.10.2010 mündlich verhandelt worden. Auf die Sitzungsniederschrift wird verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der Beklagte war nicht berechtigt, die bestandskräftigen Steuerbescheide gem. § 129 bzw. § 173 Abs. 1 Satz 1 AO zu ändern.
1. Die Änderungsbescheide vom 30.07.2007 können keinen Bestand haben, weil die Änderung der Ausgangsbescheide nicht zulässig war. Sie kann nicht auf § 129 AO gestützt werden, da der korrigierte Fehler nicht auf einer offenbaren Unrichtigkeit im Sinne von § 129 Satz 1 AO beruht.
Gemäß § 129 AO können Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigt werden. Offenbare Unrichtigkeiten in diesem Sinne sind mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Dagegen schließen Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts die Annahme einer offenbaren Unrichtigkeit aus. § 129 AO ist ferner nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung (Ermittlungsfehler) beruht (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 23.10.2001 IX R 75/98, BFH/NV 2002, 467 und vom 16.03.2000 IV R 3/99, BStBl. II 2000, 372). Ermittlungsfehler gehen über mechanisches Versehen hinaus, weil ein Teil des rechtserheblichen Sachverhalts wegen fehlerhafter oder unterlassener oder unrichtiger Tatsachenaufklärung noch nicht bekannt ist.
So liegt zwar eine offenbare Unrichtigkeit beim Erlass eines Verwaltungsaktes vor, wenn das Finanzamt eine in der Steuererklärung des Steuerpflichtigen enthaltene offenbare, d. h. als solche erkennbare Unrichtigkeit als eigene in den Verwaltungsakt übernimmt (vgl. BFH-Urteile vom 24.07.1984 VIII R 304/81, BStBl. II 1984, 785 und vom 02.04.1987 IV R 255/84, BStBl. II 1987, 762; Tipke, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung, § 129 Tz. 15 m. w. N.). Das trifft aber nur dann zu, wenn sich die Unrichtigkeit ohne weiteres aus der Steuererklärung des Steuerpflichtigen, den beigefügten Anlagen oder aus den Akten des Finanzamtes ergibt. Anderenfalls liegt ein Ermittlungsfehler, aber keine offenbare Unrichtigkeit vor (BFH-Urteile vom 24.07.1984 VIII R 304/81, BStBl. II 1984, 785 und vom 12.04.1994 IX R 31/91, BFH/NV 1995, 1). Insbesondere wenn der Steuerpflichtige infolge eines Rechtsirrtums eine unvollständige oder unzutreffende Steuererklärung abgibt, scheidet eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 129 AO aus (vgl. Urteil FG Baden Württemberg vom 24.02.2005 8 K 85/03, EFG 2005, 748; Tipke, in: Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung, § 129 AO Tz. 15).
Bei Beachtung dieser Grundsätze beruht der Fehler im Streitfall (Doppelerfassung von Fahrtkosten) nicht auf einem mechanischen Versehen, sondern auf unzureichender Sachaufklärung im Veranlagungsverfahren. Bereits dem Kläger ist kein mechanischer Fehler unterlaufen, als er die Fahrten zwischen der Erstwohnung und der Arbeitsstätte sowohl als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Rückreisen) als auch als wöchentliche Familienheimfahrten (Hinreisen) steuerlich geltend machte. Vielmehr nahm er in beiden Streitjahren rechtsirrig an, dass er neben jeder einfachen Fahrt von der jeweils bei Fahrtantritt genutzten Wohnung zur Arbeitsstätte die wöchentliche Fahrt von der Arbeitsstätte zur Erstwohnung als Familienheimfahrt steuerlich geltend machen könne. Die insoweit ordentlich und lückenlos erstellten Excel-Tabellen spiegeln diese falsche Rechtsauffassung wieder. Die Übernahme des Fehlers durch den Beklagten kann daher ebenfalls kein mechanisches Versehen darstellen.
Hinzu kommt, dass sich im Streitfall die Unrichtigkeit nicht ohne weiteres aus der Erklärung, den beigefügten Anlagen oder aus den Akten ergibt und somit nicht offenbar ist. Während der Kläger in seinen Excel-Tabellen unter der Überschrift „Familienheimfahrten” sämtliche Hin- und Rückfahrten auflistete, setzte er in den Anlage N lediglich die Hälfte der Fahrten als Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung an. Weder aus der Steuererklärung noch aus den Anlagen ergibt sich zwingend, dass der Kläger die jeweilige 2. Fahrt als Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte angesetzt hat. Ebenso wäre es denkbar gewesen, dass noch weitere Fahrten Wohnung-Arbeitsstätte angefallen sind (wenn auch die Summe der Fahrten wiederum Anlass zu Nachfragen gegeben hätte), die er mit seinen Angaben steuerlich erklären wollte. Zur Ermittlung der genauen Fahrtkosten hätte bei der gebotenen sorgfältigen Bearbeitung der Steuererklärungen zunächst geklärt werden müssen, welche Fahrten zu welchem Zweck unternommen wurden. Diese Sachverhaltsermittlungen und rechtlichen Würdigungen sind jedoch bei den Veranlagungsarbeiten der Streitjahre unterblieben. Der Beklagte hat dadurch, dass er sämtliche Angaben der Kläger ungeprüft übernommen und sich aufdrängende Fragen nicht gestellt hat, seine Ermittlungspflichten verletzt.
2. Darüber hinaus war der Beklagte nicht berechtigt, die Einkommensteuerbescheide 2004 und 2005, geändert durch die Bescheide vom 30.07.2007, mit Bescheiden vom 09.05.2008 zum Nachteil der Kläger unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern.
Gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache im Sinne dieser Vorschrift ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Rechtliche Schlussfolgerungen, insbesondere juristische Wertungen und Subsumtionen, sind demgegenüber keine Tatsachen (vgl. BFH-Urteil vom 13.01.2005 II R 48/02, BStBl. II 2005, 451 m.w.N.).
Der Umstand, dass der Kläger im Streitfall die Familienheimfahrten mit einem Firmenwagen durchgeführt hat, ist eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Es kann nicht der Auffassung des Beklagten gefolgt werden, wonach nicht die Nutzung, sondern vielmehr die steuerfreie Nutzung des Firmenwagens die neue Tatsache darstelle. Die Steuerfreiheit ergibt sich aus dem Gesetz (§ 8 Abs. 2 Satz 5 2. HS), ist somit das Ergebnis einer rechtlichen Subsumtion.
Die Tatsache, dass der Kläger Familienheimfahrten mit dem Firmenwagen durchgeführt hat, ist nach Auffassung des Gerichts zumindest für das Streitjahr 2004 nicht nachträglich bekannt geworden. Der Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch die Finanzverwaltung entscheidet, ob eine Tatsache nachträglich bekannt geworden ist. Somit werden Tatsachen nachträglich bekannt, wenn die Willensbildung des für die Steuerfestsetzung zuständigen Beamten bereits abgeschlossen war (vgl. Rüsken, in: Klein, Kommentar zur Abgabgenordnung, 9. Auflage, § 173 Rz. 53 m. w. N.). Nach diesen Grundsätzen war dem Beklagten zum Zeitpunkt der Veranlagung zur Einkommensteuer des Streitjahres 2004 nach Auffassung des Gerichts bekannt, dass der Kläger die Familienheimfahrten mit dem Firmenwagen durchgeführt hat. Dies ergibt sich daraus, dass dieser auf Seite 2 der Anlage N angegeben hat, die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte mit dem Firmenwagen zurückgelegt zu haben. Hierzu zählen unstreitig auch die 48 Fahrten, die der Kläger an seinem 1. Wohnsitz in M-Stadt begonnen hat. Aus der Tatsache, dass der Kläger für diese Fahrten den Firmenwagen genutzt hat, ergibt sich somit auch zwingend, dass er zuvor die Heimfahrten mit diesem Fahrzeug durchgeführt haben muss.
Für das Streitjahr 2005 ist die Tatsache, dass der Kläger seine Familienheimfahrten ausschließlich mit dem Firmenwagen durchgeführt hat, nachträglich bekannt geworden, da sich aus der Steuererklärung nicht zweifelsfrei ergibt, mit welchem Pkw er die Fahrten durchgeführt hat. So werden in der Anlage N der elektronischen Steuererklärung als für die Fahrten Wohnung-Arbeitsstätte genutzte Verkehrsmittel beide Alternativen (privater Pkw und Firmenwagen) angegeben.
Eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2005 ist dennoch ausgeschlossen. Dem Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids steht der Grundsatz von Treu und Glauben gem. § 242 BGB entgegen. Der auch im Steuerschuldrecht geltende Grundsatz verbietet es dem Finanzamt, unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu erlassen, wenn dem Finanzamt die Tatsache vor dem Erlass des zu ändernden Bescheids in Folge Verletzung der ihm obliegenden Ermittlungspflicht – zunächst – unbekannt geblieben ist (vgl. BFH-Beschluss vom 28.02.2008 IV B 53/07 , BFH/NV 2008, 924 m.w.N.). Die Durchbrechung der Bestandskraft ist nur gerechtfertigt, wenn die Steuerfestsetzung trotz eines rechtmäßigen Verfahrens zur Einkommensteuerveranlagung unrichtig ist. Die Finanzverwaltung hat es in der Hand, statt einer endgültigen Steuerfestsetzung eine Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung – § 164 AO – oder eine vorläufige Steuerfestsetzung – 165 AO – zu erlassen. Mussten sich der Finanzverwaltung Zweifel bei der Prüfung der Steuererklärung bzw. im Veranlagungsverfahren und in den eingereichten Unterlagen ohne weiteres aufdrängen, darf sie diese nicht ignorieren und endgültig veranlagen. In diesem Fall muss von den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden. Die Angelegenheit ist entweder vollständig aufzuklären oder der Bescheid ist zumindest unter Vorbehalt der Nachprüfung zu erlassen. Wird beides versäumt, kann die Bestandskraft des Bescheids nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen durchbrochen werden, weil das Finanzamt von der ihm eröffneten Möglichkeit der Verhinderung des Eintritts der Bestandskraft keinen Gebrauch gemacht hat (vgl. Frotscher, in: Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 173 Rz. 55).
Diese Einschränkung der Änderungsbefugnis zu Lasten des Steuerpflichtigen aufgrund von Treu und Glauben greift indes nur ein, wenn der Steuerpflichtige die ihn treffende Mitwirkungspflicht, insbesondere die Steuererklärungspflicht nach §§ 90, 149 ff. AO in zumutbarem Umfang erfüllt hat. Der steuerlich relevante Sachverhalt muss hierbei richtig, vollständig und deutlich dem Finanzamt zur Prüfung unterbreitet worden sein (vgl. BFH-Beschluss vom 13.11.2007 VI B 160/06, BFH/NV 2008, 341 m.w.N.). Der Umfang dieser Mitwirkungspflichten richtet sich gemäß § 90 Abs. 1 Satz 3 AO nach den Umständen des Einzelfalles. So ist eine Ermittlungspflichtverletzung des Finanzamtes bei der Änderung eines Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO unbeachtlich, wenn der Steuerpflichtige den Sachverhalt ganz bewusst falsch darlegt und bei dem Finanzamt einen Irrtum über einen tatsächlichen Geschehensablauf hervorruft (vgl. BFH-Urteil vom 20.04.2004 IX R 39/01, BStBl. II BStBl 2001 II S. 2004, BStBl 2001 II S. 1072 m.w.N.). Liegt sowohl eine Verletzung der Ermittlungspflicht des Finanzamtes als auch eine Verletzung der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen vor, so sind die beiderseitigen Pflichtverletzungen grundsätzlich gegeneinander abzuwägen. In der Regel trifft in diesem Fall die Verantwortlichkeit den Steuerpflichtigen, so dass der Steuerbescheid geändert werden kann, es sei denn, der Verstoß gegen die Ermittlungspflicht überwiegt deutlich den Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht (vgl. BFH-Beschluss vom 28.02.2008 IV B 53/07 , BFH/NV 2008, 924 m.w.N.).
Im Streitfall hat der Beklagte seine ihm nach § 88 Abs. 1 Satz 1 AO obliegende Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, verletzt. Im Zeitpunkt der vorbehaltlosen und hinsichtlich der Mehraufwendungen für doppelte Haushalsführung nicht vorläufigen Veranlagung waren – nach damaliger Aktenlage – Widersprüchlichkeiten im Sachverhalt erkennbar und es war ebenso offensichtlich, dass der Sachverhalt sowohl hinsichtlich der doppelten Berücksichtigung von Fahrkosten als auch hinsichtlich der steuerfreien Nutzung eines Firmenwagens mit der Folge der Nichtabziehbarkeit von Aufwendungen für Familienheimfahrten noch einer Klärung bedurfte, und sich daher Zweifel und die Notwendigkeit weiterer Nachforschungen dem zuständigen Sachbearbeiter des Beklagten hätten aufdrängen müssen.
Der Beklagte kann sich im Streitfall bei der Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerveranlagungen auch nicht auf eine Verletzung der Mitwirkungspflicht der Kläger berufen. Es sind weder aus den Akten noch aus dem Vortrag der Beteiligten Anhaltspunkte ersichtlich, wonach die Kläger den Sachverhalt bewusst falsch dargelegt hätten, um den Beklagten über den tatsächlichen Geschehensablauf zu täuschen. Auch sind sie ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten umfassend nachgekommen. Dem steht nicht entgegen, dass im Ergebnis Fahrtkosten doppelt geltend gemacht wurden, obwohl sie dem Kläger gar nicht zugestanden haben. Die Kläger haben im finanzgerichtlichen Verfahren – vom Beklagten unbestritten – vorgetragen, sie seien rechtsirrig davon ausgegangen, beide Fahrten (1. Wohnsitz-Arbeitsstätte und Arbeitsstätte-1.Wohnsitz) steuerlich geltend machen zu können, einmal als Fahrt Wohnung-Arbeitsstätte und einmal als Familienheimfahrt. Insofern konsequent haben die Kläger sämtliche Fahrten unter Benennung der Kalenderdaten aufgelistet. Es hätte nun dem Beklagten oblegen, den korrekt dargestellten Sachverhalt steuerrechtlich richtig zu subsumieren bzw. letzte Zweifel am Sachverhalt mit den Klägern zu klären. Das gleiche gilt hinsichtlich der Angaben der Kläger zur Nutzung des Firmenwagens. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass die Eingabe des privaten Pkw neben dem Firmenwagen versehentlich erfolgt ist. So ergibt sich aus der Angabe des auswärtigen Kennzeichens in der Steuererklärung, dass im Streitfall ein Firmenwagen genutzt wurde und dies auch erklärt werden sollte. Letzte Klarheit über den Sachverhalt hätte sich der Beklagte nur durch Nachfragen erlangen können, wie sie schließlich nach Bestandskraft der Steuerbescheide auch erfolgten.
Bei der Abwägung der beiderseitigen Pflichtverstöße muss somit festgestellt werden, dass den Klägern zwar die fehlerhafte Angabe hinsichtlich der Pkw-Nutzung im Streitjahr 2005 vorgeworfen werden muss. Die falsche steuerliche Einordnung des Sachverhalts kann ihnen – wie bereits dargelegt – jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Demgegenüber waren die Zweifelsfragen, die sich dem Beklagten in Anbetracht beider Steuererklärungen aufdrängen mussten, derart massiv und offensichtlich, dass der Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht in Gestalt der unterlassenen notwendigen weiteren Ermittlungen vor vorbehaltsloser und endgültiger Veranlagung die Verletzung der Mitwirkungspflichten der Kläger nach Überzeugung des Gerichts bei weitem überwiegt. Insoweit kann es nach dem Dafürhalten des Gerichts auch keinen Unterschied machen, ob die Verletzung der Amtsermittlungspflicht auf persönlicher Nachlässigkeit beruhte oder das Ergebnis einer „risikoorientierten Arbeitsweise” war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 1 Satz 1 1. HS; Abs. 3, 155 FGO i. V. m. § 709 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO liegen im Streitfall nicht vor. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs.

RechtsgebietAOVorschriftenAO § 173 Abs 1 Nr 1 AO § 129

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