12.06.2013 · IWW-Abrufnummer 131854
Oberlandesgericht München: Urteil vom 15.03.2013 – 10 U 4171/12
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OLG München
15.03.2013
10 U 4171/12
Tenor:
1.
Auf die Berufung der Beklagten vom 17.10.2012 wird das Endurteil des LG Landshut vom 09.08.2012 (Az. 55 O 2897/11) abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
2.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
5.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
1
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
2
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
3
I. Das Landgericht hat zu.U.nrecht einen Anspruch der Klägerin auf Schmerzensgeld aus einem Fahrradunfall vom 14.09.2002 in der T.straße in A. bejaht.
4
Letztendlich unstreitig war im Berufungsverfahren, dies ergab sich bereits aus den schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. W. in erster Instanz, dass mit größter Wahrscheinlichkeit vor dem Vergleichsabschluss mit einer wie nun erfolgten Nachoperation (Einsetzung eines künstlichen Kniegelenks links) gerechnet werden musste. Auf Grund der in zweiter Instanz durchgeführten ergänzenden Beweisaufnahme durch Anhörung des Sachverständigen Dr. W. steht jedoch nunmehr fest, dass die durch die Nachoperation erfolgte Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin auch bereits von dem Vergleich der Parteien vor dem LG Landshut vom 24.10.2005 (Az. 43 O 1859/05 - Schmerzensgeld 25.000,00 EUR und immaterieller Vorbehalt) mitumfasst ist (vgl. zu den Voraussetzungen BGH NJW-RR 2006, 712 [BGH 14.02.2006 - VI ZR 322/04]; BGH NJW 1995, 1614; OLG Karlsruhe VersR 2010, 924), denn die Verletzungsfolgen (hier Operationsfolgen) stellten sich nach dem damals bereits bekannten sachverständigen Wissen als derart naheliegend dar, dass sie bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnten.
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1. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des BGH in NJW-RR 2006, 712 [BGH 14.02.2006 - VI ZR 322/04] gelten folgende Grundsätze, die auch dann anzuwenden sind, wenn sich die Parteien über ein Schmerzensgeld in einem Vergleich geeinigt haben:
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"Verlangt ein Kläger für erlittene Körperverletzungen uneingeschränkt ein Schmerzensgeld, so werden durch den zuerkannten Betrag alle diejenigen Schadensfolgen abgegolten, die entweder bereits eingetreten und objektiv erkennbar waren oder deren Eintritt jedenfalls vorhergesehen und bei der Entscheidung berücksichtigt werden konnte (ständige Rechtsprechung, vgl. Senat, Urteile vom 11. Juni 1963 - VI ZR 135/62 - VersR 1963, 1048, 1049; vom 8. Juli 1980 - VI ZR 72/79- VersR 1980, 975f.; vom 24. Mai 1988 - VI ZR 326/87- VersR 1988, 929f.; vom 7. Februar 1995 - VI ZR 201/94- VersR 1995, 471, 472; vom 20. März 2001 - VI ZR 325/99- VersR 2001, 876; vom 20. Januar 2004 - VI ZR 70/03- VersR 2004, 1334, 1335; BGH, Urteil vom 4. Dezember 1975 - III ZR 41/74- VersR 1976, 440, 441; vgl. auch Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearbeitung 2005, § 253 Rdn. 50; Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 322 Rdn. 161; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 322 Rdn. 13; Diederichsen, VersR 2005, 433, 439; von Gerlach, VersR 2000, 525, 530; Heß, ZfS 2001, 532, 534; kritisch MünchKommZPO/Gottwald, 2. Aufl., § 322 Rdn. 126). Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Schmerzensgeldes gebietet es, die Höhe des dem Geschädigten zustehenden Anspruchs aufgrund einer ganzheitlichen Betrachtung der den Schadensfall prägenden Umstände unter Einbeziehung der absehbaren künftigen Entwicklung des Schadensbildes zu bemessen (Senat, Urteile vom 6. Dezember 1960 - VI ZR 73/60 - VersR 1961, 164 f.; vom 20. März 2001 - VI ZR 325/99- a.a.O.; vom 20. Januar 2004 - VI ZR 70/03- a.a.O.; Diederichsen, a.a.O., 439 f.; von Gerlach, a.a.O.). Solche Verletzungsfolgen, die zum Beurteilungszeitpunkt noch nicht eingetreten waren und deren Eintritt objektiv nicht vorhersehbar war, mit denen also nicht oder nicht ernstlich gerechnet werden musste und die deshalb zwangsläufig bei der Bemessung des Schmerzensgeldes unberücksichtigt bleiben müssen, werden von der vom Gericht ausgesprochenen Rechtsfolge nicht umfasst und können deshalb Grundlage für einen Anspruch auf weiteres Schmerzensgeld sein (vgl. Senat, Urteile vom 11. Juni 1963 - VI ZR 135/62 -; vom 8. Juli 1980 - VI ZR 72/79-; vom 24. Mai 1988 - VI ZR 326/87-; vom 20. M ärz 2001 - VI ZR 325/99-; vom 20. Januar 2004 - VI ZR 70/03-; BGH, Urteil vom 4. Dezember 1975 - III ZR 41/74- alle a.a.O.; BGH(GS)Z 18, 149, 167; MünchKommZPO/Gottwald, a.a.O., Rdn. 135, 143; Stein/Jonas/Leipold, a.a.O., Rdn. 161; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 27. Aufl., § 322 Rdn. 23 a.E.; Zöller/Vollkommer, a.a.O., Rdn. 13 und Vor § 322 Rdn. 49; Diederichsen, a.a.O., 440; Prütting/Gielen, NZV 1989, 329, 330).
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Ob Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes erkennbar waren, beurteilt sich nicht nach der subjektiven Sicht der Parteien oder der Vollständigkeit der Erfassung des Streitstoffes durch das Gericht, sondern nach objektiven Gesichtspunkten, das heißt nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen (vgl. Senat, Urteile vom 24. Mai 1988 - VI ZR 326/87- und vom 7. Februar 1995 - VI ZR 201/94- beide a.a.O.; OLG Köln, ZfS 1992, 82 [OLG Köln 09.01.1991 - 13 U 219/90]; OLG Oldenburg, VersR 1997, 1541; OLG Köln, VersR 1997, 1551, [OLG Köln 27.06.1996 - 1 U 2/96] OLG Düsseldorf, OLGZ 1994, 546, 548 f.; OLG Koblenz, OLGR 2005, 120, 121; Musielak/Musielak, ZPO, 4. Aufl., § 322 Rdn. 52). Maßgebend ist, ob sich bereits in jenem Verfahren eine Verletzungsfolge als derart nahe liegend darstellte, dass sie schon damals bei der Bemessung des Schmerzensgeldes berücksichtigt werden konnte (vgl. Senat, Urteile vom 8. Juli 1980 - VI ZR 72/79-; vom 24. Mai 1988 - VI ZR 326/87-; vom 7. Februar 1995 - VI ZR 201/94- alle a.a.O.; siehe auch BGH, Urteil vom 4. Dezember 1975 - III ZR 41/74- a.a.O.; OLG Stuttgart, NJW-RR 1999, 1590, 1591; Kreft in BGB-RGRK, 12. Aufl., § 847 Rdn. 51)."
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2. Nach diesen Grundsätzen hat das Landgericht zu.U.nrecht den Eintritt nicht vorhersehbarer Spätschäden bei der Klägerin bejaht, weil die Verpflichtung der Beklagten im Vergleich vom 24.10.2005 zur Zahlung von Schmerzensgeld die nunmehr eingeklagten Spätschäden umfasst.
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Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. (ergänzt durch ein in der mündlichen Verhandlung übergebenes Konvolut an Literaturmeinungen) steht fest, dass bei der Einsetzung eines künstlichen Kniegelenks die Gesamtkomplikationsrate schon vor dem Vergleichsabschluss bis zu 30% betrug (vgl. Dr. Agneskirchner in Der Unfallchirurg 3 - 2004, S. 228). Nach den Angaben des Sachverständigen Dr. W. seien zum maßgeblichen Zeitpunkt (2005) die bei K.-P. Günther im Handbuch Orthopädie/Unfallchirurgie 2013 zur Endoprothetik auf S. 26f. aufgeführten Komplikationen wegen der schlechteren OP-Technik eher in noch höherem Maße zu erwarten gewesen. Danach bewegt sich der Anteil von Patienten mit berichteten Gelenkschmerzen auch noch längere Zeit nach der durchgeführten Operation mindestens im Bereich von 10 bis 34% nach Knieendoprothese. In den Untersuchungen mit methodisch bester Qualität zeigten sich etwa 20% der Patienten nach Knie-TEP mit persistierenden Schmerzen.
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Nach den vom Sachverständigen herausgearbeiteten objektiven Gesichtspunkten, das heißt nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines insoweit Sachkundigen (s.o.), waren die von der Klägerin jetzt vorgetragenen Verletzungsfolgen im Zeitpunkt der Zuerkennung eines Schmerzensgeldes weit überwiegend erkennbar, weil mit ihnen ernstlich gerechnet werden musste. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn wie hier eine Gesamtkomplikationsrate von 30% besteht und 20% der Patienten mit weitergehenden Schmerzen rechnen mussten. Nach den weiteren Erläuterungen des Sachverständigen ist bei der Einsetzung eines künstlichen Kniegelenks auch grundsätzlich davon auszugehen, dass dies eine schlechtere Beweglichkeit verglichen mit einem gesunden Knie bietet und auch gerade eine Vielzahl von Bewegungen, gerade etwa bei Sportarten, die eine starke Beanspruchung des Kniegelenks verursachen, nicht mehr möglich sind (wie etwa beim Skifahren, vgl. hierzu auch den Vortrag der Klägerin, S. 3 des Tatbestands des Ersturteils). Die von der Klägerin geklagten Beeinträchtigungen (vgl. Tatbestand a.a.O.) waren daher, wenn auch nicht in jedem Detail exakt vorhersehbar, wenn doch fast ein Drittel bzw. hinsichtlich der Schmerzen ein Fünftel der Patienten schon 2005 vergleichbare bzw. identische Komplikationen zu erwarten hatten. Auch die Erhöhung einer MdE von 20 auf 30% umfasst den vom Sachverständigen geschilderten Komplikationsbereich. Dies stellt keine so wesentliche Erhöhung dar, die die Arbeitsfähigkeit der Klägerin so dramatisch verschlechtert hätte, dass dies das gefundene Ergebnis in Frage stellen müsste. Soweit das Landgericht im Ersturteil darauf verweist, der BGH (NJW 1995, 1614) habe bei einer geschätzten dreiprozentigen Wahrscheinlichkeit (eines Wiederaufflackerns einer Entzündung) abgelehnt, dass die Verletzungsfolge als naheliegend bezeichnet wird, führt dies hier nicht weiter. Zum einen handelte es sich nach der Entscheidung des BGH tatsächlich um 3 Promille und nicht um 3 Prozent Wahrscheinlichkeit. Im Übrigen erscheint es schon fraglich, ob ein "Hochrechnen" auf die 10 prozentige Wahrscheinlichkeit, von der das Landgericht ausgegangen ist, zulässig ist. Jedenfalls bei dem nun vom Senat ermittelten Grad von zu erwartenden Komplikationen im von der Klägerin geschilderten vergleichbaren Bereich musste mit Komplikation ernstlich gerechnet werden. Die Klägerin kann deshalb insoweit kein weiteres Schmerzensgeld verlangen, weshalb die Klage als unbegründet abgewiesen werden muss.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
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IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
Verkündet am 15.03.2013