Ambulantisierung: Jede zweite Praxis sieht Risiken – nur jede sechste Chancen

Niedergelassene Ärzt:innen befürchten Mehraufwand für ihre Praxen – bei ohnehin schon überlasteten Strukturen

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag verankert, dass eine verstärkte Ambulantisierung von bisher stationär erbrachten Leistungen erfolgen soll. Das berührt nicht nur Kliniken: Fast 80 Prozent der Hausärzt:innen, rund drei Viertel der Fachärzt:innen und mehr als die Hälfte der Psychologischen Psychotherapeut:innen sowie ein Viertel der Zahnärzt:innen fühlen sich davon betroffen. Und fast die Hälfte dieser Niedergelassenen sieht die zunehmende Ambulantisierung als Risiko (45,7 Prozent). Lediglich 15,9 Prozent betrachten diese Entwicklung als Chance. Für die Antwort „Beides“ entschieden sich 38,4 Prozent.

Das größte Risiko: Mehrbelastung für niedergelassene Ärzt:innen

Bei den Risiken gibt es eine klare Top-Antwort: 83,8 Prozent der Responder, die eine stärkere Ambulantisierung zumindest teilweise als Risiko ansehen, befürchten eine Mehrbelastung – zum Beispiel durch Patient:innen, die bei Komplikationen nach der Behandlung ambulante Praxen in ihrer Nähe aufsuchen, auch wenn diese den Eingriff gar nicht vorgenommen haben. Dabei sei der ambulante Sektor in vielen Bereichen schon jetzt überlastet: „Ambulante Versorgung wird aufgrund des Praxissterbens gar nicht möglich sein, alle Praxen haben bereits jetzt Aufnahmestopp“, kommentiert beispielsweise ein Responder. Ein anderer schreibt: „Die Menge der Patienten ist jetzt schon kaum mehr machbar.“ Ähnliche Stimmen kommen aus den psychotherapeutischen Bereich: „Wir sind eh schon überlastet, und es gibt nicht genügend Therapieplätze.“

Mehr als zwei Drittel befürchten außerdem Risiken für Patient:innen durch die kürzere Beobachtungszeit im Vergleich zu einer stationären Behandlung. 57,1 Prozent erwarten eine schlechtere Ausbildung in Krankenhäusern, da viele Standardfälle dort nicht mehr versorgt würden. Und 54,9 Prozent rechnen damit, dass die Verlagerung von Leistungen in den ambulanten Sektor zu Schließungen von Krankenhäusern führen würde.

Die größte Chance: Vorteile für Patient:innen durch Vermeidung des Klinikaufenthalts

Auch bei der Frage nach den Chancen, die eine zunehmende Ambulantisierung bieten würde, sticht ein Argument klar hervor: Die Vorteile für Patient:innen durch die Vermeidung des Krankenhausaufenthalts und kürzere Wege. Rund drei Viertel der Ärzt:innen, die die Entwicklung als Chance oder zumindest als Mix aus Chancen und Risiken sehen, wählten diese Antwort aus.

Auf Platz 2 folgt mit 48,6 Prozent die Entlastung von Krankenhäusern, die sich so auf schwerere Fälle konzentrieren könnten und weniger Personalengpässe zu bewältigen hätten. Gut ein Drittel der Ärzt:innen erhofft sich zudem Einsparungen im Gesundheitswesen. Allerdings müsse eine angemessene Vergütung der in den ambulanten Bereich verschobenen Leistungen gesichert sein, mahnten zahlreiche Responder an.

Vor allem Haus- und Fachärzt:innen betroffen

Fast 80 Prozent der Hausärzt:innen, rund drei Viertel der Fachärzt:innen und mehr als die Hälfte der Psychologischen Psychotherapeut:innen sowie ein Viertel der Zahnärzt:innen sehen mögliche Auswirkungen auf ihre Praxen.

Kommentar: Die zu kurz gedachte Reform

Prof. Dr. med. Dr. rer. pol. Konrad Obermann, Forschungsleiter der Stiftung Gesundheit

Mal wieder! Die angekündigte „große Reform“ bleibt leider im Dickicht der Strukturen und Zuständigkeiten stecken.

Eine Grundkonstante (man ist versucht zu sagen: ein Grundübel) des deutschen Gesundheitssystems ist die weiterhin deutliche Trennung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Trotz vielfältiger Bemühungen gibt es weiterhin nur Inseln und partielle Lösungen für eine integrierte Versorgung von Patienten. Die separate Vergütung ambulanter und stationärer Leistungen verhindert nach wie vor eine nahtlose und vorausschauende Versorgung insbesondere von chronisch kranken Patienten, aber auch eine wirksame und nachhaltige Rehabilitation.

Die geplante Krankenhausreform hat zweifelsohne sehr gute und nachvollziehbare Vorschläge für eine wirksame und auch effizientere stationäre Versorgung gemacht. Ambulantisierung bedeutet hierbei eine Stärkung der wohnortnahen und bedarfsgerechten kurzstationären Versorgung und den Abbau von „bisher unnötig stationär erbrachten Leistungen“. Eine konsequente Umsetzung wird aber durch die kleinstaatliche Planung auf Länderebene und die korporativen Strukturen der Selbstverwaltungen massiv behindert.

Man kann eine Krankenhausreform nicht ohne die Niedergelassenen denken. Sie sind diejenigen, die zuweisen, die Patienten weiter versorgen, die auch ambulante Eingriffe vornehmen können und damit in Konkurrenz zu Krankenhäusern stehen. Eine schlüssige Planung muss deshalb eine Gesamtbetrachtung vornehmen und frühzeitig die niedergelassenen Haus- und Fachärzte einbinden.

Die jetzt vorliegenden Ergebnisse einer umfassenden Befragung der Kolleginnen und Kollegen in der ambulanten Versorgung sind eindeutig: Mehr als acht von zehn Responder sehen die reale Gefahr einer Überlastung durch Komplikationen nach ambulanten Eingriffen. Und mehr als zwei Drittel befürchten eine schlechtere Versorgung durch eine verkürzte postoperative Beobachtungsdauer.

Natürlich werden auch die Chancen wahrgenommen – von vermiedenen Krankenhaus-Aufenthalten, einer Entlastung der Kliniken, Kosteneinsparungen und einer besseren Versorgung im ländlichen Raum. Insgesamt sehen aber alle ambulanten Versorgergruppen deutlich mehr Risiken als Chancen für ihre Praxen. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass es nicht primär um die „Korrektheit“ dieser Wahrnehmung geht, sondern darum, wie der ambulante Sektor die Reform letztlich rezipiert. Mehr Einbindung, mehr Informationen, mehr strukturierte Rückmeldungen und Beachtung der Hinweise ambulant tätiger Ärzte wären hier – wie eigentlich bei jeder Reform – hilfreich gewesen.

Neue Formen der Versorgung sind dringend geboten: Die sehr hohen Ausgaben für Gesundheit, die sich verschärfende Personalproblematik, die vielfach dokumentierte suboptimale klinische Versorgung, die sich mehrenden kritischen Stimmen von Patienten erhöhen den Druck. Es gibt gut durchdachte Ansätze von Praktikern, Klinikern, Ökonomen und Management-Beratern. Die große Herausforderung besteht darin, diese systemisch zu betrachten, Freiheiten zum Experimentieren einzuräumen und konsequent die Resultate zu erfassen, zu vergleichen und zu analysieren.

Sinnvolle Ansätze wie Hybrid-DRGs, Level 1i-Krankenhäuser als sektorenübergreifende Vor-Ort-Versorger, transparente Qualitätsinformationen, Stärkung der Pflege, Digitalisierung, Reduktion des Dokumentationsaufwands und Mindestqualitätsanforderungen für Leistungsgruppen sollten mit einer konsequent integrierten regionalen Planung und Vergütung verbunden werden, um wirklich eine „Revolution“ nicht nur im Krankenhaussektor, sondern in der Gesundheitsversorgung insgesamt anzustoßen. Hoffen wir, dass dieser Reform bald weitere folgen, um in kleinen Schritten vom jetzt Möglichen zum heute noch unmöglich Scheinenden zu kommen.

Methodik & Rahmendaten

Erhebung: Repräsentative Erhebung mithilfe eines Online-Fragebogens

Erhebungszeitraum: 6.- 13. September 2023

Sample: Für jede Berufsgruppe wurde eine repräsentative geschichtete Zufallsstichprobe angeschrieben. Für die aktuelle Fokus-Frage erhielten insgesamt 10.000 niedergelassene Hausärzt:innen, Fachärzt:innen, Zahnärzt:innen und Psychologische Psychotherapeuten aus dem Strukturverzeichnis der Versorgung eine Einladung zur Befragung. Zusätzlich wurden 1.714 Ärzt:innen angeschrieben, die regelmäßig an der Befragung teilnehmen.

Rücklauf: 760 valide Fragebögen (Rücklaufquote 6,5 Prozent). Die Ergebnisse sind repräsentativ mit einem Konfidenzniveau von 99% (Konfidenzintervall < ±5%).