09.03.2007 · IWW-Abrufnummer 070824
Landessozialgericht Sachsen: Beschluss vom 19.05.2006 – L 6 B 168/05 R-KO
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
L 6 B 168/05 R-KO
S 14 RJ 699/03 Sozialgericht Chemnitz
Auf die Beschwerde wird die im Wege der Prozesskostenhilfe zu gewährende Vergütung des Beschwerdeführers aus der Staatskasse auf 561,24 EUR festgesetzt.
Gründe:
I.
Streitig ist, ob dem beschwerdeführenden Rechtsanwalt für die Vertretung der Klägerin im sozialgerichtlichen Verfahren wegen Erwerbsminderungsrente die Höchstgebühr nach § 116 Abs. 1 Ziff. 1 in Höhe von 660,00 EUR oder nur eine um 5 % erhöhte Mittelgebühr zusteht. Streitig ist darüber hinaus die Dokumentenpauschale nach § 27 BRAGO.
Am 29.09.2003 erhob der Beschwerdeführer (Bf.) im Namen der Klägerin Klage zum Sozialgericht Chemnitz gegen einen Bescheid der Beklagten vom 16.04.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.08.2003, mit welchem ein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente verneint worden war. Er beantragte zunächst Akteneinsicht und fertigte insgesamt 227 Kopien (Verwaltungsakte, Unterlagen der Klägerin). Das Verfahren endete durch Klagerücknahme, nachdem ein psychiatrisches Gutachten einschließlich ergänzender Stellungnahme eingeholt und umfangreiche medizinische und berufskundliche Unterlagen beigezogen worden waren. Mit Beschluss vom 18.03.2004 war der Klägerin Prozesskostenhilfe ohne Raten bewilligt und der Beschwerdeführer beigeordnet worden. Mit Schreiben vom 02.02.2005 beantragte der Bf. die Festsetzung seiner Vergütung gegenüber der Staatskasse wie folgt: 1. Gebühr nach § 116 Abs. 1 Nr. 1 BRAGO 660,00 EUR 2. Fahrtkosten gemäß § 28 BRAGO 26,88 EUR 3. Kopierkosten gemäß § 27 BRAGO für 227 Kopien 76,55 EUR 4. Postpauschale gemäß § 26 BRAGO (Pauschsatz) 20,00 EUR Summe 783,43 EUR Umsatzsteuer gemäß § 25 Abs. 2 BRAGO 125,35 EUR Gesamtbetrag 908,78 EUR
Mit Beschluss vom 25.04.2005 setzte das Sozialgericht die aus der Staatskasse zu zahlenden Gebühren und Auslagen auf 447,10 EUR fest. Als Gebühr gemäß § 116 Abs. 1 BRAGO wurde lediglich eine um 5 % erhöhte Mittelgebühr angenommen, Reisekosten und Abwesenheitsgeld wurden als nicht erstattungsfähig angesehen und als Fotokopiekosten gemäß § 27 BRAGO wurden 29,95 EUR (für 88 notwendige Kopien) angesetzt. Es sei nicht zulässig, ganze Behördenakten abzulichten ohne Rücksicht auf Inhalt und Beutung der einzelnen Seiteninhalte.
Auf die Erinnerung des Bf. wurde der Kostenfestsetzungsbeschluss abgeändert und die anwaltliche Vergütung auf 480,97 EUR festgesetzt. Hinsichtlich der um 5 % erhöhten Mittelgebühr folgte das Gericht der Urkundsbeamtin; anders als in dem Beschluss vom 25.04.2005 wurden jedoch die geltend gemachten Reisekosten und das Abwesenheitsgeld (§ 28 Abs. 2 und Abs. 3 BRAGO) mit 28,88 EUR (also 2,00 EUR mehr als beantragt) berücksichtigt.
Mit der - zulässigen - Beschwerde macht der Bf. geltend, nach der Rechtsprechung des LSG Thüringen sei in einem Normalfall für eine Streitigkeit über eine Dauerrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung die Höchstgebühr anzusetzen. Die Kürzung auf 88 Kopien sei nicht zulässig, da nicht aus der Sicht nach Abschluss des Verfahrens zu entscheiden sei, wie viele Kopien tatsächlich notwendig gewesen seien. In der Beschwerdeschrift vom 15.08.2005 reduziert der Bf. seine Forderung auf insgesamt 832,22 EUR.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und sie dem Sächsischen Landessozialgericht zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die zulässige Beschwerde ist insoweit begründet, als die Vergütung auf insgesamt 561,24 EUR festzusetzen ist.
Die Vergütung des Bf. richtet sich im vorliegenden Fall nach der BRAGO, weil ihm der Auftrag zur Erledigung der Angelegenheit noch vor dem 01.07.2004 erteilt wurde (§§ 60, 61 Abs. 1 Satz 1 RVG). Das Verfahren der Beschwerde richtet sich hingegen bereits nach dem RVG, da die Beschwerde erst nach dem 01.07.2004 erhoben wurde (§ 61 Abs. 1 Satz 2 RVG).
Der Anspruch des Beschwerdeführers gegenüber der Staatskasse auf die Verfahrensgebühr ergibt sich deshalb aus § 121 BRAGO i.V.m. den §§ 116 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 12 Abs. 1 BRAGO. § 12 BRAGO bestimmt, dass bei Rahmengebühren der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit, des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit sowie der Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen bestimmt. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, so ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. § 12 Abs. 2 BRAGO schreibt vor, dass im Rechtsstreit das Gericht ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer einzuholen hat.
§ 12 BRAGO kann im Rahmen der Vergütung bei Prozesskostenhilfe nur bedingt Anwendung finden. § 12 BRAGO ist Ausdruck des traditionell ständisch strukturierten Anwaltsrechts. Das ganze System der BRAGO ist nicht auf eine Entlohnung nach "Leistung" oder "Arbeit" bzw. "Aufwand" abgestellt. Der Umstand, dass sich die Gebühren der BRAGO nach dem Streitwert berechnen, weist auf eine soziale Komponente hin: Der Anwalt soll als verantwortliches unabhängiges Organ der Rechtspflege durchaus auch von der Möglichkeit Gebrauch machen, bei nicht begüterten Mandanten mehr Arbeit zu investieren als von den zustehenden Gebühren her adäquat wäre. Auf diese Weise werden durch die einträglichen Mandate die anderen mit finanziert, was einen von dem Gesetzgeber der RRAGO durchaus beabsichtigten sozialen Umverteilungseffekt mit sich bringt.
Durch die Einführung des Armenrechts bzw. der Prozesskostenhilfe ist dieser Effekt im gewissen Sinne "nach unten abgefedert": Was die wirklich Bedürftigen im Sinne des Sozialhilferechts betrifft, von denen der Anwalt bei konsequenter Berücksichtigung der genannten "sozialen Komponente" überhaupt nichts verlangen dürfte, springt der Staat ein. Es ist klar, dass hierdurch die "Vermögens- und Einkommensverhältnisse des Auftraggebers" bei der Prozesskostenhilfe, jedenfalls wenn sie ohne Raten bewilligt wird, keine Rolle mehr spielen können. Auftraggeber ist der Staat, der hiermit ein eigenes sozialpolitisches Anliegen verfolgt; daher passt es nicht, ihn als erstattungspflichtigen Dritten im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 BRAGO (womit in der Regel der Prozessgegner gemeint ist) anzusehen. Dadurch, dass der Staat als Auftraggeber fungiert und dem Anwalt seine standesrechtliche Sozialpflichtigkeit abnimmt, entfällt nach der Natur der Sache auch dessen Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 BGB; Raum für eine ansonsten vom Gesetz vorgesehene "Sozialpolitik" des Anwalts seinen Mandanten gegenüber ist dann nicht mehr.
Durch die Bewilligung von Prozesskostenhilfe will der Staat die Chancengleichheit der Parteien bzw. Beteiligten vor Gericht herstellen, dies geschieht dadurch, dass er eine Standardleistung bei dem von der Partei auszuwählenden Anwalt bestellt. Es besteht eine vergleichbare Situation wie beim Pflichtverteidiger nach der StPO. Standardleistung heißt, dass der Anwalt seine Berufspflichten in vollem Umfange wahrzunehmen hat, eine darüber hinausgehende Verpflichtung besteht allerdings nicht. Er darf keine Fehler machen, ist aber andererseits nicht verpflichtet, darüber hinaus tätig zu werden.
Für diese Standardleistung ist auch eine Standardvergütung zu gewähren. Systemwidrig wäre eine "Bewertung" der anwaltlichen Tätigkeit durch die Urkundsbeamten der Gerichte in jedem Einzelfall, wobei dann gegebenenfalls nicht sachgerechte Kriterien wie Anzahl, Umfang der Schriftsätze etc. herangezogen werden. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit bemisst sich nicht nach den Spuren, die sie hinterlässt.
Bei Rahmengebühren muss es ähnlich wie bei der Vergütung des Pflichtverteidigers nach § 99 BRAGO leicht handhabbare Kriterien für die Frage geben, wann eine "besonders umfangreiche und schwierige Sache" vorgelegen hat. Die Höchstgebühr wird daher nur gerechtfertigt sein, wenn mehrere Termine zur mündlichen Verhandlung stattgefunden haben und auch sonst signifikante Abweichungen vom Durchschnittsfall vorliegen. In Verfahren vor den Sozialgerichten, hierauf bezieht sich ja § 116 Abs. 1 Satz 1 BRAGO, kann eine Rentenangelegenheit schon deswegen nicht regelmäßig die Höchstgebühr auslösen, weil Rentenangelegenheiten typische Sozialgerichtsangelegenheiten sind. Angesichts des Umstandes, dass vor den Sozialgerichten allerdings auch Sachen ohne medizinische Gutachten (beispielsweise im Bereich der Arbeitslosenversicherung) verhandelt werden, ist für den typischen durchschnittlichen existenzsichernden Rentenfall eine um 20 % erhöhte Mittelgebühr anzunehmen.
Ein solcher Fall war hier gegeben. Sowohl von der Dauer des Verfahrens als auch vom Aktenumfang her befand sich der Fall im statistischen Mittel, es wurde in der üblichen Weise berufskundlich und medizinisch ermittelt, außergewöhnliche Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art lagen nicht vor.
Die Gebühr ist allerdings gemäß Einigungsvertrag um 10 % zu kürzen, da der Bf. vor dem 31.12.2003 beauftragt wurde (vgl. Landgericht Berlin, Entscheidung vom 19.08.2005 - 82 AR 93/05 - RVG report 2005, 462). Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (1 BVR 487/01, NJW 2003, 737), wonach der Abschlag von 10 % verfassungswidrig ist, gilt erst für nach dem 31.12.2003 entstandene Ansprüche (vgl. OLG Rostock, Entscheidung vom 08.11.2005 - 8 W 41/05 - OLG-NL 2006, 66). Die so errechnete Mittelgebühr ((50 + 660): 2 - 10 %) von 319,50 EUR ist für den typischen existenzsichernden Rentenfall um 20 % zu erhöhen, es ergibt sich somit eine Gebühr nach § 116 Abs. 1 Satz 1 BRAGO von 383,40 EUR Zuzüglich Fahrtkosten 13,88 EUR und Abwesenheitsgeld 15,00 EUR sowie der Kopierkosten 51,55 EUR und der Auslagenpauschale 20,00 EUR ergeben sich somit 483,83 EUR, zuzüglich der Mehrwertsteuer 77,41 EUR also insgesamt die Summe von 561,24 EUR.
Hinsichtlich der Fahrtkosten und des Abwesenheitsgeldes (insoweit ist dem Sozialgericht zu folgen) hatte sich der Bf. zu seinen Ungunsten um 2,00 EUR verrechnet, insofern stehen 28,88 EUR und nicht 26,88 EUR zu. Hinsichtlich der Kopierkosten sind die geltend gemachten 227 Kopien anzuerkennen. Dem Bf. ist zuzugeben, dass insoweit nicht von dem Standpunkt ex post argumentiert werden kann. Er war verpflichtet, sich einen vollständigen Überblick über die Angelegenheit zu schaffen; auch zur Wahrung der Chancengleichheit war es unabdingbar, dass auf Klägerseite alle Unterlagen auf die das Gericht seine Entscheidung hätte stützen können, bekannt waren und vorlagen. Hierzu gehörten auch die von der Klägerin selbst eingereichten Unterlagen. Da die Erforderlichkeit der Kopien anwaltlich versichert wurde, verbietet sich insoweit ein Nachzählen. Allerdings ergeben sich unter Anwendung von § 27 BRAGO i.V.m. Ziff. 9000 des Kostenverzeichnisses zum GKG lediglich 51,55 EUR (25,00 EUR für die ersten 50 Kopien und 26,25 EUR für die weiteren 177 Kopien).
Dieser Beschluss ergeht durch den Berichterstatter als Einzelrichter ( § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG), weil eine ausnahmsweise mögliche Übertragung der Sache auf den Senat mangels besonderer Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art und mangels grundsätzlicher Bedeutung der Sache nicht veranlasst ist (§ 46 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG).
Der Beschluss ist gebührenfrei, ohne dass dafür Kosten zu erstatten sind (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG) und kann nicht weiter angefochten werden ( § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 RVG i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).