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30.08.2011 · IWW-Abrufnummer 112953

BGH: Beschluss vom 14.07.2011 – V ZB 67/11

Wird die Klage einer Wohnungseigentümergemeinschaft gegen einen Dritten in dem erstinstanzlichen Urteil fälschlich als "Wohnungseigentumssache" bezeichnet, darf sich der Rechtsanwalt bei Einlegung der Berufung nicht darauf verlassen, dass die besondere Rechtsmittelzuständigkeit gemäß § 72 Abs. 2 GVG eingreift.


Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
am 14. Juli 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Krüger,
die Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Roth und
die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Potsdam vom 22. Februar 2011 wird auf Kosten der Beklagten als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 2.500 €.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht Potsdam hat die Beklagten als Mieter einer Eigentumswohnung verurteilt, die Nutzung von Flächen zu unterlassen, die im Gemeinschaftseigentum der klagenden Wohnungseigentümergemeinschaft stehen. Im Rubrum des Urteils ist die Sache als "Wohnungseigentumssache" bezeichnet. Dagegen haben die Beklagten "wegen Wohnungseigentumsrecht" Berufung bei dem Landgericht Frankfurt/Oder eingelegt. Anlässlich eines Antrags der Beklagten auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hat der Vorsitzende auf Bedenken gegen die Zuständigkeit hingewiesen. Daraufhin haben die Beklagten bei dem Landgericht Potsdam Berufung eingelegt, diese zugleich begründet und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist beantragt. Das Landgericht Potsdam hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wenden sich die Beklagten mit der Rechtsbeschwerde.

II.

2

Die Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

3

Sie ist zwar gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO ohne Zulassung statthaft. Zulässig ist sie aber gemäß § 574 Abs. 2 ZPO nur, wenn auch die dort bestimmten weiteren Voraussetzungen gegeben sind. Das ist nicht der Fall. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) noch ist eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Insbesondere hat das Berufungsgericht keine überzogenen Anforderungen gestellt, die den Beklagten den Zugang zu der an sich gegebenen Berufung unzumutbar erschweren (vgl. dazu nur Senat, Beschluss vom 12. April 2010 - V ZB 224/09, NJW-RR 2010, 1096 Rn. 4 mwN).

4

1.

Die Beklagten haben sowohl die Berufungs- als auch die Berufungsbegründungsfrist versäumt, weil nicht das zunächst angerufene Landgericht Frankfurt/Oder, sondern das Landgericht Potsdam gemäß § 72 Abs. 1 GVG zuständiges Berufungsgericht ist. Auch die Rechtsbeschwerde geht davon aus, dass es sich nicht um eine der in § 43 WEG aufgeführten Wohnungseigentumssachen handelt, sondern um eine allgemeine Zivilsache. Die besondere Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt/Oder als gemeinsames Berufungsgericht in Wohnungseigentumssachen für den Bezirk des Oberlandesgerichts Brandenburg (§ 72 Abs. 2 Satz 2 GVG i.V.m. § 3a der brandenburgischen Gerichtszuständigkeitsverordnung (GVBl. II/07 S. 113)) ist damit nicht begründet. Die Zulässigkeit der Berufung hängt deshalb entscheidend davon ab, ob den Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

5

2.

Das Berufungsgericht hat die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsantrags auf die Überlegung gestützt, die Versäumung der Berufungsfrist beruhe auf einem den Beklagten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten im Sinne von § 233 ZPO. Dieser habe den Streitgegenstand ungeachtet der Bezeichnung als Wohnungseigentumssache eigenständig überprüfen müssen. Das zunächst angerufene Landgericht Frankfurt/Oder habe seine Unzuständigkeit bei Eingang der Rechtsmittelschrift nicht ohne weiteres erkennen können.

6

3.

Dies entspricht in der Sache der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die weder fortzubilden noch zu ergänzen ist. Auch werden die Anforderungen an die Einlegung von Rechtsmitteln nicht überspannt.

7

a)

Anerkannt ist, dass der Rechtsanwalt die Berufungsschrift auf ihre Richtigkeit einschließlich der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts überprüfen muss (vgl. nur Senat, Beschluss vom 12. April 2010 - V ZB 224/09, NJW-RR 2010, 1096 Rn. 12 mwN). Diese Prüfung haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten nicht mit der gebotenen Sorgfalt vorgenommen.

8

aa)

Aus der Bezeichnung in dem angefochtenen Urteil des Amtsgerichts als "Wohnungseigentumssache" allein konnten sie nicht schließen, dass die in § 72 Abs. 2 GVG angeordnete Zuständigkeitskonzentration in Wohnungseigentumssachen bei dem nach Landesrecht zuständigen Landgericht Frankfurt/Oder eingriff. Die besondere Zuständigkeit gemäß § 72 Abs. 2 GVG gilt nämlich nicht für jede Wohnungseigentumssache, sondern nur bei den in § 43 Nr. 1 bis 4 WEG aufgeführten Binnenstreitigkeiten der Wohnungseigentümer sowie gemäß § 43 Nr. 6 WEG für das Mahnverfahren. Wegen der Beteiligung eines Dritten konnte hier allenfalls die auf Klagen eines Dritten gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft bezogene Vorschrift des § 43 Nr. 5 WEG als einschlägig angesehen werden. Gerade in den dort genannten Verfahren richtet sich die Rechtsmittelzuständigkeit gemäß § 72 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 GVG aber nach den allgemeinen Vorschriften und nicht nach der besonderen Zuständigkeit in Wohnungseigentumssachen. Für diese Klagen ist auch nicht das Amtsgericht ausschließlich zuständig (§ 23 Nr. 2 Buchst. c GVG). Mit dieser Differenzierung verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, für die in § 43 Nr. 5 WEG geregelten Klagen Dritter gegen die Wohnungseigentümergemeinschaft sowohl die sachliche Zuständigkeit als auch die Rechtsmittelzuständigkeit wertabhängig auszugestalten (BT-Drucks. 16/3843 S. 29). Die Zuständigkeit für eine Berufung in Wohnungseigentumssachen erfordert auch aus diesem Grund eine besonders sorgfältige und einzelfallbezogene Prüfung des Rechtsanwalts (vgl. Zöller/ Lückemann, ZPO, 28. Aufl., § 72 GVG Rn. 4; MünchKomm-ZPO/Zimmermann, 3. Aufl., § 72 GVG Rn. 14).

9

bb)

Aus dem von der Rechtsbeschwerde herangezogenen Grundsatz der Meistbegünstigung ergibt sich nichts anderes. Danach kann ein an sich unzulässiges Rechtsmittel als zulässig anzusehen sein, wenn für den Rechtsmittelführer aufgrund einer Unklarheit der angefochtenen Entscheidung Unsicherheit darüber entsteht, welches Rechtsmittel er bei welchem Gericht einlegen soll (BGH, Urteil vom 4. Oktober 1978 - IV ZB 84/77, BGHZ 72, 182, 187 ff.; Senat, Beschluss vom 21. Oktober 1993 - V ZB 45/93, WM 1994, 180, 181; Zöller/ Heßler, ZPO, 28. Aufl., Vor § 511 Rn. 31). An einer solchen durch einen Fehler des Gerichts verursachten Unklarheit fehlt es hier, weil allein die Bezeichnung als Wohnungseigentumssache - wie ausgeführt - keinen sicheren Rückschluss auf das zuständige Berufungsgericht erlaubt.

10

b)

Rechtsfehlerfrei ist auch die Annahme des Berufungsgerichts, die Ursächlichkeit der schuldhaften Fristversäumnis sei nicht im Hinblick auf das Verhalten des Vorsitzenden der Zivilkammer des zunächst angerufenen Landgerichts Frankfurt/Oder entfallen.

11

aa)

Es entspricht der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass keine generelle Fürsorgepflicht des unzuständigen Rechtsmittelgerichts besteht, durch Hinweise oder andere geeignete Maßnahmen eine Fristversäumung des Rechtsmittelführers zu verhindern. Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern muss auch berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt werden muss. Einer Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten muss die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht allgemein abgenommen und auf unzuständige Gerichte verlagert werden. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres" bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen war und die nicht rechtzeitige Aufdeckung der nicht gegebenen Zuständigkeit auf einem offenkundig nachlässigen Fehlverhalten des angerufenen Gerichts beruht. In diesen Fällen stellt es für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts keine nennenswerte Belastung dar, einen fehlgeleiteten Schriftsatz im Rahmen des üblichen Geschäftsgangs an das zuständige Gericht weiterzuleiten (vgl. zum Ganzen Senat, Beschluss vom 24. Juni 2010 - V ZB 170/09, WuM 2010, 592 Rn. 7 f. mit zahlreichen Nachweisen).

12

bb)

Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Das angefochtene Urteil war der Rechtsmittelschrift nicht beifügt. Diese enthielt den Zusatz "wegen Wohnungseigentumsrecht". Anders als bei der Einreichung einer Berufungsschrift bei einem örtlich offensichtlich unzuständigen Gericht (dazu BGH, Beschluss vom 20. April 2011 - VII ZB 78/09, NJW 2011, 2053 Rn. 11 ff.) war die Unzuständigkeit zu diesem Zeitpunkt nicht ersichtlich. Nach Eingang der Akten wäre die irrtümliche Annahme der Zuständigkeit zwar bei einer genaueren Prüfung durch den Berichterstatter erkennbar gewesen. Nachdem aber sowohl das Rubrum des angefochtenen Urteils als auch die Rechtsmittelschrift auf eine Wohnungseigentumssache hinwiesen und der Berichterstatter keine Veranlassung hatte, sich vor Eingang der Rechtsmittelbegründung in die Sache einzulesen, war die Unzuständigkeit jedenfalls nicht leicht und einwandfrei erkennbar. Andernfalls würde eine richterliche Einarbeitung in einem Verfahrensstadium verlangt, in dem noch nicht sicher ist, ob das Rechtsmittel durchgeführt werden wird und worin die Rechtsmittelangriffe bestehen sollen. Eine Hinweispflicht des unzuständigen Berufungsgerichts setzt voraus, dass das Gericht seine Unzuständigkeit im Rahmen der üblichen Arbeitsabläufe ohne weiteres erkennen kann. Dagegen dürfen den Gerichten nicht zusätzliche Prüfungspflichten auferlegt werden, die für den eigenen Arbeitsablauf nicht erforderlich sind.

13

c)

Dass § 72 Abs. 2 GVG in Verbindung mit den jeweiligen Landesgesetzen mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit vereinbar ist, hat der Senat bereits entschieden (Beschluss vom 10. Dezember 2009 - V ZB 67/09, NJW 2010, 1818 Rn. 9).

III.

14

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Krüger
Stresemann
Roth
Brückner
Weinland

VorschriftenZPO §§ 85 Abs. 2, 233 D, Ga, GVG § 72 Abs. 2

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