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16.07.2019 · IWW-Abrufnummer 209946

Finanzgericht Münster: Urteil vom 22.05.2019 – 7 K 1014/16 E

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Tenor:

Der Einkommensteuerbescheid für 2012 vom 12.5.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8.3.2016 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 25.9.2017 wird nach Maßgabe der Urteilsgründe geändert.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger zu 47 % und der Beklagte zu 53 %.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Die Revision wird zugelassen.
 
1

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten darüber, ob der Gewinn aus der Veräußerung einer Lebensversicherung steuerpflichtig ist.


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Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2012 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Am 1.7.2002 schloss der Kläger eine Rentenversicherung mit Kapitalwahlrecht (LV 1) bei der X Lebensversicherung AG ab. Hierfür leistete er am 9.8.2002 eine Einzahlung in Höhe von 443.000 €. Mit Vertrag vom 16.12.2011 veräußerte der Kläger die Ansprüche aus der Versicherung an F. London. Den Kaufpreis in Höhe von 595.300 € überwies die Käuferin am 5.4.2012 an den Kläger.

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Nachdem die Versicherungsgesellschaft dem Beklagten eine Mitteilung über die Veräußerung gemacht hatte, erfasste dieser zunächst einen Veräußerungsgewinn im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung der Kläger für 2011. Dem hiergegen eingelegten Einspruch, mit dem die Kläger den Zufluss erst im Folgejahr geltend machten, half der Beklagte ab.

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Auf den 31.12.2011 stellte der Beklagte einen verbleibenden Verlustvortrag aus privaten Veräußerungsgeschäften in der bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Fassung für den Kläger in Höhe von 57.681 € fest.

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Der Beklagte setzte im Einkommensteuerbescheid für 2012 einen Veräußerungsgewinn in Höhe von 152.300 € (Differenz zwischen Veräußerungspreis und Einmalzahlung) als Einkünfte aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 2 Nr. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) an.

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Zur Begründung ihres hiergegen eingelegten Einspruchs trugen die Kläger vor, dass die Veräußerung steuerfrei sei, da der Vertrag vor 2005 abgeschlossen wurde. Der steuerfreie Veräußerungsgewinn betrage zudem lediglich 108.053,15 €, da sich die Anschaffungskosten auf 487.246,85 € beliefen. Neben der Einmalzahlung habe der Kläger auch Zinsen, die in den Jahren 2003 bis 2006 versteuert worden seien, in den Vertrag eingezahlt. Hierzu reichten die Kläger Nachweise ein, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Hilfsweise beantragten die Kläger die Verrechnung des Veräußerungsgewinns mit Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften gemäß § 23 EStG in der bis zum 31.12.2008 geltenden Fassung in Höhe von 57.681 €.

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Im Rahmen der Einspruchsentscheidung änderte der Beklagte die Steuerfestsetzung dahingehend, dass der Veräußerungsgewinn unter Berücksichtigung der zusätzlichen Anschaffungskosten nur noch in Höhe von 108.053,15 € angesetzt wurde. Dieser sei allerdings im Zuflussjahr des Veräußerungspreises steuerpflichtig. Zwar handele es sich grundsätzlich um einen steuerfreien Altvertrag. Ausnahmsweise bestehe jedoch eine Steuerpflicht, weil eine Veräußerung vor Ablauf der Mindesthaltefrist von zwölf Jahren erfolgt sei. Gemäß § 52a Abs. 10 Satz 5, 2. HS EStG in der für das Streitjahr 2012 geltenden Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14, 2. HS EStG) werde die Veräußerung einem Rückkauf im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG für Altverträge gleichgestellt, wenn ein Rückkauf nach der alten Regelung steuerpflichtig gewesen wäre. Eine Verrechnung mit Altverlusten nach § 23 EStG komme nicht in Betracht, da es sich nicht um einen Veräußerungsgewinn nach § 20 Abs. 2, sondern um Einkünfte nach § 20 Abs. 1 EStG handele.

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Hiergegen haben die Kläger fristgerecht Klage erhoben. Sie sind der Ansicht, dass die vom Beklagten angeführten gesetzlichen Regelungen eine unzulässige Rückwirkung darstellten, da eine Veräußerung von Versicherungsansprüchen bis einschließlich 2008 nicht steuerpflichtig gewesen sei. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verlängerung der Spekulationsfrist sei der Veräußerungsgewinn nach Zeitablauf (insgesamt 114 Monate) in einen steuerfreien (78 Monate) und einen steuerpflichtigen Teil (36 Monate) aufzuteilen. Danach verbleibe ein steuerpflichtiger Veräußerungsgewinn in Höhe von 34.122 €, der vollständig mit Altverlusten aus § 23 EStG zu verrechnen sei.

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Während des Klageverfahrens erließ der Beklagte einen aus nicht streitigen Gründen geänderten Einkommensteuerbescheid für 2012. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen blieben unverändert.

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Die Kläger beantragen,

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den Einkommensteuerbescheid für 2012 vom 12.5.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8.3.2016, zuletzt geändert durch Bescheid vom 25.9.2017, abzuändern und die Einkommensteuer um 26.096 € zu mindern und nunmehr auf 25.822 € neu festzusetzen;

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hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens die Revision zuzulassen.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen;

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hilfsweise, für den Fall des Unterliegens oder Teilunterliegens die Revision zuzulassen.

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Er stimmt nunmehr grundsätzlich einer Verrechnung des Veräußerungsgewinns mit den Altverlusten nach § 23 EStG zu. Allerdings ist er der Auffassung, dass keine unzulässige Rückwirkung vorliege, da bei den Betroffenen noch kein schutzwürdiges Vertrauen bestanden habe. Dem Kläger sei zum Zeitpunkt des Verkaufs die Rechtsfolge des am 14.8.2007 verkündeten Gesetzes bereits bekannt gewesen. Die Notwendigkeit einer Aufteilung in einen steuerfreien und einen steuerpflichtigen Teil bestehe daher nicht.

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Das Klageverfahren ruhte im Hinblick auf das beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängige Revisionsverfahren VIII R 39/15, in dem die Frage der Rückwirkung der Einführung der Steuerpflicht aus Veräußerungsgewinnen bei Kapitallebensversicherungen streitig war. Nachdem der BFH in diesem Verfahren mit Urteil vom 20.11.2018 entschieden hatte, ohne zu der streitigen Frage Stellung zu nehmen, wurde das Verfahren fortgesetzt.

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Vor dem Senat hat am 22.5.2019 eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Auf das Sitzungsprotokoll wird Bezug genommen.

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Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist teilweise begründet.

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Der Einkommensteuerbescheid für 2012 vom 12.5.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.2.2016 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung, FGO), soweit der Beklagte keine Verrechnung des Gewinns aus der Veräußerung der Rentenversicherung mit den auf den 31.12.2011 festgestellten Verlustvorträgen aus vor dem 1.1.2009 entstandenen privaten Veräußerungsgeschäften vorgenommen hat. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig.

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I. Aus der Veräußerung der Rentenversicherung hat der Kläger im Streitjahr 2012 steuerpflichtige Einkünfte nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 Satz 1 EStG in Höhe von 108.053,15 € erzielt. Nach dieser Vorschrift gehört zu den Einkünften aus Kapitalvermögen auch der Gewinn aus der Veräußerung von Ansprüchen auf eine Versicherungsleistung im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG. Gemäß § 52a Abs. 10 Satz 5 EStG in der für das Streitjahr 2012 gültigen Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14 EStG) gilt § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 EStG für die Veräußerung von Ansprüchen nach dem 31.12.2008, bei denen der Versicherungsvertrag nach dem 31.12.2004 abgeschlossen wurde, sowie für Versicherungsverträge, die vor dem 1.1.2005 abgeschlossen wurden, sofern bei einem Rückkauf zum Veräußerungszeitpunkt die Erträge nach § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG in der am 31.12.2004 geltenden Fassung (EStG a.F.) steuerpflichtig wären.

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Der Kläger hat seine Versicherungsansprüche im Jahr 2011 und damit nach dem maßgeblichen Stichtag (31.12.2008) veräußert. Hierfür ist ihm im Streitjahr 2012 ein Veräußerungserlös zugeflossen (§ 11 Abs. 1 EStG).

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Bei einem Rückkauf durch die Versicherungsgesellschaft wären die Erträge zu diesem Zeitpunkt nach § 20 Abs. 1 Nr. 6 EStG Satz 1 a.F. steuerpflichtig gewesen. Nach dieser Vorschrift gehören Zinsen aus den Sparanteilen, die in den Beiträgen zu Versicherungen auf den Erlebens- oder Todesfall enthalten sind, zu den Einkünften aus Kapitalvermögen. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift ausnahmsweise nicht für Zinsen aus Versicherungen im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG a.F., die mit Beiträgen verrechnet oder im Versicherungsfall oder im Fall des Rückkaufs des Vertrags nach Ablauf von zwölf Jahren seit dem Vertragsabschluss ausgezahlt werden. Diese Ausnahme ist im Streitfall nicht erfüllt, da die im Jahr 2002 abgeschlossene Versicherung vor Ablauf von zwölf Jahren veräußert wurde.

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II. Der Gewinn aus der Veräußerung der Versicherungsansprüche beträgt unstreitig 108.053,15 € (Veräußerungserlös 595.300 € abzüglich Anschaffungskosten 487.246,85 €).

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Dieser Gewinn unterliegt in vollem Umfang der Besteuerung. Eine Kürzung um den Anteil, der bis zum 31.12.2008 entstanden ist, kommt nicht in Betracht. Eine solche Kürzung ergibt sich weder aus dem Gesetz noch ist sie verfassungsrechtlich geboten. Die Regelung in § 52a Abs. 10 Satz 5 EStG in der für das Streitjahr 2012 gültigen Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14 EStG), mit der die Steuerpflicht von Veräußerungserlösen aus vor Ablauf von zwölf Jahren veräußerten Lebensversicherungen angeordnet wird, wenn die Veräußerung nach dem 31.12.2008 stattfindet, verstößt nach Ansicht des Senats nicht gegen Verfassungsrecht, insbesondere nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes, GG) herzuleitende Rückwirkungsverbot.

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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (z.B. BVerfG-Beschlüsse vom 7.7.2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1 und 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61, jeweils m.w.N.) bedarf es vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt" worden sind, einer besonderen Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert.

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Eine Rechtsnorm entfaltet „echte Rückwirkung“, wenn ihre Rechtsfolge mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll. Das ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Bis zum Zeitpunkt der Gesetzesverkündung, zumindest aber bis zum endgültigen Gesetzesbeschluss, muss der von einem Gesetz Betroffene grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird. Im Bereich des Steuerrechts liegt eine echte Rückwirkung nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Dies ist vorliegend nicht der Fall.

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Soweit belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden, liegt eine sog. „unechte Rückwirkung“ vor. Diese ist nicht grundsätzlich unzulässig, denn die Gewährung vollständigen Schutzes zu Gunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage würde den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der Rechtsordnung lösen. Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht insbesondere nicht so weit, den Staatsbürger vor jeder Enttäuschung zu bewahren. Soweit nicht besondere Momente der Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde zukünftig unverändert fortbestehen, keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der Rechtslage sind abzuwägen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein. Eine unechte Rückwirkung ist mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt.

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Das Bundesverfassungsgericht hat unter Berücksichtigung dieser Grundsätze die Verlängerung der Spekulationsfrist in § 23 EStG für private Grundstücke von zwei auf zehn Jahre BVerfG-Beschluss vom 7.7.2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1) sowie die Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze von 25% auf 10% bei der Besteuerung privater Anteile an Kapitalgesellschaften im Sinne von § 17 EStG (BVerfG-Beschluss vom 7.7.2010 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61) als verfassungsrechtlich unzulässige unechte Rückwirkungen angesehen. Die Gesetzesänderungen führten in diesen Fällen dazu, dass Wertsteigerungen steuerlich erfasst wurden, die bei einer Veräußerung bis zur Verkündung des Gesetzes nach der früheren Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können. Damit entwertete der Gesetzgeber insoweit nachträglich eine konkret verfestigte Vermögensposition, woraus sich ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf ergibt. In Betracht kommende Rechtfertigungsgründe, etwa einen Finanzierungsbedarf möglicherweise begleitende ordnungspolitische Sachziele oder die Notwendigkeit rascher Korrektur offensichtlicher Fehlsubventionierungen, die durch Ankündigungs- oder Mitnahmeeffekte gefährdet wäre, sah das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen nicht als gegeben an.

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Im Fall der Erweiterung der Steuerpflicht von Zinsen auf Kapitallebensversicherungen, die vor dem 1.1.2005 abgeschlossen wurden, auf Veräußerungstatbestände, die vor Ablauf von zwölf Jahren erfolgen, liegt keine echte Rückwirkung vor, da die von der Gesetzesänderung erfassten Veräußerungstatbestände erst für zukünftige Veranlagungszeiträume (ab 2009) einer Besteuerung unterworfen werden. Es liegt allerdings eine unechte Rückwirkung vor. Dies folgt daraus, dass die betroffenen Versicherungsverträge bereits abgeschlossen waren und nach bisheriger Rechtslage Erträge aus der Veräußerung nicht besteuert wurden, sondern lediglich der Zufluss von Zinsen.

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Diese unechte Rückwirkung ist jedoch zulässig, weil der Gesetzgeber insoweit nicht in konkret verfestigte Vermögenspositionen eingegriffen hat. Im Unterschied zur Verlängerung der Spekulationsfrist für private Grundstücke bzw. der Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze für Kapitalbeteiligungen konnte der Lebensversicherungsnehmer vor Ablauf der Mindesthaltefrist von zwölf Jahren nicht darauf vertrauen, Erträge aus der Versicherung steuerfrei vereinnahmen zu können. Die Möglichkeit, dieser Steuerpflicht zu entgehen, bestand für ihn nach alter Rechtslage allein darin, seine Ansprüche aus der Lebensversicherung entgeltlich an einen Dritten abzutreten. Anders als der Erwerber eines Grundstücks hätte ein solcher Erwerber vor Ablauf der Mindesthaltefrist die „Belastung“ der Erträge aus der Versicherung mitübernommen und daher erst nach Ablauf der zwölf Jahre die Versicherungsansprüche steuerfrei realisieren können.

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Hinzu kommt im Streitfall, dass der Gesetzgeber den Betroffenen - anders als in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen zur Verlängerung der Spekulationsfrist in § 23 EStG und zur Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze bei § 17 EStG - durch eine ausreichend lange Übergangsfrist die Möglichkeit eingeräumt hat, entsprechende Maßnahmen zu treffen, um der Besteuerung zu entgehen. Das Unternehmenssteuerreformgesetz 2008, mit dem § 52a Abs. 10 Satz 5 2. Halbsatz EStG (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14 2. HS EStG) eingeführt wurde, wurde bereits am 17.8.2007 im Bundessteuerblatt verkündet. Die Vorschrift erfasst allerdings nur Veräußerungstatbestände, die nach dem 31.12.2008 verwirklicht werden. Es stand damit ein Zeitfenster von mehr als 15 Monaten zur Verfügung, in dem die betroffenen Steuerpflichtigen - auch der Kläger im Streitfall - reagieren konnten, indem sie Veräußerungsmaßnahmen ergreifen. Damit hat der Gesetzgeber dem schutzwürdigen Vertrauen der Betroffenen in ausreichender Weise Rechnung getragen. Dies war in den BVerfG-Beschlüssen vom 7.7.2010 (2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1 und 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61) nicht der Fall, da das am 31.3.1999 verkündete StEntlG 1999/2000/2002 bereits Veräußerungen ab dem 1.1.1999 erfasste, so dass den betroffenen Steuerpflichtigen keine Gestaltungsspielräume mehr verblieben.

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III. Entgegen der vom Beklagten noch im Rahmen der Einspruchsentscheidung vertretenen Auffassung ist allerdings eine Verrechnung des Veräußerungsgewinns mit den gesondert festgestellten Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften, die der Kläger vor dem 1.1.2009 erlitten hatte, vorzunehmen.

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Gemäß § 20 Abs. 6 Satz 1 i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 9 EStG in der für das Streitjahr 2012 geltenden Fassung können bis zum 31.12.2008 entstandene Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften auch mit Einkünften aus Kapitalvermögen im Sinne von § 20 Abs. 2 in der Fassung des Gesetzes vom 14.8.2007 ausgeglichen werden. Diese Verrechnung haben die Kläger ausdrücklich beantragt und ist zwischen den Beteiligten inzwischen auch nicht mehr streitig.

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Der Veräußerungsgewinn von 108.053,15 € mindert sich danach um 57.681,- € auf 50.372,15 €.

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IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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V. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 FGO zugelassen. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von § 52a Abs. 10 Satz 5, 2. HS EStG in der für das Streitjahr 2012 geltenden Fassung (nunmehr § 52 Abs. 28 Satz 14, 2. HS EStG) liegt - soweit ersichtlich - noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung vor.