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  • 06.05.2010 · IWW-Abrufnummer 101326

    Landgericht Saarbrücken: Urteil vom 09.04.2010 – 13 S 219/09

    Zur Haftung eines Kraftfahrers, der sich nach einem Zusammenstoß mit einem Reh von der Unfallstelle entfernt in der irrigen Annahme, das Reh sei neben der Straße verendet.


    LG Saarbrücken

    Urteil vom 9.4.2010

    13 S 219/09

    Tenor
    1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Amtsgerichts St. Wendel vom 1.9. 2009 (4 C 1058/08) wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
    2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
    3. Die Revision wird nicht zugelassen.
    Gründe
    I.
    Die Kläger macht gegen die Beklagten Ersatzansprüche aus einem Unfallgeschehen geltend, das sich am ... auf der ... zwischen ... und ... bei Dunkelheit ereignet hat. Nachdem die Erstbeklagte kurz nach 7.00 Uhr mit dem Fahrzeug der Zweitbeklagten (...), das bei der Drittbeklagten haftpflichtversichert ist, vor der Abzweigung nach ... mit einem auf der Fahrbahn befindlichen Reh kollidiert war, setzte sie ihre Fahrt fort, ohne sich zu vergewissern, ob das Reh bereits verendet war. Kurze Zeit später kollidierte zunächst der Zeuge ... mit seinem Fahrzeug mit dem auf der Fahrbahn in einer lang gezogenen Linkskurve liegenden Tier, der anschließend anhielt und seine Warnblinkanlage einschaltete. Kurz darauf kollidierte der Zeuge ..., der mit dem Fahrzeug der Klägerin in Fahrtrichtung ... unterwegs war, ebenfalls mit dem auf der Straße liegenden Reh, wobei das Fahrzeug der Klägerin beschädigt wurde. Die Klägerin hat ihren Schaden mit 2.572,47 EUR beziffert und diesen nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten eingeklagt.
    Das Erstgericht hat die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte beigezogen und der Klage in hälftiger Höhe stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein Verschulden der Erstbeklagten sei nicht nachweisbar, weil diese unwiderlegt vorgetragen habe, das angefahrene Reh habe nach der Kollision neben der Fahrbahn gelegen und habe sich offenbar erst danach auf die Fahrbahn geschleppt. Da ein Verschulden des Fahrers des Klägerfahrzeuges ebenfalls nicht nachweisbar sei, hafteten beide in Höhe der anteiligen Betriebsgefahr je zur Hälfte.
    Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin den abgewiesenen Zahlungsanspruch nebst vorgerichtlichen Anwaltskosten weiter. Sie meint, das Erstgericht hätte zu Unrecht ein Verschulden der Erstbeklagten verneint. Die Beklagten verteidigen das angegriffene Urteil.
    Die Kammer hat die Zeugen ... und ... vernommen. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 19.3.2010 Bezug genommen.
    II.
    Die zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Berufung ist nach Durchführung der zweitinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme nicht begründet. Die angegriffene Entscheidung ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
    1. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass das auf den Betrieb zweier Kraftfahrzeuge zurückgehende, streitgegenständliche Unfallereignis nicht auf höherer Gewalt i.S.d. § 7 Abs. 2 StVG beruht und für keine der Unfallbeteiligten ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt, so dass sowohl die Klägerin gem. § 7 StVG als auch die Beklagten gem. § 7 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG grundsätzlich für die Unfallfolgen einzustehen haben. Dies ist zutreffend und wird auch in der Berufung nicht ernstlich angegriffen. Soweit die Berufung meint, der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges, der Zeuge ..., habe die Kollision mit dem auf der Fahrbahn befindlichen, verendeten Wild nicht verschuldet, besagt dies gerade nicht, dass ein Idealfahrer bei Einhaltung auch der äußersten möglichen Sorgfalt das Unfallereignis nicht abgewendet haben könnte. Ein unabwendbares Ereignis setzt nämlich voraus, dass das Unfallereignis auch bei einem sachgemäßen, geistesgegenwärtigen Handeln erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt im Sinne von § 276 BGB hinaus nicht vermeidbar war (vgl. zu § 7 Abs. 2 StVG a.F.: BGHZ 117, 337; BGHZ 113, 164, 165), so dass der Schädiger nur von solchen Schäden freizustellen ist, die sich auch bei vorsichtigem Vorgehen nicht vermeiden lassen (vgl. BGHZ 105, 65, 69). Hierfür ist indes nichts vorgetragen und auch nichts ersichtlich.
    2. Im Rahmen der gem. § 17 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 StVG vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Verursachungsanteile hat das Erstgericht auf Beklagtenseite ein Verschulden verneint. Hiergegen wendet sich die Berufung mit Recht.
    a) Allerdings ist das Erstgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Frage, ob der Rehbock nach der Kollision mit dem Beklagtenfahrzeug auf oder – wie von Beklagtenseite angegeben – neben der Fahrbahn lag, nicht mehr aufklärbar ist. Entgegen der Berufung liegt es mit dem Erstgericht nicht außerhalb jeglicher Wahrscheinlichkeit, dass sich das angefahrene Tier erst nach Verlassen der Unfallstelle wieder auf die Fahrbahn geschleppt hatte, zumal sich auch der Ermittlungsakte nicht entnehmen lässt, ob der Rehbock bereits unmittelbar nach der Kollision oder erst zu einem späteren Zeitpunkt verendet war. Damit scheidet ein nachweisbarer Verstoß der Erstbeklagten gegen das in § 32 StVO enthaltende Verbot des Liegenlassens verkehrsgefährdender Gegenstände auf der Straße aus. Zwar fällt auch angefahrenes Wild unter die hiermit umschriebenen Gegenstände (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl., § 32 Rdn. 6/7 m.w.N.). Jedoch setzt dies voraus, dass das Wild tatsächlich auf der Straße liegen geblieben ist und ein Hindernis gebildet hat; die bloße Gefahr, dass ein Gegenstand auf die Straße geraten kann, reicht insofern nicht aus (vgl. Hentschel aaO Rdn. 8). Kann aber der Erstbeklagten nicht nachgewiesen werden, dass sie das angefahrene Wild auf der Fahrbahn hat liegen lassen, kommt ein Verstoß gegen § 32 StVO nicht in Betracht.
    b) Gleichwohl war die Erstbeklagte verpflichtet, den Unfallort zu sichern. Dabei kann dahinstehen, ob sich eine entsprechende Verpflichtung aus § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO ergibt. Auch wenn die Norm einerseits – im Anschluss an § 142 StGB – dem Aufklärungsinteresse der Unfallbeteiligten, andererseits aber auch dem Interesse der Allgemeinheit an der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dient, insbesondere der Vermeidung weiterer Unfälle (vgl. OLG Zweibrücken, NZV 2001, 387 m.w.N.), soll die Verkehrssicherungsverpflichtung aus § 34 StVO nach h.M. an das Vorliegen eines Verkehrsunfalls i.S.d. § 142 StGB, mithin an das Vorliegen eines nicht belanglosen Fremdschadens geknüpft werden, was bei dem Anfahren von – wie hier – herrenlosem Wild regelmäßig verneint wird (vgl. Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht, 20. Aufl., § 142 StGB, Rdn. 5; Hentschel aaO § 34 StVO Rdn. 2; § 142 StGB Rdn. 22, jew. m.w.N.; a.A. AG Öhringen NJW 1976, 580). Aus dem Schutzzweck, den Verkehr soweit möglich zu sichern, ließe sich hingegen auch ableiten, dass jedenfalls die Sicherungspflicht des § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO auf alle Unfälle, also auch solche, die keinen Fremdschaden i.S.d. § 142 StGB darstellen, anzuwenden ist, soweit hieraus eine Gefährdung für den Verkehr entspringt. Letztlich kann die Frage hier offen bleiben, denn jedenfalls ergibt sich eine solche Sicherungspflicht vorliegend aus der Vorschrift des § 1 Abs. 2 StVO, wonach sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, dass kein Anderer geschädigt oder gefährdet wird. Hier war die Erstbeklagte gehalten, sich vor einem Entfernen von dem Unfallort zu vergewissern, dass das – nach ihrer Darstellung – am Straßenrand liegende Wild tatsächlich keine Gefahr für den nachfolgenden Verkehr darstellte. Denn die Möglichkeit, dass sich das angefahrene Wild, solange es nicht verendet ist, auf die Straße schleppt und hier ein Hindernis für die nachfolgenden Kraftfahrer bildet, ist offensichtlich. Zugleich konnte die Erstbeklagte ohne Mühe anhalten und sich vergewissern, ob das erkennbar an der Unfallstelle liegende Tier verendet war. Zumindest aber hätte sie die Unfallstelle durch Aufstellen eines Warnhinweises sichern müssen, um eine Gefährdung des Verkehrs auszuschließen.
    3. Im Ergebnis führt dies indes nicht zu einer anderen Beurteilung der erstinstanzlich ausgeurteilten Haftungsquote. Denn auch den Fahrer des Klägerfahrzeuges trifft vorliegend ein Verschulden, denn er hat gegen das Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 Satz 3 StVO verstoßen.
    a) Nach dieser Vorschrift darf der Fahrzeugführer grundsätzlich nur so schnell fahren, dass er innerhalb der übersehbaren Strecke anhalten kann. Bei Vorliegen besonderer Umstände (z.B. örtliche Straßenverhältnisse, unübersichtliche Kurven u.a., vgl. die Nachweise bei Hentschel aaO § 3 StVO Rdn. 17 f.) und insbesondere bei außergewöhnlichen Verkehrssituationen ist er sogar gehalten, langsamer als auf Sicht zu fahren, insbesondere wenn eine unklare Verkehrslage vorliegt und der Fahrer die vor ihm liegende Entwicklung des Verkehrs nicht sicher beurteilen kann. So ist vor allem bei Anzeichen eines Unfallgeschehens eine deutliche situationsadäquate Verlangsamung angezeigt, damit der Fahrer notfalls sofort anhalten kann (vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2000 - VI ZR 268/99, VersR 2000, 1556; Urt. v. 5.5.1992 - VI ZR 262/91, VersR 1992, 890; Urt. v. 23.6.1987 - VI ZR 188/86; Saarl. OLG MDR 2006, 89; Hentschel aaO § 3 StVO Rdnr. 29, jew. m.w.N.).
    b) Der Kraftfahrer hat überdies auch bei Dunkelheit seine Geschwindigkeit auf unbeleuchtete Hindernisse einzurichten. Fährt er daher – wie hier der Fahrer des klägerischen Fahrzeuges, der Zeuge ... – auf ein solches Hindernis auf, erlaubt dies grundsätzlich eine alternative Schuldfeststellung dahin, dass entweder der Bremsweg des Auffahrenden länger als die Sichtweite oder seine Reaktion auf die rechtzeitig erkennbare Gefahr unzureichend gewesen sein muss (vgl. BGH Urteil vom 17. November 1964 - VI ZR 188/63 = VersR 1965, 88, Urteil vom 23.06.1987 - VI ZR 188/86 = DAR 1987, 325).
    c) Ein solcher Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden wird allerdings entkräftet und kann nicht zugrunde gelegt werden, wenn die Erkennbarkeit des Hindernisses in atypischer Weise besonders erschwert ist. Der Kraftfahrer muss seine Geschwindigkeit nämlich nicht auf solche Hindernisse einrichten, die gemessen an den jeweiligen Sichtbedingungen erst außergewöhnlich spät erkennbar werden, etwa weil die Erkennbarkeit durch einen fehlenden Kontrast und/oder eine besondere Lichtabsorption atypisch eingeschränkt ist (vgl. BGH Urteil vom 15. Mai 1984 - VI ZR 161/82 = VersR 1984, 741 unter II 2 a m.w.N.). Ist also ein Gegenstand auch bei pflichtgemäßer Aufmerksamkeit des Kraftfahrers erst auf eine kürzere Entfernung als die Reichweite seines Abblendlichtes wahrnehmbar, so scheidet ein Verstoß gegen das Sichtfahrgebot regelmäßig aus (vgl. Bayr. ObLG, VRS 59, 215 m.w.N.).
    d) Dass das auf der Fahrbahn liegende Reh ein solch außergewöhnlich schwer erkennbares Hindernis darstellte, kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme indes nicht zugrunde gelegt werden. Die Klägerin hat selbst nicht ausdrücklich behauptet, dass der Tierkadaver für sich außergewöhnlich schwer erkennbar gewesen sei. Hierfür spricht auch, dass die beiden Zeugen – insoweit übereinstimmend und glaubhaft – geschildert hatten, das Reh sei ca. 2 Meter groß gewesen und zudem von nicht unbeträchtlicher Höhe, nach Aussage des Zeugen ... sogar mindestens ½ Meter hoch. Weil es im Übrigen quer auf der Fahrbahn lag, kann jedenfalls ohne weitere Anknüpfungspunkte nicht von einer außergewöhnlich schweren Erkennbarkeit des Hindernisses ausgegangen werden. Da für eine sachverständige Untersuchung im Übrigen jegliche feststehende Anknüpfungstatsachen fehlen – weder der genaue Kollisionsort, die jeweiligen Entfernungen noch die gefahrene Geschwindigkeit können mit Sicherheit vorgegeben werden, im Übrigen kann auch das Reh nicht mehr in Augenschein genommen werden –, kann eine besonders schwere Erkennbarkeit des auf der Straße liegenden Rehs nicht angenommen werden.
    e) Soweit sich die Klägerin darauf stützt, dass das Reh infolge der langgezogenen Linkskurve nicht rechtzeitig bemerkt werden konnte, vermag dies den Zeugen ... nicht zu entlasten. Denn unterstellt, die Kurve habe zu einer eingeschränkten Sicht des Zeugen ... geführt, aufgrund derer die rechtzeitige Erkennbarkeit eines Hindernisses auf der Straße beeinträchtigt war, wäre er – wie oben bereits dargelegt – verpflichtet gewesen, wegen der eingeschränkten Sicht langsamer als auf Sicht zu fahren, um Gefahren – wie auf der Fahrbahn befindliche Hindernisse – rechtzeitig erkennen und darauf reagieren zu können.
    f) Weil er damit bereits in der Annäherung an das auf der Fahrbahn liegende Hindernis nicht mit der gebotenen Geschwindigkeit fuhr, kann die Frage, ob der Zeuge ... daneben im Zeitpunkt der Erkennbarkeit der in Betrieb befindlichen Warnblinkanlage des zuvor verunfallten Fahrzeugs des Zeugen ... die gebotene höchste Sorgfalt eingehalten hatte und gleichwohl das Überfahren des Rehs nicht mehr vermeiden konnte, dahin stehen.
    4. Mit Blick darauf, dass damit beide Unfallbeteiligten verschuldet zu dem Unfallgeschehen beigetragen haben, ist die Annahme des Erstgerichts, die Einstandspflicht für die Unfallfolgen jeweils hälftig zu teilen, nicht zu beanstanden.
    III.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).